Johann Bischoff, Bettina Brandi (Hrsg.): Expertisen des Alltags. Versuche über das Volkstheater [...]
Rezensiert von Prof. Dr. Hans Wolfgang Nickel, 02.03.2015
Johann Bischoff, Bettina Brandi (Hrsg.): Expertisen des Alltags. Versuche über das Volkstheater auf der Bühne, im Fernsehen und Öffentlichen Raum.
Shaker Verlag
(Aachen) 2013.
286 Seiten.
ISBN 978-3-8440-1952-0.
D: 35,80 EUR,
A: 35,80 EUR,
CH: 44,75 sFr.
Merseburger Medienpädagogische Schriften Band 8.
Thema
„Expertisen des Alltags“ behandelt ausführlich die Theaterarbeit von Dario Fo als ein besonders qualitätvolles und prägnantes Beispiel von Volkstheater und nutzt seine Theaterarbeit als einen Maßstab auf der Suche nach einem gegenwärtigen Volkstheater, das gleichsam „Expertisen des Alltags“ gestaltet. Dabei werden auch Sendungen des Fernsehens, insbesondere Daily Soaps mit einbezogen.
Autorin/Herausgeber
Johann Bischoff und Bettina Brandi lehren an der Hochschule Merseburg; Bischoff ist Professor für Medienwissenschaft und angewandte Ästhetik seit 1993, Brandi Professorin für Theater- und Medienpädagogik seit 1995.
Marko Grunz studierte Kultur- und Medienpädagogik in Merseburg; sein Beitrag bringt Ausschnitte aus seiner Diplomarbeit. Auch Lorenz Schill studierte in Merseburg; er war „Kamera-Praktikant bei der Daily Soap ‚Gute Zeiten, schlechte Zeiten’“ (S. 283). (Kai Köhler-Terz wird zwar im Autorenverzeichnis genannt, ist aber nicht mit einem eigenen Beitrag vertreten; sein Dissertationsvorhaben wird von Bischoff zitiert, vergl. S. 210, 213).
Entstehungshintergrund
„Expertisen des Alltags“ erschien als Band 8 der Merseburger Medienpädagogischen Schriften.
Aufbau
Nach einer kurzen Einleitung behandelt Bettina Brandi in Teil I „Die Traditionen des groteskkomischen Volkstheaters am Beispiel von ‚Mistero Buffo’ von Dario Fo“ (6 ff). Im eher skizzenhaften II. Teil „Volkstheater heute“ (101 ff) beginnt Brandi mit der Dresdner Bürgerbühne und kommt über „Experten des Alltags“ bis zum Landscape Theatre. Dabei umkreist sie interpretierend und untersuchend den Begriff ‚Volkstheater’ und greift mehrfach zurück auf Dario Fo.
In Teil III erzählt Marko Grunz unter dem Titel „Theatrale Erforschung der Realität oder Der inszenierte Untergang eines Dorfes“ (143 ff) von der „Devastierung“ des Ortes Heuersdorf zugunsten des Braunkohletagebaus. Er diskutiert eine Reihe „zeitgenössischer Theaterformen“ – „Theaterformate, die nah an der Wirklichkeit recherchieren“, so Brandi in ihrer „Vorbemerkung“ (144) – als mögliche Modelle, die Heuersdorfer Geschichte(n) auf die Bühne zu bringen, also eine Art dramaturgischer Vorarbeit für eine Inszenierung.
Teil IV: „Zwischen Unterhaltung und Bildung“ nennt Johann Bischoff seinen Beitrag über „Interkulturelle und profane Alltagsinszenierungen am Beispiel von Daily Soaps im Fernsehen“ (208 ff). Eine spezielle Daily Soap untersucht Lorenz Schill in Teil V: „Mediale Struktur- und Rollenanalyse einer Daily Soap am Beispiel von ‚Gute Zeiten, schlechte Zeiten’“ (217 ff).
Inhalt
Die Theaterarbeit von Dario Fo bildet eindeutig den Schwerpunkt der Publikation; die weiteren Themen sind eher Kontrast- und Ergänzungsprogramme, „Versuche über das Volkstheater auf der Bühne, im Fernsehen und Öffentlichen Raum“, wie der Untertitel des Buches lautet. Es ist also nur konsequent, wenn Brandi die Publikation mit dem „Beispiel ‚Mistero Buffo’ von Dario Fo“ (6) beginnt. Dabei aber werden in dem Beitrag immer wieder auch Umrisse sichtbar einer umfassenden Untersuchung zum „Volkstheater heute“ (101) als Teil einer Geschichte des Volkstheaters.
Zunächst aber geht es um „Die Traditionen des grotesk-komischen Volkstheaters“ (6). Dabei ist Fo für Brandi nicht nur Beispiel, sondern beispielhaft, exemplarisch: „In der Entdeckung der komischen Spielpraktiken des Volkstheaters mit ihren typisch oppositionellen Inhalten scheint mir eine Möglichkeit für die Entwicklung eines sozialverantwortlichen Theaters zu liegen, das den Menschen nicht von seiner Wirklichkeit und Geschichte entfremdet, sondern ihn zum Subjekt des komischen Spiels macht“ (11). Also Konzentration auf „Mistero Buffo“ und Fos Theater „in seiner politischen Entwicklung“ (11): „am 24.3.1926 geboren“ (11); „Gründung der ‚Compagnia Fo-Rame’ 1959 … Die Reihe der Komödien mündet 1966 in einen Liederabend, den Fo zusammen mit Volkssängern aus verschiedenen Teilen Italiens aus alten Volksliedern zusammenstellt“ (15).
Dann die „Gründung der ‚Nuova Scena’ 1968“; sie ist „äußeres, sichtbares Zeichen für die radikale Neuerung in Dario Fos Theaterkonzept“ – die Organisation einer „proletarischen Öffentlichkeit … Mit Hilfe der ARCI, der Kulturorganisation der Kommunistischen Partei, findet die ‚Nuova Scena’ Zugang zu Gewerkschaftshäusern … Weil Fo jedoch auch kritisch Teilen der PCI gegenübersteht und in seiner Theaterarbeit zum Ausdruck bringt, … kündigen“ ARCI und die Gewerkschaftshäuser „Fo die Zusammenarbeit auf“ (16). Es bilden sich jedoch „von 1971 – 1974 circa 80 Theaterkreise, die sogenannten ‚circoli la Comune’, die in ganz Italien eine alternative Kulturarbeit ins Leben rufen und organisieren sollen“ (18). Dabei geht Dario Fo „wie Gramsci und Brecht von der Leninschen These der ‚Zwei-Kulturen-Theorie’ aus, wonach die Kultur der oberen sozialen Schichten, die so genannte Hochkultur auf der einen und die Volkskultur, die Kultur der unteren sozialen Schichten auf der anderen Seite nebeneinander getrennt bestehen“ (20).
Zum Vergleich skizziert Brandi die Theaterarbeit von Giorgio Strehler und Paolo Grassi; sie gründen 1945 „das ‚piccolo teatro di Milano’. Das Konzept ist ein Theater für jedermann, ‚un teatro d’arte per tutti’, mit Theaterstücken, die auch von der Arbeiterschaft verstanden und deren Erfahrungsbereich entnommen werden“ (20 f). 1947 versucht Strehler „mit der Inszenierung von Goldonis ‚Diener zweier Herren’ … eine genaue Rekonstruktion der Commedia dell’arte durch bestimmte Masken, Gesten, Musik und Choreographie“ (74). „Nach 1971 ändert Strehler sein Konzept des volkstümlichen Theaters. Grund dafür ist die Erkenntnis, dass die Verbreitung der Massenmedien das Theater wieder in eine ferne kulturelle Ecke rückt, wo es die elitäre Aufgabe zu erfüllen hat, einigen Wenigen zur Unterhaltung zu dienen. … ‚Es kann nicht mehr als ein Mittel der Massenkommunikation angesehen werden, das Theater ist wieder zu einem Mittel der Kommunikation von Wenigen für Wenige geworden.’ (Strehler: Für ein menschlicheres Theater, 1974, 71)“ (20 f).
Anders Dario Fo. „Der Reduzierung der Möglichkeiten und Attraktivität des Theaters durch die Übermacht des Fernsehens versucht Dario Fo mit seinem Konzept des politischen unterhaltsamen Volkstheaters entgegenzuwirken. ‚Wahres Volkstheater ist immer lustig, auch wenn es ernste Themen behandelt. Die Satire ist die Waffe des Volkes, sie ist der höchste Ausdruck des Zweifels, die wichtigste Hilfe der Vernunft. Wenn man politisches Theater schreiben will, darf man nicht Essays und Kommentare schreiben, sondern man muss unterhaltend sein, sonst dient man weder dem Theater, noch der Politik’ (Fo in Theater heute, 1977, 34). Die Eigendynamik, die in der Komik liegt, macht das Theater Fos und seiner Meinung nach das Volkstheater insgesamt schnell zum unkontrollierbaren Ort des kritischen Protests. ‚Wer sich wirklich mit Volkstheater beschäftigt, muss konsequenterweise beim politischen Theater landen und umgekehrt.’ (Peter O. Chotjewitz, Über Dario Fo, in: Linkskurve 1980, 37)“ (21).
„‚Mistero Buffo’, dessen wahrer Erfinder nach Fo das Volk ist, steht am Ende einer Entwicklungsphase, in der Dario Fo sich etwa 15 Jahre lang mit dem Theater des Mittelalters, sowie der italienischen Kulturtradition beschäftigt, und ist ‚… die theatralische Formulierung eines künstlerischen Programms, das die Hinwendung Fos zu einer politischen Theaterpraxis fundiert’ (Jungblut 1978, 192)“ (22). „‚Mich interessiert kein Museum. Mich interessiert das lebendige Theater. Ich suche Themen, die zu den aktuellen Auseinandersetzungen passen. Aber um aktuelles Theater machen zu können, muss ich begreifen, was der Mensch ist, und wie er geworden ist. Ich beziehe mich da auf Goethe, der den Menschen aus seiner Tradition begreift, die man kennen muss, wenn man vorwärts schreiten will’. (Werkstattgespräch mit Dario Fo, Theater der Zeit, Heft 24, 1968, 20)“ (23 f). „Im ‚Mistero Buffo’ verwirklichen sich für Fo drei Forderungen … äußert sich erstens das oppositionelle Moment des sozial-kritischen Volkstheaters. … wobei zweitens durch das Mittel der Komik immer die Einheit von spielerisch-unterhaltsamen und Erkenntnis bzw. Bewusstsein fördernden Elementen gewahrt bleibt. Drittens ist durch die Spielweise des ‚giullare’, der auf die phantasievolle Interpretation und aktive Teilnahme des Publikums angewiesen ist und der gleichen sozialen Wirklichkeit angehört, die Einheit zwischen Darsteller und Publikum, zwischen Illusion und Wirklichkeit gewährleistet“ (25).
Anschließend erläutert Brandi das „sozialkritische Potential der einzelnen Szenen“ (26): „Adams Sünde ist“ z.B. „nicht, den Apfel zu essen, sondern ihn nicht zu Wein zu machen“ (29). Für die Szene der „Geburt des Possenreißers“ waren Fo „Fragmente des Textes … schon lange bekannt, er traut sich aber eine umfassende Rekonstruktion noch nicht zu, bis er schließlich in einer Bibliothek das vollständige Manuskript findet, sizilianisch lernt und den gesamten Text ins Lombardische übersetzt. An diesem Beispiel lässt sich unter anderem ablesen, mit welcher Akribie Fo seine Theaterforschung betrieb“ (31), welch „umfangreiche Recherchearbeit“ (17) er leistete. Zu Fos darstellerischen Mitteln (34 ff) gehörten die „Durchmischung diverser Dialekte“ (35), „die Mischung aus Vortrag und szenischem Spiel“ (40), die „Ganzkörpermasken“ (41), „Körpersprache“ (42), „das durch die Commedia dell’arte zum Begriff gewordene ‚a parte’, das bereits im antiken und mittelalterlichen Theater ansatzweise existiert“ (44).
Verallgemeinernd und ausgreifend auf die “Historische Entwicklung des Volkstheaters“ versucht Brandi sodann eine „Sozial-anthropologische Annäherung … Wissenschaft und Kunst sind in ihrem Bemühen, Probleme zu lösen und Erkenntnisse über Wirklichkeit zu gewinnen, eng verbunden, nur ist es der Kunst möglich, über Grenzen zu gehen und das Mögliche auszuprobieren. Beide sind sie Mimesis, also Wiedergabe (Nachahmung) von Wirklichkeit, die sich im Theater im Unterschied zu anderen Künsten durch die Anwesenheit und Teilnahme eines Publikums konstituiert … Im Ursprung ist das Theatererlebnis jedoch nicht in Kunstschaffende und Kunstgenießende getrennt, sondern im wahrsten Sinne Kollektivhandlung, die primär die Angst vor Naturereignissen und die Sorgen im sozialen Leben bewältigen wollte. ‚Die ersten Regungen des Bewusstseins führten nirgends zum Begreifen, aber überall zur Beunruhigung durch Erscheinungen, die das Tier mit ruhiger Selbstverständlichkeit hinnimmt.’ (Bab: Theater im Lichte der Soziologie, 1974, 17). … Nachahmung wird zum Mittel nicht nur der mimischen, sondern auch der intellektuellen Aneignung des Wesens von Erscheinungen, die bis dahin fremd und bedrohlich sind“ (47).
Brandi greift dann zurück auf „Mimus und Antike“ (49): „Der Mime versteht sich nicht als Instrument, auf dem der Autor spielt oder ‚als Schwamm, der alle Farben aufnimmt und unverändert wiedergibt’, wie Hegel den Beruf des Schauspielers definierte. (Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik, 1954, 519)“ (51). Neben einer „naturgetreuen Darstellung der Menschen und ihres Alltags steht“ in der Antike „eine travestierende und parodierende Darstellung der Götter, die aussehen ‚wie Sterbliche von der niedrigsten Sorte, sie intrigieren, betrügen, zanken und keifen, pokulieren und huldigen den Freuden der Liebe, die Aphrodite Pandemios verleiht, als wären sie biedere Pfahlbürger irgendeines verrufenen kleinen Nestes’. (Reich: Der Mimus, 1903, 542)“ (53).
Die Rückblick auf die „Entwicklung des Volkstheaters“ wird fortgesetzt mit Hinweisen auf die „dramatische Tradition der italienischen Volksposse“ (54): einerseits die Komödien von Plautus, andererseits die „römischen Prinzipien geistiger Nüchternheit und materieller Sparsamkeit … Für deren sittlich strenge Gemüter sind die atellanischen Possen, die bis dahin das einzige darstellerische Spiel ausmachen, zu sinnenbetont und roh“ (55). Dann „Die Mysterienspiele des Mittelalters“ (56 ff); in „Rom bilden sich im Winter die Saturnalien heraus, die im Andenken an die goldenen Zeiten unter Saturnus, in denen die Menschen ohne Unterschied der Herkunft und des Standes gleich somd (sic!), dieses Fest feiern“ (57).
Wichtig „Die
Joculatoren und ihr Einfluss auf das
Einschneidend die Wirkung der Aufklärung, denn mit ihr, so Fo, „treten nun das erste Mal an Stelle dieser Typen, die auf bestimmte Klassen verweisen, Personen auf, die isolierten Individuen entsprechen … Ich, ich, unter diesem Gesichtspunkt wird nun an die Probleme herangegangen“ (zitiert auf S. 72). Zudem „gilt jetzt der Grundsatz der Einheit und Logik von Ort, Zeit und Handlung und das Prinzip des moralischen Nutzens eines Stückes. ‚Ein wahres Henkersbeil für nahezu alle Commedia-Figuren.’ (Karl Riha, 1980, 63)“ (72). Harte Kritik auch von Gottsched: „Ihre besten Komödien enthalten nichts als Romanstreiche, Betrügereien der Diener und unendlich viel abgeschmackte Narrenpossen. … Sie machen Parodien auf die ernsthaftesten Stücke, mitten zwischen ihren anderen Szenen; und erfüllen alles mit Geistern, Zauberern und Gespenstern. (1968, 342)“ (zitiert auf S. 73). „Ganz anders als Gottsched beschreibt und beurteilt Goethe die Commedia …“ (73).
Nach dem geschichtlichen Rückblick untersucht Brandi genauer „Realistische und komische Elemente im Volkstheater“ (79) und setzt sich dabei kritisch mit dem Realismus-Begriff auseinander. Im folgenden ein längeres Brandi-Zitat zur „Aufklärung durch Realismus“ (79): „Das Volkstheater ist immer bemüht, die Wirklichkeit so realistisch wie möglich nachzubilden oder besser, es wählt immer methodisch den Weg, die wahre Beschaffenheit der Wirklichkeit durch eine bestimmte, auch verzerrende Form der Realitätswiedergabe zu vermitteln. … Da das Volkstheater über das Mittel der grotesk-komischen Darstellung gesellschaftlich verdrängte Tabus ans Tageslicht holt, weist es sich als realistisch aus. Es verweist damit auf etwas, das als wirklich erscheint und auf das, was sich ihm widersetzt. Durch Verfremdung und Übersteigerung des Gewohnten macht diese Darstellungsweise die Diskrepanz zwischen der Erwartung und dem ihr Widerstrebenden sichtbar und löst den Zuschauer lustvoll aus der Unmittelbarkeit des bisher Vertrauten. Damit sind zwei wesentliche Momente des Realitätsbegriffs, der hier für das Volkstheater entworfen werden soll, angesprochen: die Erweiterung der Erkenntnis über Wirklichkeit durch Verfremdung des Gewohnten und die Neustrukturierung der künstlerischen Mittel. …
Die Geschichte des Realismus kann sich auf keine konstante Größe ‚Wirklichkeit’ beziehen, sondern nur auf die Untersuchung realistischer Inhalte mit Rücksicht auf die historische Relativität des Wirklichkeitsverständnisses. Die Begriffe ‚Realismus’ und ‚Realität’ sind dabei prinzipiell zu trennen, denn ‚Realismus’ impliziert immer die Nachahmung oder Übertragung der Wirklichkeit der Realität ins Ästhetische. … ‚Erst die spezifisch künstlerische Auswahl und Anordnung von Fakten aus der phänomenalen Wirklichkeit konstituiert Realismus …’ (Stephan Kohl, Realismus. Theorie und Geschichte, 1977, 191), worin das Bewusstsein der kategorialen Verschiedenheit von Kunst und Wirklichkeit immer enthalten ist. … Das heißt, dass sinnvoll von Realismus nur gesprochen werden kann, ‚…wenn entweder aus der Wirklichkeit eine ‚Wahrheit’ konstruiert wird oder traditionelle Wirklichkeitsvorstellungen desillusionistisch zerstört werden’ (Kohl 192 f). Die Realität sollte, wie Dilthey es konkretisiert (1958, 172), mit Hilfe der eigenen Erfahrung so weit überschritten werden, dass sie noch tiefer gefühlt und verstanden werden kann als durch die treuesten Kopien des Wirklichen … ‚Realismus ist das Sehen und Aussprechen der Widersprüche in der gesellschaftlichen Struktur einer Zeit – zu deren Überwindung’ (Kohl 201)“ (79 f).
Hinzu kommt der improvisatorische Charakter. Dazu Fo: „Was Volkstheater ist, nämlich episches Theater, hat Brecht tatsächlich wissenschaftlich umrissen. Ich habe – nicht ich allein, sondern zusammen mit vielen anderen – die Möglichkeit gehabt, über die Theorie hinaus die Praxis eines Volkstheaters zu entwickeln, d.h. ich habe wirklich, praktisch-lebendig, den Schlüssel zum epischen Theater entdeckt. Das ist der große Unterschied: die Stücke Brechts sind Abend für Abend mehr oder weniger gleich, die Stimmung, die Atmosphäre im Publikum ändert sich nicht. Wir machen ein Theater, das jeden Abend anders ist. Damit meine ich nicht nur die Rhythmik. Wir improvisieren. Wir stoßen hier auf den Begriff des ‚teatro all improvviso’“ (so Fo 1978 124 f; zitiert bei Brandi S. 82).
Und noch einmal zu „Bedeutung und Ausdruck des Komischen“ (82) mit einem Verweis auf Bergson (84), Ausführungen zu „Funktionen des Lachens im Mittelalter“ (85), zum Narren „als Träger des Komischen“ (87); noch einmal Dario Fo: „Auf dass du ein Possenreißer wirst, dass deine Zunge wie eine Schlange zwischen deinen Zähnen zischt, dass dein Gehirn sprudelt wie ein Wasserkessel auf dem Feuer. Jeder, der deinen Einfällen zuhört, soll sich vor Lachen biegen. Die aufgeblasenen Nichtse aber, die sich Herren nennen, soll deine Zunge wie ein scharfes Messer durchstechen. (Programmheft Mannheim 1975)“ (87 f).
In der “Schlussbemerkung“ zu Teil I fasst Bettina Brandi zusammen: „Die Geschichte des Volkstheaters und die Theaterarbeit Dario Fos verdeutlichen, dass hier … die den theatralen Vorgang konstituierende Wechselbeziehung zwischen Schauspieler und Publikum wieder in den Vordergrund rückt“ (89). Zwar ist für Brandi „der Begriff ‚Volkstheater’ in Deutschland immer noch von Millowitsch und Ohnesorg geprägt, wodurch es zum Inbegriff des Klamauks … abrutschte“ (90) – ihre Publikation zielt jedoch darauf, den Begriff zu rehabilitieren und ihn mit frischen Inhalten zu füllen. Zum Beispiel durch „das emanzipatorische Kinder- und Jugendtheater“. Nachdem es „in Deutschland erste Schritte zur Durchsetzung eines neuen Volkstheaters gemacht und mit engagierten Themen in Kombination mit komischer schneller Spielweise alle sozialen Schichten erreicht hat, ist – auf Grund der immer wieder beklagten Struktur- und Sinnkrise des öffentlich finanzierten Theaters und der positiven Einflüssen (sic!) ausländischer Beispiele von kritisch-komischem Volkstheater - zu hoffen, dass sich deutsche engagierte Theatermacher frei genug fühlen, mit neuen Themen und Spielweisen unser gestörtes Verhältnis zum Vergnügen und zum Spaß zurechtzurücken“ (92 f).
Eher skizzenhaft geht es in Teil II um das „Volkstheater heute“ (101 ff), freilich immer wieder mit Seitenblicken auf Dario Fo. Brandi beginnt mit einer Klärung des Begriffsumfangs: „Bisher wurden zum Volkstheater im Allgemeinen Theaterformen wie die von Willi Millowitch in Köln gezählt, das mit Ausnahmen ansteckend lebendige Bauerntheater in Bayern, das Boulevardtheater auf dem Berliner Kurfürstendamm oder das Volkstheater im Fernsehen, wie das legendäre Ohnesorg-Theater. Auch der Blaue Bock und ähnliche Volksmusiksendungen sowie Vorabendserien wie die Lindenstraße oder Gute Zeiten Schlechte Zeiten … erfüllen die typischen Merkmale einer klassischen Volkskunst mit Geschichten von nebenan, der Identifikation mit alltäglichen Begebenheiten, mit Menschen ‚wie du und ich’ und leicht konsumierbarer Dramaturgie in einer Sprache, die dem ‚Volk aufs Maul’ schaut“ (103). Brandi zitiert zudem den von Matthias Brenner, dem Intendanten des Neuen Theaters Halle, gebrauchten Begriff „Bevölkerungstheater“, den dieser „am Beispiel seiner bürgernahen Inszenierung ‚Zscherben, ein Dorf nimmt ab’ … damit erklärt, ‚dass man Theater für oder vor allem auch mit der Bevölkerung macht … Das ist für mich, wenn man so will, Volkstheater’“ (104 f). „Auch die Tatort-Reihe im Fernsehen bezeichnet Brenner als Volkstheater bzw. ‚Volksfernsehen’, weil sie in ihren gelungenen Produktionen den Alltag der Menschen spiegelt, sozialen Brennpunkten und den gesellschaftlich Unsichtbaren … eine ‚Kulisse’ gibt“ (105). „Im Folgenden“, so Brandi, „wird anhand dieser vielfältigen neuen Formen versucht, eine erweiterte Typologie zum modernen Volkstheater zu entwerfen“ (106).
Als Beispiele nennt Brandi die „Bürgerbühne Dresden“ (101), „Soziotheatrale Experimente“ (106), z.B. das Projekt Jobact; sie weist zurück auf „Arbeitertheatervereine und sogenannte Volksbühnen … Im Umfeld der Sozialdemokratie entstehen bis in die 1850er Jahre hinein ca. 800 Arbeitertheatervereine, in deren Tradition auch der Volksschauspieler Dario Fo steht“ (107). „Die mittelalterlichen Mysterienspiele, die er durch seine großartige Recherchearbeit und anverwandelnde Spielweise wieder belebt, werden auch in Deutschland schon Anfang des 20. Jahrhunderts durch die Arbeiterbewegung aufgegriffen. Fastnacht-, Puppen- und Marionettenspiel, alte Schwänke und Grotesken finden Einzug in das entstehende Arbeitertheater, das sich später auch den Laienspielern öffnet“ (107 f); dazu ein Hinweis auf Kerschenzew und sein Buch ‚Das schöpferische Theater’, 1922, 1980 (108). „Das spätere Laientheater der 1960er Jahre“, so Brandi, „knüpft hier an, nur dass es sich explizit an Jugendliche richtet und mit ihnen zusammen deren Themen auf die Bühne bringt“ (108). Das ist, auch terminologisch, eher ungenau und zu schnell aneinander geschnitten. Wichtig jedoch der Hinweis auf Oskar Negt und Alexander Kluge. „In ihrem Buch ‚Öffentlichkeit und Erfahrung’ formulieren Kluge und Negt 1972 den Gedanken, dass jeder selbst der Experte der eigenen Erfahrung ist …, und dass man von den eigenen Gedanken und Erfahrungen so lange nichts weiß, bis man sie gegenüber einer Öffentlichkeit ausgedrückt hat“ (108 – ähnlich hatten auch Dewey und Moreno argumentiert!). Wichtig an dem Hinweis auf Kluge/Negt ist mir überdies, dass der zur Zeit eher modische Begriff der „Experten des Alltags“ konkretisiert und damit auch der Titel des Bischoff-Brandi-Buches ‚Expertisen des Alltags’ begründet wird.
Zwei Erweiterungen des Begriffs „Volkstheater“ in „dieser politisch bewegten Zeit“ nennt Brandi noch, wiederum eher assoziativ und erprobend: das Zielgruppentheater und „bis heute berühmte“ Kindertheater „wie Grips und Rote Grütze, die emanzipatorische Wirkungen bei Kindern und Jugendlichen erzielen und mit ihren auch heute noch frischen, mitreißenden Stücken zum selbständigen Denken anregen wollen“ (108). „Die Lehrstückpraxis von Brecht inspiriert in den 1970er Jahren auch die so genannten Lehrlingstheater der Jugendarbeit. … Von dieser rein pädagogisch-agitatorischen und kunstfernen bzw. zum Teil geradezu Ästhetik feindlichen Haltung hat sich die Theaterpädagogik lange nicht erholt. Zu der Zeit entwickelte sich das so genannten ‚Zielgruppentheater’ als Obdachlosentheater, türkisches Theater, Frauentheater, Seniorentheater und das emanzipatorische Kindertheater Rote Grütze oder das Gripstheater, das später mit der Zeit geht, sich von dem rein agitatorischen Gedanken löst und bis heute anspruchsvolles Kinder- und Jugendtheater macht“ (110). Vielleicht darf ich hier gleich Zweifel anmelden: so „rein agitatorisch“ waren Grips und Grütze nie; Grips (anfangs unter dem Namen „Kindertheater im Reichskabarett“) tastete sich mit ‚Märchen’ („Kaspar und der Löwe Poldi“) erst langsam an das eigene Publikum heran, näherte sich über „Stokkerlok und Millipilli“ und „Mugnog-Kinder“ dem heutigen Kind, entwickelte dann ein zeitbezogenes Jugendtheater und schaffte mit der „Linie 1“ ein „eigenes Theater…, das den Ausbruch aus einer Minderheitenposition in die Popularität eines Theaters mit einem schichtenübergreifenden Publikum vollzogen hat,“ so Gerhard Fischer schon 2002 in „GRIPS. Geschichte eines populären Theaters“ (S. 18). „Gleichzeitig“, so Fischer weiter mit Verweis auf Nestroy, „setzt GRIPS die Tradition des kritisch-aktuellen Volkstheaters des 19. Jahrhunderts fort“ (19) – mehr dazu siehe unter Diskussion. Dort auch ausführlich zum „Landschaftstheater“.
Brandi kommt dann zu den durch Kluge/Negt schon eingeführten „Experten des Alltags“ (117 ff) und zur Suche nach dem Authentischen. „‚Authentes’ bedeutet als griechisches Substantiv soviel wie, etwas aus eigener Hand und eigener Initiative vollenden oder zustande bringen und führt damit für viele direkt oder indirekt zur dokumentarischen Vorgehensweise“ (117). Brandi stellt Rimini Protokoll vor (119), Schlingensief (122), Gob Squad (123), Forced Entertainment (124), die Story Dealer und „ihre theatralen, soziologischen Experimente“ (126), She She Pop (127), Fräulein Wunder AG (128).
Anschließend an die einzelnen Theatergruppen charakterisiert Brandi besondere Theaterformen, zunächst „Site specific performance“: „Der Raum selbst wird zum Hauptakteur. Er wird nicht verkleidet und zum Kunstraum gestaltet, sondern in seiner Besonderheit sichtbar gemacht“ (131). So hat das „Thalia Theater Halle … namhafte Projekte im Stadtraum initiiert“ (133), in Gießen gab es die „Stadtrauminszenierung ZEITENWENDE … Ziel dieses zeit-verrückten Gesamtkunstwerks“ war es, „eine gesamte Stadt mit ihren Bewohnern sowie Besuchern temporär zum Kunstraum zu gestalten, wobei nicht nur das Ereignis selbst, sondern auch die Vor- und Nachbereitung wesentlicher Bestandteil der Inszenierung“ waren (134).
Dann die „Flash-Mobs … Der Begriff Flashmob beschreibt eine Menschenmenge, die wie der Blitz auftaucht und wieder verschwindet. Die Teilnehmer finden sich über das Internet … Das ästhetische Prinzip ist der Zufall und die Tatsache, dass Flashmobs keinerlei Intention verfolgen. … Der Love Rug ist der erste durchgeführte Flashmob am 17. Juni 2003 in New York“ (136). „Die Beispiele zeigen“, so Brandi, „dass der Flashmob als hybrides Phänomen, das in der Tradition der Cultural Performance die Grenzen des Theaters überschreitet und den Alltag der Menschen erkundet, soziales Leben im Stadtraum verstört und durch ihren etwas anderen Volksfestcharakter neu gestaltet“ (137). Dazu ein Habermas-Zitat (2008, 161): „Das World Wide Web scheint freilich mit der Internetkommunikation die Schwächen des anonymen und asymmetrischen Charakters der Massenkommunikation auszugleichen, indem es den Wiedereinzug interaktiver und deliberativer Elemente in einen unreglementierten Austausch zwischen Partnern zulässt, die virtuell, aber auf gleicher Augenhöhe miteinander kommunizieren“ (zitiert 137).
Schließlich das „Landscape Theatre“ (138 ff). „An historisch stimmigen Orten werden dazu passende historische Ereignisse nachgespielt, wegen der benötigten Zahl der Protagonisten unter Beteiligung großer Bevölkerungsgruppen, die – ähnlich den Fantasy-Rollenspielen - ursprünglich nur für sich selbst spielten“ (138). „Besondere Aufmerksamkeit“, so Brandi, „verdient in diesem Zusammenhang das Dorf Heersum in Niedersachsen, das mit seinen Sommerspielen zu einiger Bekanntheit gelangt ist. Die Gründer nennen ihre Aufführungen ‚Landschaftstheater’ [1], das sie auf ihrer Webseite folgendermaßen beschreiben: ‚… Die Natur wird zur Spielfläche, die so groß ist wie das Blickfeld des Publikums. Die Zuschauer sind mitten drin’. Ähnlich wie bei den Passionsspielen in Oberammergau wird hier ein ganzes Dorf jedes Jahr in den theatralen Ausnahmezustand versetzt. … Über dieses erfolgreiche Volkstheater im Landscape-Format ist mittlerweile ein Buch erschienen, in dem die 20-jährige Erfolgsgeschichte beschrieben wird“ (139) [2]. „Die Zuschauer können je nach Aufführung im Szenenbild herumlaufen und müssen nicht frontal und abseits dem Geschehen folgen. Auf dem Weg zwischen den einzelnen Stationen spielen oft Bands, um das Publikum bei Laune und die dramaturgische Spannung zu halten.“ (140).
In den Beiträgen III, IV und V geht es dann dezidiert um gegenwärtige Formen von Volkstheater. Marco Grunz geht in „Theatrale Erforschung der Realität oder Der inszenierte Untergang eines Dorfes“ (143 ff) von einem bedrückenden Thema aus. Er beginnt seine umfassende Erkundung von Material und Möglichkeiten einer theatralen Realisierung mit einem kurzen „Überblick über momentane Schwerpunkte zeitgenössischen Theaters„: Boal, She She Pop, Rimini Protokoll, Story Dealer. Er beschreibt und analysiert dann ausführlich einzelne Inszenierungen: ‚Der Kick’ von Andres Veiel, ‚Wallenstein’ und ‚Call Cutta’ von Rimini Protokoll, ‚Ode an die Arbeit’ vom Theater Rudolstadt, ‚Herberts Dream’ von Cie des Quidams, ‚Das Familienalbum’ von SheShePop, ‚SubCityFishing’ der Story Dealer (150 ff). Er charakterisiert die Inszenierungen vergleichend nach „Fiktion/Realität … Raum … Zeit … Perspektive der Teilnehmer … Inszenierungskonzept“ (164 ff) und versucht sich dann an der „Konzeptentwicklung für ein dokumentarisches Theaterstück“ (173 ff).
Inhaltlich geht es um den „Untergang eines Dorfes“ – es muss Platz machen für den Braunkohletagebau. Drängende Fragen also: „Wo liegen die demokratischen Schwerpunkte, wer diktiert diese Zukunft … Warum gibt es auf der einen Seite Opfer und auf der anderen Seite Vollziehende in welchem Interesse?“ – eine Konfrontation von einander „gegenüberstehenden Vorstellungen von Gemeinwohl“ (173).
Nach einer „Chronik der Ereignisse um Heuersdorf“ (174 ff) und Hinweisen auf „Gesellschaftliche Hintergründe“ (179 ff) sucht Grunz Anregungen für eine “Theatrale Modellbildung“ (187 ff) und skizziert verschiedene Formen: von „Dokumentarisches Theater“ über „Theater der konkreten Fragestellungen“, „Theater als Überschneidung von geregelten Spielen“ bis zu „Theater als Darstellung eines Gesellschaftsmodells“ und „Theater als ritueller Vollzug“. Grunz schließt seine vorbereitenden Arbeiten für eine Dramatisierung der „Ereignisse um Heuersdorf“ mit einer Wunschvorstellung: Würde Theater zur „wirklichkeitskonstituierenden und Möglichkeiten realisierenden Spielstätte“ (192), so könnte es erreichen, „was unsere Gesellschaft so nötig braucht: den Wandel institutioneller Verhaltensweisen“ (193). Abschließend folgt noch ein ausführlicher tabellarischer Anhang (194 – 205). -
In Teil IV untersucht Johann Bischoff „Interkulturelle und profane Alltagsinszenierungen am Beispiel von Daily Soaps“ zwischen „Unterhaltung und Bildung“ (208). Daily Soaps unterscheiden sich vom „Volkstheater“ durch den „Sendeplatz und die Sendedauer (30 Minuten). Auch die Unterbrechung durch Werbung als ein wichtiger wirtschaftlicher Faktor und (sic!) in den 30 Minuten inbegriffen. … Anders ist auch die Art und Weise der Nutzung des Fernsehprogramms durch den Rezipienten. … Eines der wichtigsten Unterscheidungsmerkmale ist …, dass Soaps kein geplantes Ende besitzen“ (208). Bedeutsam für Bischoff ist, „dass neben der Unterhaltung auch Bildungsaspekte zum Tragen kommen“ (209). So werden in „der Kultstaffel ‚Türkisch für Anfänger’“ auch „interkulturelle Aspekte thematisiert, zumindest in der ersten Staffel mit der Intention, Vorurteile abzubauen“ (209). Damit kommt die Serie in die Nähe „einer ganzheitlichen ‚interkulturellen Pädagogik’“ (211) und kann „zeigen, ob Massenmedien Beiträge zur interkulturellen Pädagogik leisten können“ (213). In einer solchen Pädagogik, so erläutert Bischoff, „werden alle Migrantengruppen als Bestandteil der bundesrepublikanischen Gesellschaft aufgefasst„; dabei „lassen sich … drei Strömungen oder Ansätze ausmachen: - strukturorientierter Ansatz … – bilingualer Ansatz … - begegnungsorientierter Ansatz“ (211). Zurück zu ‚Türkisch für Anfänger’: „Am Ende der Folge begreift die Familie, dass sie nur harmonisch miteinander leben können, wenn sie sich so akzeptieren, wie sie sind und aufeinander zugehen. Sie merken aber auch, dass sie sich nur soweit aneinander anpassen und Kompromisse schließen können, wie sie es auch individuell akzeptieren können, ohne ihre persönlichen Eigenheiten zu verleugnen. Das lässt“, so Bischoff, „eine Dramaturgie erkennen, wie sie auch im Volkstheater anzutreffen ist“ (215). -
Lorenz Schill, der Autor des abschließenden Teiles V, war „Kamera-Praktikant“ (283) bei ‚Gute Zeiten, schlechte Zeiten’; seine „Mediale Struktur- und Rollenanalyse einer Daily Soap am Beispiel von ‚Gute Zeiten, schlechte Zeiten’“ (217 ff) beginnt er mit einem historischen Rückblick: „1925 strahlte ein amerikanischer Regionalsender die 17 Minuten lange Serie ‚The Smith Family’ im Radio aus und erschuf somit ein ganz neues Format. … Den richtigen Durchbruch schafften die Soap Operas jedoch erst am Anfang der 1930er Jahre, als NBC am 15. Februar 1932 als erster Radiosender mit der amerikaweiten Ausstrahlung der Serie ‚Clara, Lu ‚N’ Em’ startete“ (218). „‚Unsere Nachbarn heute Abend: Die Schöllermanns’, so hieß die erste deutsche Familienserie, die zwischen 1954 und 1960 gesendet wurde. Sie wurde vom NDR produziert und von der ARD in 111 Folgen gesendet“ (220). „Das Vorbild für GSZS ist die australische Daily Soap ‚The Restless Years’. … Die Produktionsfirma ‚Grundy UFA’ … hatte einfach die ersten 230 Drehbücher übernommen und in die deutsche Sprache übertragen. … Bis jetzt wurden bereits über 4300 Folgen der erfolgreichen Serie ausgestrahlt, dabei werden die einzelnen Folgen durchschnittlich von 4,55 Millionen Zuschauern verfolgt“ (220). „Da die ersten Soaps von Waschmittelherstellern in den USA produziert wurden, verdanken sie ihnen auch ihren Namen. … Die ersten Drehbücher hatte man einfach eins zu eins übernommen. Nach den ersten 230 Folgen begann man jedoch, die Serie speziell für Deutschland zu produzieren“ (221).
Nach dem historischen Rückblick erläutert Schill „Konzept und Aufbau der Daily Soap“ (221), diskutiert „Inhalte“ (222), „Figuren“ (223), „Produktionstechnische Rahmenbedingungen“ (226) und die „Zielgruppe: Da die Soap von Beginn an sehr eng mit den Interessen der Werbeindustrie verknüpft ist, richtet sie sich hauptsächlich an eine bestimmte Zielgruppe, die Frauen. Die Soap thematisiert nicht wie üblich männliche Helden, die Abenteuer bestehen oder gar die ganze Welt vor dem Untergang retten, sondern inszeniert Alltag. … Beziehungen und der Umgang mit sozialen Problemen, so scheint es, sind noch immer besonders für Frauen interessant“ (225). Auf „Methodische Hinweise“ zu Handlung und Dramaturgie, Inszenierung, Schnitt und Montage, Kamera folgt eine „Formal-inhaltliche Analyse“, bezogen auf „Hauptfiguren … Handlungsorte“ (229), darin heißt es ein wenig kryptisch: „Einen Überblick über alle Charakteren (sic!) und deren Beschreibung, befindet sich Anhang. Dieser Überblick bildet die Grundlage für die Folgenden (sic!) Untersuchungen“ (229). Genauer – vor allem technisch akzentuiert – untersucht Schill die „Folge 4216“ von GZSZ. Nach dem „Fazit“ (250) gibt es noch umfangreiches „Arbeitsmaterial zur Serie GZSZ Folge 4216“ (252) mit der „Beschreibung aller Hauptdarsteller der Serie“ (254 ff; gemeint sind die Figuren, nicht die Darsteller!), mit „Sequenzprotokoll / Einstellungsprotokoll“ (261 ff) und „Drehbuchauszug Folge 4216“ (275 – 281). Auch bei GZSZ „zeigen sich“, so hatte schon Bischoff festgestellt, „viele Ansatzpunkte, die auf ein ‚modernes Volkstheater’ hinweisen“ (215).
Diskussion
Wenn es mir auch nicht gefällt, gewisse Fernsehsendungen unter “Volkstheater“ einzuordnen, so muss ich doch einräumen, dass die AutorInnen von „Expertisen des Alltags“ einige, in dem Titel des Buches schon angedeutete Gründe dafür namhaft gemacht haben.
Umso mehr bin ich einverstanden, das Kinder- und Jugendtheater in die Nähe des Volkstheaters zu rücken [3]. Um es am Beispiel des Grips-Theaters und mit den Worten von Gerhard Fischer aus seinem 2002 erschienenen Buch „GRIPS. Geschichte eines populären Theaters“ zu verdeutlichen: „Der Begriff populäres Theater, den ich für GRIPS gewählt habe, entstammt dem englischen Sprachgebrauch“; Fischer verweist hier auf „Peter Brooks The Empty Space“ und erläutert: „GRIPS ist ein populäres und kritisches, gesellschaftlich engagiertes Theater zugleich. Der Terminus ‚Volkstheater’, den ich in diesem Buch zu vermeiden versuche, scheint mir sowohl durch seine historische Belastung und den zeitgenössischen Sprachgebrauch wenig geeignet, einen präzisen Begriff von der theatralen Wirklichkeit des GRIPS Theaters zu vermitteln. Volkstheater meint heutzutage gemeinhin Institutionen wie … Ohnesorg-Theater, die Millowitsch-Bühne … oder den bayrischen Komödienstadl“ (17). Bei GRIPS ist es „das realistische, komödiantische Spiel, das sich gesellschaftskritisch versteht und das von den Interessen seines Publikums ausgeht“ (15); damit „hat sich GRIPS“, so Fischer, „tatsächlich als kritisch-politisches Unterhaltungstheater … etablieren können“ (20). Und es entspricht, wie Brandi zeigt, den „Forderungen“, die Dario Fo „an das moderne politische Theater stellt“: „das oppositionelle Moment … das Mittel der Komik … die Einheit von spielerisch-unterhaltsamen und Erkenntnis bzw. Bewusstsein fördernden Elementen“ (25). -
Unbedingt zu ergänzen sind allerdings die knappen Anmerkungen von Bettina Brandi zum „Landscape Theatre“ (138 ff) durch einen ausführlicheren Hinweis auf das Schweizer Landschaftstheater. Der in der Schweiz gebräuchliche Begriff der „Landschaft“[4] fasst Natur, Bevölkerung sowie Geschichte und Erinnerungen / Erzählungen einer spezifischen Schweizer ‚Landschaft’ zusammen; Landschaftstheater ist demnach ein Theater, das sich auf diese Spezifik bezieht, sie (auch konfrontativ) gestaltet und damit transformiert. Dabei greift das Schweizer Landschaftstheater eigene Theater- und Landschaftstraditionen auf, es bezieht die ländlich-kleinstädtischen Theatervereine ein in auf Gegenwart bezogene, stark dramaturgisch bestimmte Projekte, die sich virtuos der dramatischen Weltliteratur bedienen, lokal situierte Autoren und Musiker heranziehen und nur selten in einem „Theater“ aufgeführt werden, sondern vor allem „in der Landschaft“, in und um Kirchen und Kapellen, an unterschiedlichen Orten einer Stadt, in Rat- und Gasthäusern, meist verbunden mit (die Dramaturgie bestimmender) räumlicher Bewegung des Publikums von Spielort zu Spielort. Bewegungen des Publikums sind also kein notwendiges Flickwerk oder bloße Überbrückungsmaßnahmen beim Szenenwechsel, sondern genau kalkulierte inhaltliche Ergänzungen.
Landschaftstheater in diesem Sinn wurde von Louis Naef seit etwa 1980 inauguriert, als eigene Theaterform ab 1991 (Freilichtmuseum Ballenberg) profiliert und kontinuierlich weiter entwickelt [5]; es entstand in engem Kontakt mit der Entwicklung der (ebenfalls mehrere Jahre von Naef geleiteten) theaterpädagogischen Ausbildung an der Schauspielakademie Zürich (jetzt Teil der Zürcher Hochschule der Künste).
„Louis Naef verstand es“, so Joseph Bättig, Kenner und kritischer Begleiter der Schweizer Literatur- und Theaterszene, „in vielen Inszenierungen die besondere Bedeutung eines Ortes, einer Landschaft und eines Textes in eine innere Einheit zu bringen. … Es gehört zum künstlerischen Impetus von Louis Naef, die besondere Spiritualität und Ausstrahlung eines Ortes und seiner Personen zu erfassen und ins Szenische umzusetzen.“
Dazu Louis Naef: „Der Schauplatz in der Landschaft wird simultan erfahren und ist geprägt durch die topographische Geschichte, die sich darin zeigt und äußert, durch seine natürliche Umgebung und die darin enthaltenen Dinge, die zugegen sind – und durch die atmosphärischen Einwirkungen der Natur; d.h. die Landschaft gibt den Raum vor für eine Inszenierung, sie bestimmt wesentlich den Ablauf einer Aufführung (vorhandene Topographie, Wetter, offene Lage, Stimmungen usw.)“. In diesem Sinne verweist Naef auf Richard Sennett, der sagt, es gelte zu lernen, „den öffentlichen Raum als einen Raum des Sinnlichen, der körperlichen Erfahrung, wahrzunehmen“, d.h. Anteil zu nehmen statt ihn bloß über sich ergehen zu lassen.
Nur zwei Beispiele, mit welch dramaturgischer Delikatesse die Zusammenarbeit örtlicher Theatervereine mit professionellen Schauspielern inszeniert wird: da werden in Ostrowskis „Wald“ die beiden wandernden und schnorrenden Schauspieler Arkadius und Gennadius „natürlich“ mit Profis besetzt; der komplette Gutshof wird von den örtlichen Amateuren gespielt: von der Gutsherrin Raissa bis zu Pjortr, dem Sohn des Kaufmanns, die hier allerdings auch lokal geprägte Namen tragen und selbstverständlich den örtlichen Dialekt sprechen. Und ganz natürlich ergibt sich die dramaturgische Spannung zwischen den beiden Gruppen, ohne dass sie gespielt oder inszeniert werden muss.
Ähnlich bei der Aufführung in Stans: „Tag des Jammers – Helvetische Szenen aus Nidwalden 1798“, ein vom Dramatiker Hansjörg Schneider zum Gedenken an den militärischen Einmarsch der Franzosen verfasstes Stück, das 1998 an verschiedenen historischen Schauplätzen rund um den Dorfplatz und in der Umgebung des Klosters St. Klara aufgeführt wurde. Straßen, Plätze, Wirtschaften, Kapellen und das dahinter liegende Schlachtfeld wurden ins Spiel integriert. Louis Naef erläutert: „Weil es sich beim historischen Ereignis um die dramatische Zuspitzung einer epochalen Umwälzung in der Schweizer Geschichte an einer hierfür exemplarischen Stätte handelte, war es ein besonderes Bedürfnis, die alten Wunden und den alten Stolz – Niederlage und Heldentum – in einer zeitgemäßen Dramatisierung und Inszenierung zu hinterfragen; besonders wichtig dabei, die ganze Bevölkerung des Kantons Nidwalden ins Geschehen einzubeziehen, ihr die eigene Geschichte hautnah vor Augen zu führen und eine echte Auseinandersetzung zu bewirken“. Pestalozzi kam damals als ‚Zugereister’ zur Führung des Waisen- und Armenhauses nach Stans, der Magdeburger Heinrich Zschokke kam als helvetischer Kommissar – das waren die „Fremden“, die mit Profis besetzt wurden. Drumherum aber vor allem die Nidwaldner selber, die Laien aus dem Volk mit ihrem so stark mit dem Eigenen verwurzelten Dialekt. Die jungen Leute spielten die helvetischen Revolutionäre; die Alten und Frauen samt Kinderschar um Pestalozzi im Frauenkloster spielten die Opfer des Franzoseneinfalls. Und zudem stiegen Tell und Winkelried, die beiden Schweizer „Nationalhelden“, normalerweise auf dem Marktplatz von Stans als lebensgroße Standbilder aufgebaut, von ihren Sockeln herunter und mischten sich kommentierend und interpretierend, auch ironisch und sarkastisch in die Geschehnisse ein. „Theater“, so Louis Naef, „als szenische Spurensuche: Menschen von Nidwalden spielten ihre eigene Geschichte. Und Nidwaldens Geschichte spiegelte sich in den Biographien damaliger Spielerinnen und Spieler“. Ein wirkliches Volkstheater von höchster Qualität – seltsamer Weise bei Bischoff/Brandi nicht einmal erwähnt!
Fazit
„Expertisen des Alltags“ ist vor allem eine faszinierende Monographie über die Theaterarbeit von Dario Fo. Der Sammelband hinterfragt zudem Begriff und Ästhetik des Volkstheaters, skizziert dessen Geschichte und fragt nach einem (möglichen) „sozial-kritischen Volkstheater“ heute. Dabei wird auch das Fernsehen mit seinen Serien einbezogen. Nicht zuletzt ermöglicht der Sammelband einen lebendigen Einblick in die Arbeit der Hochschule Merseburg.
[1] Vergl. die Ausführungen zum Schweizer Landschaftstheater in „Diskussion“.
[2] Forum für Kunst und Kultur e.V.: Die Chroniken von Heersum. Von der Steinzeit zur Sternzeit, 2012
[3] Während ich an dieser Rezension schreibe, bringt der Berliner Tagesspiegel auf seiner Titelseite unter der Überschrift: „Das ist unser Theater. Kinder- und Jugendtheater sind gar keine richtigen Theater? Völlig falsch! In Berlin zeigen fünf Häuser teils seit Jahrzehnten, dass sie die wahren Volksbühnen sind“ (31.1.2015). Dazu gibt es eine Doppelseite mit Berichten und Kommentaren.
[4] Vergl. dazu auch Pfeifer (Etymologisches Wörterbuch des Deutschen): „Landschaft ‚geografisch zusammenhängendes Gebiet mit einem bestimmten Charakter, mit bestimmten Eigenschaften’, auch ‚Einwohnerschaft des Landes, die versammelten Stände eines Landes’“.
[5] Einige wichtige Realisierungen: 1979 (und 1994): „D’Goldsuecher am Napf“; 1982 „Romeo und Julia in Willisau“ nach Gottfried Keller (1991 „Romeo und Julia auf dem Dorfe“); „Elsi die seltsame Magd“ nach Gotthelf, „Katharina Knie“ nach Zuckmayer, „Peter Gynt“ nach Ibsen, „De Wald“ nach Ostrowski, „Frühlings Erwachen“ (Wedekind), „Menetekel“ nach Calderón …
Rezension von
Prof. Dr. Hans Wolfgang Nickel
Institut für Spiel- und Theaterpädagogik der Universität der Künste Berlin
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Es gibt 60 Rezensionen von Hans Wolfgang Nickel.
Zitiervorschlag
Hans Wolfgang Nickel. Rezension vom 02.03.2015 zu:
Johann Bischoff, Bettina Brandi (Hrsg.): Expertisen des Alltags. Versuche über das Volkstheater auf der Bühne, im Fernsehen und Öffentlichen Raum. Shaker Verlag
(Aachen) 2013.
ISBN 978-3-8440-1952-0.
Merseburger Medienpädagogische Schriften Band 8.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/17412.php, Datum des Zugriffs 07.10.2024.
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