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Karl-Heinz Braun, Uta Schlegel: Walter Friedrich und die Jugendforschung in der DDR

Rezensiert von Prof. Dr. Hartmut M. Griese, 17.10.2014

Cover Karl-Heinz Braun, Uta Schlegel: Walter Friedrich und die Jugendforschung in der DDR ISBN 978-3-8340-1349-1

Karl-Heinz Braun, Uta Schlegel: Walter Friedrich und die Jugendforschung in der DDR. Autobiografische und wissenschaftsgeschichtliche Dialoge. Schneider Verlag Hohengehren (Baltmannsweiler) 2014. 224 Seiten. ISBN 978-3-8340-1349-1. D: 24,00 EUR, A: 24,70 EUR, CH: 34,50 sFr.

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Thema

Der Titel, „Walter Friedrich und die Jugendforschung in der DDR“ sind vermutlich für die meisten (vor allem jüngeren) LeserInnen dieser Rezension „böhmische Dörfer“, d.h. unbekannte Phänomene, mit denen man keine konkreten Assoziationen verbindet. Andererseits kann ohne Einschränkungen konstatiert werden, dass – zumindest für Kenner dieses Themas – Walter Friedrich der wohl profilierteste und in Kreisen der internationalen Jugendforschung bekannteste Vertreter dieser Wissenschaftsdisziplin im gesamten ehemaligen „Ostblock“ war und dass die „Jugendforschung in der DDR“, die überwiegend bis fast ausschließlich am Zentral-Institut für Jugendforschung (ZIJ) in Leipzig getätigt wurde, untrennbar mit dem Namen dessen ersten und einzigen Direktors Walter Friedrich verbunden ist.

Da ich selbst Walter Friedrich vor der sog. „Wende“ im Frühjahr 1989 näher kennen gelernt und mit ihm bereits kurze Zeit später den Reader „Jugend und Jugendforschung in der DDR“ herausgegeben habe (Friedrich/ Griese 1991) und vom „Deutschland-Archiv“ seinerzeit auch gebeten wurde, zu seinem 80. Geburtstag eine Art „Laudatio“ zu verfassen (Griese 2009), bin ich und kann ich nicht ganz objektiv sein – ich werde aber versuchen, als Quasi-Insider (vgl. auch exemplarisch Griese 1997) sowie von meinem Selbstverständnis her als kritischer Soziologe die Position eines „kritisch-distanzierten Sympathisanten“ (reflexives Engagement) einzunehmen.

Autor und Autorin

Karl-Heinz Braun, Dr. phil. habil., ist Professor für „Sozialpädagogik/ Erziehungswissenschaft am Fachbereich Sozial- und Gesundheitswesen der Hochschule Magdeburg-Stendal“ (Umschlagseite) und ist vor allem als Vertreter der „Kritischen Psychologie“ im Umkreis von Klaus Holzkamp bekannt geworden (vgl. exemplarisch Braun/ Holzkamp 1977, Braun 1979). Später befasste er sich überwiegend mit Fragen der Schul- und Bildungsforschung, einer kritischen Erziehungswissenschaft sowie der Theorie und Praxis der Kinder- und Jugendarbeit (ebd.).

Uta Schlegel, Dr. phil. habil., war Abteilungsleiterin am ZIJ und nach der Abwicklung ab 1991 am Deutschen Jugendinstituts München/ Außenstelle Leipzig tätig. Es folgten wissenschaftlich-administrative Arbeiten bei der KSPW (Kommission für die Erforschung des sozialen und politischen Wandels in den neuen Bundesländern“ 1992-1996) sowie Forschungen und Publikationen in der Frauen- und Geschlechtersoziologie. Seit 2001 ist sie Projektleiterin an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.

Entstehungshintergrund

Karl-Heinz Braun ist einer der wenigen Sozial- und Erziehungswissenschaftler der BRD, die mit Walter Friedrich und dem ZIJ bereits etliche Jahre vor der „Wende“ und der anschließenden „Abwicklung“ des Instituts Kontakt hatten. Von daher liegt es nahe, dass der Wunsch entstand, nach einer gewissen zeitlichen Distanz von gut 20 Jahren mit diesem Buch, das fast ausschließlich aus dialogischen Interviewsequenzen zwischen Braun und Friedrich besteht, „einen Beitrag zur Wissenschaftsgeschichte zu leisten und andererseits einen informativen wie ‚plastischen‘ zur Geschichte des Aufwachsens in der ehemaligen DDR“ (Vorwort, S. X). Die „immense Dokumentations- und Redaktionsarbeit“ zu diesem Buch „lag in den Händen von Uta Schlegel (die auch im ZIJ u. a. für die Herausgabe aller ‚grauen‘ Literatur und einiger ‚öffentlicher‘ Bücher verantwortlich war)“. Wann und wodurch aktuell angeregt die Idee zu dem Buch entstand und wie es zur erfolgreichen Kooperation zwischen den beiden Herausgebern kam, erfährt man nicht. Da beide aber inzwischen im Rentenalter angekommen sind, haben sicher auch die freien Kapazitäten zur Entstehung des Bandes beigetragen!?

Aufbau

Nach dem Vorwort (Erkenntnisinteresse – vgl. unten) werden die zwischen April 2012 und Juni 2013 durchführten Interviews/ Dialoge zu zwei großen Bereichen systematisiert: Die Gesprächsreihe „Biographie von Walter Friedrich, die Geschichte des ZIJ sowie dessen Abwicklung“ (Kapitel 1, 2, 3 und 5) sowie der inhaltliche Schwerpunkt „konkrete Forschungsergebnisse“ (Kapitel 4), so dass folgender chronologischer Aufbau entstand: 1. „Vom Schusterjungen zum Institutsdirektor – ein DDR-typischer sozialer Aufstieg durch Bildung“, 2. „Die Anfänge des ZIJ beim Ministerrat der DDR in Leipzig“, 3. „Methodologie, Verfahrensweisen und Praxis einer modernen empirischen Jugendforschung“, 4. „Einige theoretische und empirische Beiträge der Jugendforschung“ (S. 87-204) und 5. „Die Abwicklung des ZIJ (1989/90) – ein wissenschaftlicher Skandal“. Ein Literaturverzeichnis, das leider nicht alle Werke von Walter Friedrich und dem ZIJ systematisch-chronologisch auflistet (dagegen allein 20 Publikationen der beiden Herausgeber nennt), rundet den Band ab.

Inhalt

Das Vorwort beginnt mit einem langen Zitat von Jürgen Habermas, der, so die Herausgeber, „mitten im Vereinigungsprozess der beiden deutschen Staaten … eindringlich davor gewarnt hatte, die lebensweltlich verankerten Strukturen der kulturellen Einrichtungen, speziell der Künste und der Wissenschaften, den machtpolitischen und bürokratischen Kalkülen zu unterwerfen und sie damit unwiederbringlich zu zerstören“ (S. IX) – nicht ahnend, so will ich ergänzen, dass es sich hier um ein sozialwissenschaftliches Quasi-Feldexperiment der (Nach-)Wendezeit handelte, womit sein „Kolonialisierungstheorem“ innerhalb seiner „System-Lebenswelt-Theorie“ seine Erklärungs- und Interpretationskraft belegen konnte. Jürgen Habermas betonte z.B.: „Was wir beklagen, ist der rücksichtslose Umgang mit unwägbaren, schonungsbedürftigen moralischen und geistigen Ressourcen“, die auf „eine kulturelle Infrastruktur angewiesen ist, die man heute in den neuen Bundesländern verkommen lässt … Zerfallene kulturelle Milieus lassen sich nicht in gleicher Weise wieder aufbauen. Wenn sie ruiniert sind, sind sie es ein für allemal“ (S. IX). Die Abwicklung des ZIJ war m. E. ein solch ruinöses Vorgehen.

Weiter konstatieren die Herausgeber, dass sich ihre Publikation in dreifacher Hinsicht von den in den 90er Jahren erschienenen Publikationen zum oder über das ZIJ unterscheidet: Sie stellt erstens die „biographische Perspektive ihres Leiters in den Vordergrund„; sie präsentiert die „Gesprächsreihen“ bzw. Inhalte in dialogischer Form und sie kann auch „als Einführung in die (historische) (DDR-, H.G.) Jugendforschung gelesen werden“ (S. XI).

Das Kapitel „Vom Schusterjungen zum Institutsdirektor …“ schildert recht eindrucksvoll die Kindheitserlebnisse und Jugenderfahrungen, die der im Jahre 1929 geborene Walter Friedrich seinerzeit und kriegsbedingt gemacht hat: Aufgewachsen in einem schlesischen Dorf und in einer Handwerkerfamilie, acht Jahre Besuch der „vierstufigen evangelischen Volksschule“, Erinnerungen an den Kriegsdausbruch als 10-Jähriger sowie an den „Zusammenbruch des faschistischen Systems“ mit 15 Jahren, der „Berufswunsch, Lehrer zu werden“, mit Glück und durch Zufall dem Wehrdienst 1944/45 entkommen, die üblichen Wirren gegen Kriegsende und dann „Arbeiten bei der polnischen Verwaltung“ und Tätigkeit als „Schnapsbrenner“. Fazit 1: „So irrte ich etwa zwei Jahre lang völlig uninformiert, verstört, ohne Ahnung von den neuen politischen Horizonten durch die Welt, hatte daher häufig Depressionen und Zukunftsängste“ (S. 9). Danach Tätigkeit als „Junglehrer“ mit 18 Jahren (!), Zweifel an der Religion und Austritt aus der Kirche, Weiterbildungskurse und „Interesse für Psychologie“ mit 20 Jahren, zuletzt sogar Berufung zum „stellvertretenden Direktor der Zentralschule“ usw. Fazit 2: „Noch heute ist das alles für mich kaum begreifbar“ (S. 12).

Es folgte das Studium der Psychologie in Leipzig ab 1952 und dort die Bekanntschaft mit Psychologen, die seine weitere Karriere stark beeinflusst haben: Adolf Kossakowski, Werner Hennig, das Ehepaar Mehlhorn, Hans Löwe, Hans Hiebsch … und der Philosoph Ernst Bloch. 1957 Diplomarbeit „Zur Entwicklung der Selbsteinschätzung bei Kindern und Jugendlichen“ und dann die Dissertation „Zur Strebensthematik im Kindes- und Jugendalter“ (S. 22), die 1962 verteidigt wurde. Danach zwei Jahre Lehrtätigkeit in Dresden bis 1958 und Rückkehr nach Leipzig. Wissenschaftlich prägend war vor allem sein längerer Studienaufenthalt in Moskau und die Bekanntschaft mit Leontjew, Galperin, Ananjew und Lurija (ich nenne hier nur die Namen, von denen ich auch in meiner Hochschullehrertätigkeit Notiz genommen habe).

1963/64 begannen die Arbeiten, zusammen mit Peter Förster, an der „ersten großen Umfrage, die überhaupt unter Jugendlichen in der DDR durchgeführt wurde“ sowie die Vorarbeiten zu einer „internationalen Jugendstudie“ (S. 33).

1966 wurde Walter Friedrich dann erster Direktor des neu gegründeten ZIJ und leitete dieses Forschungsinstitut bis zur Abwicklung Ende 1990.

Die folgenden Kapitel lasse ich aus Platzgründen weg. Mir war nur wichtig, diesen DDR-typischen Werdegang hier nochmal kurz nachzuzeichnen.

Erwähnenswert in Kürze sind die schützende Hand von Egon Krenz, der das ZIJ vor der Schließung und vor den zunehmenden Konflikten mit der SED-Führung oftmals bewahrte; die starke Solidarität und der Gemeinschaftsgeist am Institut (der „ZIJ-Geist“), die durchdachte und bewährte Forschungsorganisation, vor allem bei den ZIJ-typischen Intervallstudien und das personelle Anwachsen des ZIJ auf „50 bis 55 wissenschaftliche und 40 bis 45 (meist teilzeitbeschäftigte) technische Mitarbeiter“ (S. 62). Diese Aspekte betone ich, weil Vergleichbares für die BRD-Jugendforschung nicht denkbar war. Ebenso undenkbar wären auch die ständigen Auflagen und Konflikte mit dem zuständigen Ministerium (Margot Honnecker) oder die „rigiden Geheimhaltungsregeln“ gewesen, das „Handbuchverbot“, das aber durch eine Initiative von Walter Friedrich 1975 quasi unterlaufen wurde und mit „48 000 Exemplaren (! H.G.) beim Moskauer Progress-Verlag“ herauskam und recht „bald vergriffen“ war (S. 80).

Das weitaus umfangreichste Kapitel 4 über „Einige theoretische und empirische Beiträge der Jugendforschung“ (S. 87-204) vernachlässige ich, da das Meiste davon in früheren Publikationen dokumentiert wurde (exemplarisch vgl. Friedrich/ Hennig 1991; Friedrich/ Griese 1991), um noch zum Schlusskapitel „Die Abwicklung des ZIJ (1989/90) – ein wissenschaftspolitischer Skandal“ eingehen zu können, ein Thema, das auch bei Insidern weit weniger bekannt sein dürfte und heute noch nach wissenschaftspolitischer und -historischer Aufarbeitung drängt.

„Mitten in der Umbruchzeit“ 1989 wird Walter Friedrich 60 Jahre alt. Zwei Jahre zuvor „entschloss ich (W. F., H.G.) mich, Egon Krenz in einem Brief um meine Entlassung vom Direktorenposten zu bitten“ (S. 206), da die Verhältnisse unerträglich wurden (Publikationsverbote, „Lageverschlechterung in der DDR sowie am Institut … Krisenstimmung in der Öffentlichkeit“ usw.). In den Dialogen wird noch einmal die bedeutende Rolle von Walter Friedrich in den Herbsttagen 1989 in Leipzig deutlich. In einem Schreiben an Egon Krenz fordert er „den Rücktritt von Honecker … Meines Erachtens sollte Gen. Honecker bald zurücktreten. Ich bin fest davon überzeugt, dass dies nicht 50, sondern etwa 90 % aller Genossen begrüßen würden“ (S. 209) denn: „Alle spürten die Notwendigkeit und Dringlichkeit grundlegender politischer Reformen an Haupt und Gliedern der DDR. Ein Jahr später war die DDR bereits offiziell implodiert und die Hoffnungen auf einen reformierten Sozialismus waren lange schon zerstoben“ (ebd.).

Ende 1990 wird das ZIJ abgewickelt (so die damalige Sprachform für die Schließung). Alle Versuche von Walter Friedrich und seinen Kollegen, das Institut zu retten oder zu modifizieren, waren erfolglos. Auch die Aktionen westdeutscher Jugendforscher zur Rettung des ZIJ fruchteten nicht. Die Volkskammerwahl im März 1990 führte zu klaren Kräfteverschiebungen zuungunsten des ZIJ, das dann zur „Außenstelle Leipzig“ des Deutschen Jugendinstitutes in München wurde, denn aus dem „Einigungsvertrag“ ging hervor, „dass das ZIJ nicht zu den erhaltenswürdigen Institutionen gehörte – solche gab es aus dem sozialwissenschaftlichen Bereich der DDR überhaupt nicht“ (S. 214). Damit zerfiel auch die ehemalige Solidarität, der „ZIJ-Geist“ verschwand und es gab Konflikte und Spannungen unter der Belegschaft.

„In was für ein Chaos war das viel gelobte ZIJ geraten!“. Dies ist der heute resignierende Rückblick von Walter Friedrich auf diese Zeit der Auf-, Um-, Ein- und Zusammenbrüche, die wir heute unreflektiert „Wende“ nennen.

Da in dem Buch abschließend auch vier Stellungnahmen von Jugendforschern zitiert werden, und ich auch genannt werde, will ich es mir nicht nehmen, hier mich selbst (S. 216) zu zitieren: „‚Esist für mich unverständlich und aus wissenschaftlich-forscherischer Perspektive heraus ein Skandal, dass hier jahrzehntelange und wie ich meine, einmalige Jugendforschung von heute auf morgen im Zuge der deutschen Einheit stillgelegt werden soll … Für die internationale Jugendforschung wäre dies nicht nur nicht wieder gut zu machen, es wäre auch vollkommen unverständlich‘ (Brief aus der Universität Hannover vom 9.10.1990 an Ministerin Ursula Lehr)“ (Ursula Lehr war zuvor Professorin für Psychologie und Gerontologie!).

Diskussion

Für Kenner der Person Walter Friedrich und der Thematik Jugendforschung in der DDR liefern die recht einfühlsam durchgeführten dialogischen Interviews durchaus neue Informationen (vor allem zur Biographie von Walter Friedrich), neue Einsichten (in die Geschichte und Einmaligkeit des ZIJ sowie dessen Kampf gegen die Abwicklung) und auch Fakten über die zerstörerischen Folgen für das Institut, seine Mitarbeiter und den „ZIJ-Geist“. Die dialogische Form ist dabei sicher die geeignete Methode, um Zeitzeugen und große Persönlichkeiten rückblickend zu Wort kommen zu lassen und zu Reflexionen anzuregen. Dies ist trefflich gelungen und der Verdienst von Karl-Heinz Braun.

Die scheinbar deckungsgleichen Interpretationen der beiden Dialogpartner (?) – oder die Höflichkeit von Walter Friedrich? – verhindern allerdings an einigen Stellen einen notwendigen Diskurs, eine Kontroverse über eventuell brisante oder widersprüchliche Auffassungen zu bestimmten Themen. Die Dialogpartner gehen – verständlicherweise – voller wechselseitigen Respekt und Hochachtung ehrenvoll miteinander um. Dies ist aber m. E. auch eine logische Konsequenz der Tatsache, dass Walter Friedrich ein sehr bescheidener, rational abwägender Mensch und eine integre Persönlichkeit geblieben ist – trotz aller internationaler Anerkennung und Bekanntheit oder eben trotz aller Demütigungen, Ärger und Enttäuschungen.

Was die formale Gestaltung des Bandes, vor allem der eingescannten Bilder, betrifft (u. a. zu den Titelseiten von Publikationen, z.B. S. 32, 53, 75 usw.), hätte man durchaus großzügiger, d.h. großformatiger vorgehen sollen. Auch hätten Erläuterungen zu den Bildern den Leser ebenso erfreut. Zuletzt hätte ich mir am Ende eine chronologische Auflistung aller Publikationen von Walter Friedrich bis in die Gegenwart (!) und eine Zusammenstellung der wichtigsten Studien und Publikationen des ZIJ gewünscht sowie einen ausführlichen und systematischen Lebenslauf von Walter Friedrich – vielleicht als biographisches Phasenmodell parallel zur historisch-politischen Entwicklung von 1933 – 1990 und darüber hinaus bis zur Gegenwart, denn auch nach 1990 hat Walter Friedrich weiter geforscht und publiziert – allerdings, wie früher, oftmals „graue“ (nicht veröffentlichte) Literatur verfasst (vgl. Beispiele unten).

Fazit

Wer Interesse hat an den beiden Großthemen des Buches: Biographische Erfahrungen bzw. Kindheit und Jugend vom Beginn und vom Ende des Faschismus bis zu den Anfängen der DDR sowie die Entwicklungen in der sozialwissenschaftlichen Forschungslandschaft der DDR am Beispiel des ZIJ bzw. der Jugendforschung in der DDR, wird das Buch voller Spannung und Neugierde genießen können, zumal Walter Friedrich, trotz seiner damaligen gesundheitlichen Einschränkungen mit großer Klarheit und mit präzisem Erinnerungsvermögen nicht nur ein ausgewiesener und brillanter Forscher, sondern auch ein faszinierender Erzähler und reflektierender Zeitgenosse und Zeitzeuge der Geschichte, der Entwicklung, der strukturellen Probleme und Widersprüche sowie des Verschwinden der DDR war und ist. Viele der von Walter Friedrich berichteten Forschungsergebnisse aus den 80er Jahren belegen überdeutlich das allmähliche Absterben der DDR, den tendenziellen und unaufhaltsamen Vertrauensverlust der Bürger in den Staat sowie das Abwenden vor allem der Jugend von staatlich propagierten Zielen. Deutlich wird m. E. auch, dass man rückblickend auf die Forschungsergebnisse und theoretischen Erkenntnisse des ZIJ konstatieren muss, dass Staat und Regierung einerseits sowie Gesellschaft und Alltagskultur andererseits zwei unterschiedliche Seiten der Medaille DDR waren – was zumeist bei Diskussionen nicht differenzierend erkannt oder schlicht verdrängt wird. Auch von daher würde Walter Friedrich sicher der Erkenntnis des Schriftstellers Ulrich Plenzdorf (sonntaz vom 5./6. Juli 2014) zustimmen:

Von meiner Herkunft her bin ich auf den Osten spezialisiert.
Allerdings habe ich das Problem,
das die Interpretation des Ostens längst in Westhände gelangt ist“

Literatur

  • Braun, Karl-Heinz und Holzkamp, Klaus (Hrsg.) (1977): Kritische Psychologie. Band 1: Einführende Referate. Band 2: Diskussion. Köln: Pahl-Rugenstein
  • Braun, Karl-Heinz (1979): Kritik des Freudo-Marxismus. Zur marxistischen Aufhebung der Psychoanalyse. Köln: Pahl-Rugenstein
  • Friedrich, Walter und Griese, Hartmut M. (Hrsg.) (1991): Jugend und Jugendforschung in der DDR. Gesellschaftspolitische Situation, Sozialisation und Mentalitätsentwicklung in den achtziger Jahren. Opladen: Leske+Budrich
  • Griese, Hartmut M. (1997): Zeiten des Wandels und der neuen Möglichkeiten – ein Dokument 1989/90. In: Schlegel/ Förster (1997)
  • Griese, Hartmut M. (2009): Schusterjunge, Lehrer, Psychologe, Jugendforscher. Walter Friedrich zum 80. Geburtstag. In: Deutschland Archiv Nr. 6/ 2009
  • Schlegel, Uta und Förster, Peter (Hrsg.) (1997): Ostdeutsche Jugendliche. Vom DDR-Bürger zum Bundesbürger. Opladen: Leske+Budrich

„Graue Literatur“ nach der Wende (exemplarisch; unveröfftl. Manuskripte)

  • Friedrich, Walter (o.J.): Wohin treibt die Menschheit im 21. Jahrhundert?
  • Ders.: (o.J.): Exkurs: Die heimlichen Herrscher der Welt)
  • Ders. (o.J.): Zur Einkommens- und Vermögenssituation in Deutschland – West-Ost-Vergleich – Eine Information für Freunde
  • Ders. (o.J.): Gedanken über die Zukunft der Weltgesellschaft

Rezension von
Prof. Dr. Hartmut M. Griese
Leibniz Universität Hannover, Philosophische Fakultät, Institut für Soziologie und Sozialpsychologie.
ISEF-Institut (Institut für sozial- und erziehungswissenschaftliche Fortbildung
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Es gibt 85 Rezensionen von Hartmut M. Griese.

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Zitiervorschlag
Hartmut M. Griese. Rezension vom 17.10.2014 zu: Karl-Heinz Braun, Uta Schlegel: Walter Friedrich und die Jugendforschung in der DDR. Autobiografische und wissenschaftsgeschichtliche Dialoge. Schneider Verlag Hohengehren (Baltmannsweiler) 2014. ISBN 978-3-8340-1349-1. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/17397.php, Datum des Zugriffs 08.09.2024.


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