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Uwe Peter Kanning: Von Schädeldeutern und anderen Scharlatanen

Rezensiert von Dr. rer. soc. Wolfgang Widulle, 30.09.2014

Cover Uwe Peter Kanning: Von Schädeldeutern und anderen Scharlatanen ISBN 978-3-89967-603-7

Uwe Peter Kanning: Von Schädeldeutern und anderen Scharlatanen. Unseriöse Methoden der Psychodiagnostik. Pabst Science Publishers (Lengerich) 2010. 233 Seiten. ISBN 978-3-89967-603-7. 25,00 EUR.

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Thema und Entstehungshintergrund

Die Soziale Arbeit hat sich in den letzten Jahrzehnten sehr stark von der Psychologie, insbesondere der klinischen Psychologie abgegrenzt. „Therapeutisierung“ wurde als gescheiterte Professionalisierungsstrategie kritisiert (Neuffer 2000), aber auch die psychologische Diagnostik als individualisierend und wenig geeignet für die Soziale Arbeit eingeschätzt. Zudem sind Fachkräfte der Sozialen Arbeit i.d.R. nicht in psychologischer Diagnostik ausgebildet und wenn sie es wären, träten sie in direkte Konkurrenz zu Psychologen – z.B. im Feld der Schul- oder Klinischen Sozialarbeit. „Schuster bleib´ bei deinem Leisten“ – wozu also auf socialnet eine Rezension über ein kritisches Buch zu – noch dazu „unseriösen“ – Methoden der Psychodiagnostik?

Ein paar gute Gründe: Die Diskussion um soziale Diagnose und Diagnostik in der Sozialen Arbeit ist alt und seit langer Zeit aktuell (Geiser 2013, S. 16). Noch immer verfügt die deutschsprachige Soziale Arbeit „nicht über ein tätigkeitsfeldübergreifendes, erfolgreich erprobtes, getestetes und weitgehend konsensfähiges Diagnoseverfahren“ (Heiner 2004, S. 7) wie dies das vom US-Berufs- und Fachverband anerkannte PIE-Modell ist. Mit diesem Desideratum wird die Frage des isolierten Imports, der Nutzung und Einbettung von diagnostischen Einzelmethoden in eine Soziale Diagnostik virulent – für den Import therapeutischer Methoden problematisierten dies Gregusch & Obrecht (2003). Soziale Diagnostik versteht sich als multidimensional und grundsätzlich methodenoffen (Heiner 2004), sind die genutzten Methoden jedoch, wie im vorliegenden Buch beschrieben, fragwürdig oder unseriös, schaden sie Klienten, Institutionen und der Profession Soziale Arbeit. Daher ist der kritische Blick auf unseriöse Methoden der Psychodiagnostik in der Sozialen Arbeit erlaubt und ertragreich – besonders, weil einige der im Buch beschriebenen Methoden nicht auf den ersten Blick als solche erscheinen und sicher auch in der Sozialen Arbeit wohl einige Verbreitung gefunden haben (z.B. die „photographischen“ Ansätze zur Analyse von Körpersprache, vgl.Sollmann 2013, S. 22). Auch sind Fachkräfte der Sozialen Arbeit nach einigen Erfahrungen des Autors gelegentlich deutlich wissenschaftsskeptisch und besonders offen für sog. „alternative“ Methoden, die mitunter ins Esoterische neigen.

Autor

Prof. Dr. Uwe Peter Kanning ist Diplom-Psychologe. Er forscht und lehrt an der Hochschule Osnabrück im Fach Wirtschaftspsychologie. Seine Schwerpunkte sind Personalauswahl, Leistungsbeurteilung, Arbeits- und Kundenzufriedenheit, soziale Kompetenzen, Motivation und Selbstwertmanagement. Er ist ein vielfach ausgezeichneter Dozent und wurde vom renommierten „Personalmagazin“ zu einem der 40 führenden Köpfe im Bereich des Personalwesens gewählt.

In Sachen „kritische Methodenreflexion“ ist Kanning ein hervorragender Lehrer. Mit seinen Publikationen zu sozialen Kompetenzen, Methoden der Verhaltensänderung oder Personenbeurteilung, aber auch mit der von ihm als „Trilogie über die menschliche Einfalt“ bezeichneten Buchreihe ist er besonders für Führungs-, Weiterbildungs- und Personalverantwortliche in der Sozialen Arbeit ein lesenswerter Autor. Der letzte Band „Wenn Manager auf Bäume klettern“ dekonstruiert z.B. Mythen wirkungsloser und fragwürdiger Methoden in Weiterbildung, Coaching und Training, die sich auch in der Sozialen Arbeit einiger Beliebtheit erfreuen – der kritische Blick auf NLP, Outdoortrainings, tiergestützte Verfahren wie „horse sense“ oder die beliebte Aufstellungsarbeit lohnt sich.

Aufbau und Inhalt

Das Buch stellt sechs unseriöse Methoden der Psychodiagnostik vor. Kanning beginnt jeweils mit den Grundbegriffen, der Geschichte und den Protagonisten, erläutert dann die Methode und die diagnostischen Deutungsmuster sowie die Überzeugungs- und Marketingstrategien. Je nach Forschungslage beschreibt er anschließend kritische Forschungsergebnisse. Das Fazit am Kapitelende belegt, warum die kritisierte Methode nicht funktioniert.

In Kapitel 1 – „An ihren Schädeln sollt ihr sie erkennen“ - demontiert Kanning die spätestens seit dem Nationalsozialismus diskreditierte, aber scheinbar wieder in Mode gekommene Physiognomik. Diese erhebt den Anspruch, aus Schädel-, Gesichts- oder Körperform des Analysierten dessen Persönlichkeit zu diagnostizieren. Die Ideen von Gall, Lavater, Huter, Lombroso und Kretschmer werden sehr ausführlich historisch und systematisch rekonstruiert und dargelegt. Für Pädagogen interessant sind die Bezüge zur Elemente-/Vier-Säfte-Lehre von Hippokrates und Galen, die in der Physiognomik Verwendung finden und in der Waldorfpädagogik Rudolf Steiners als Temperamentenlehre eine bedeutsame Basis anthroposophischer Erziehung bilden – die Waldorfgemeinde könnte hier einmal einen ideenkritischen Blick auf einige Grundlagen ihrer Erziehungskunst werfen. Weiter werden die Entwicklung der Physiognomik und ihre aktuellen Protagonisten vorgestellt und deren Behauptungen und Versprechen einer kritischen Überprüfung unterzogen. Bei den Marketingstrategien der Physiognomen findet sich, was sich auch schon bei fragwürdigen Methoden der Weiterbildung zeigte: Vollmundige Versprechungen, bloße Behauptungen, der Verweis auf Tradition, Kritiker, die – eines Besseren belehrt – sich zu Anhängern wandeln und der Verweis auf die vermeintliche Wissenschaftlichkeit der Methode, auf geniale Gründerfiguren oder auf die Selbstlosigkeit der Protagonisten oder deren langjährige Erfahrung. Die Selbstdarstellung der Physiognomik kommt um Aussagen zur nationalsozialistischen Rassenlehre nicht herum, denn sie wird mit ihr identifiziert. Also distanziert man sich von dieser durch den Hinweis auf den „Missbrauch durch die Nazis“, und stellt ihr den „individuellen, wertfreien Ansatz der Psycho-Physiognomik“ entgegen, wie einer der Schädeldeuter das tut (Kanning 2010, S. 62). Aus dem Fazit nur einige besonders augenscheinliche von vielen Gründe für das Nichtfunktionieren der Physiognomik, die viel verspricht und nichts hält: Die Zuordnung von Persönlichkeitseigenschaften zu Hirnarealen ist eine Vorstellung aus der vorwissenschaftlichen Medizin und die Behauptung, diese würden die Schädelform verändern (Druck vom Hirn auf den Schädel mit Dellen und Ausbeulungen) weder medizinisch noch neurowissenschaftlich haltbar – ein selten hanebüchener Unsinn. Die zu beurteilenden Schädelareale sind – wenn auch nicht beim Autor und dem Rezensenten - so doch bei der Mehrheit der Menschen bedingt durch reichliche Kopfbehaarung unsichtbar und wer wollte sich schon für die psycho-physiognomische Analyse den Kopf scheren lassen? Auch die Deutung von Fotos (gerne von Prominenten) ohne Blick auf den Hinterkopf lassen die Psycho-Physiognomik bereits bei oberflächlicher Betrachtung als Pseudowissenschaft erkennbar werden.

Was bleibt nach einigen hundert Jahren Physiognomik? Eine Pseudowissenschaft mit klapprigem Deutungsgebäude in sumpfigem Gelände auf brüchigem Fundament. Dennoch scheint sie Anhänger zu finden: Auch im persönlichen Umfeld des Rezensenten wurde ein junger Mann in der Berufsberatung von einem Psychologen beraten, der Physiognomik verwendete.

In Kapitel 2Schreibe mir ein A und ich sage dir, wer du bist - wird die Graphologie seziert, die trotz aller Ungereimtheiten in Personalauswahlverfahren noch immer Anwendung findet. Kanning macht erst eine wichtige Abgrenzung, die hier erwähnt sein soll: Graphologie hat nichts zu tun mit „Schriftenvergleich“, in dem Schriftsachverständige sich damit beschäftigen, ob zwei Handschriften von derselben Person stammen. Der Rezensent hätte es gelegentlich geschätzt, solche zur Prüfung der studentischen Unterschriften in den Präsenzlisten seiner Vorlesungen nutzen zu können. Aber zurück zur Graphologie – da sie für die Soziale Arbeit weniger relevant scheint, sei die Beschreibung kurzgefasst: Graphologie funktioniert nicht, weil sie viele Dinge nicht berücksichtigt, die zu systematischen Fehlurteilen führen: Die Länge des Texts, das Wissen des Schreibers um die diagnostische Verwendung desselben, die bewusste Verfälschung der Handschrift, die aktuelle Gemütslage des Schreibers, sein Schreibwerkzeug, Papier oder die Unterlage oder auch nur die Tatsache, dass Menschen im 21. Jahrhundert, anders als vor 200 Jahren vorzugsweise am Computer schreiben und in Handschrift sehr viel weniger geübt sind. Ein weiteres Argument, das alle hier vorgestellten Pseudowissenschaften trifft, soll hervorgehoben werden. Die Graphologie gibt eine Vielzahl von Deutungsregeln zu Handschriften an, die teils beliebig sind, teils widersprüchlich. Vor allem aber sind die vielen Regeln in keiner Weise zu einem konsistenten Gesamtbild integrierbar, die Beliebigkeit der Deutung ist vorprogrammiert. Warum Graphologie nicht funktioniert? Die behauptete Spiegelung der Persönlichkeit in der Handschrift ist durch viele Untersuchungen wissenschaftlich widerlegt. In kontrollierten wissenschaftlichen Studien zeigen sich erfahrene Graphologen nicht besser als völlige Laien und das empirische Urteil über die Vorhersagekraft erfahrener Graphologen ist vernichtend. Falls Sie also von Ihrer Berufsberaterin mittels eines graphologischen Gutachtens für das Studium der Sozialen Arbeit als geeignet eingeschätzt wurden, nehmen Sie es als unterhaltsames Gesellschaftsspiel (Kanning 2010, S. 113) und prüfen Sie Ihre Eignung nochmals.

Dass Allein der Glaube zählt – wird in Kapitel 3 Astrologie deutlich. Die Astrologie wird hoffentlich niemand ernsthaft als diagnostische Methode der Sozialen Arbeit in Betracht ziehen, aber als Praktiker sollte man sich darauf einstellen, dass mehr Menschen als man zu glauben geneigt ist, für sich (oder z.B. ihre Kinder) Horoskope von entsprechenden Anbietern anfertigen lassen und auf deren Basis Urteile über sich oder Familienangehörige fällen - wenn auch viele Menschen ihre Horoskope wohl eher mit Augenzwinkern lesen und diese vermutlich nicht viel Schaden anrichten. Der Kauf von sinnlosen und überteuerten Astroprodukten wie z.B. via Telefon- oder webbasierten Beratungen hingegen wird vielleicht eher als Klientenproblem relevant werden – z.B. mit Verschuldung von Jugendlichen, die solchen Produkten aufsitzen. Schlecht, wenn dann auch die beratende Sozialarbeiterin das Astrodata-Horoskop als Basis ihrer Selbstreflexion betrachtet. Daher lohnt es sich, einige Argumente zur Verfügung zu haben, wenn auch der Glaube von Klienten ans Horoskop vielleicht nur in seltenen Fällen getrübt werden kann. Kanning belegt im Kapitel anschaulich, wie hunderte empirischer Untersuchungen aufzeigen, dass man aus den Sternen keinerlei Hinweis auf die Persönlichkeit eines Menschen, seinen Beruf, die Partnerschaft, kritische Lebensereignisse o.ä. ableiten kann. Erschütternd schlecht sind z.B. die Übereinstimmungsraten von Astrologen bei Vorlage gleicher Geburtskonstellationen. Zur völligen Ignoranz gegenüber der Physik, z.B. bei der willkürlichen Auswahl von Himmelskörpern, deren falscher Stellung im All oder den Mutmaßungen über deren Kräften oder Zusammenwirken kommt die Ignoranz gegenüber dem empirisch belegten Scheitern. Kannings Fazit: Zur Unterhaltung ein probates Mittel, zur Diagnose von Persönlichkeiten oder Lebensläufen ebenso gut wie Kaffeesatzlesen (das scheinbar noch niemand als Geschäftsmodell entdeckt hat).

Die Namenspsychologie bezeichnet Kanning in Kapitel 4 als Jenseits von Gut und Böse. Dennoch wendet er sich diesem „intellektuellen Grauen in all seinen Details zu“ (S. 156). Die Namenspsychologie erhebt den Anspruch, aus Namen und deren Buchstaben, denen bestimmte „Energieformen“ zugeordnet sind, Rückschlüsse auf Persönlichkeitseigenschaften, aber auch karmische Ereignisse zu ziehen – was bereits den esoterischen Charakter der Methode entlarvt. Da es um namenspsychologische Angebote still geworden ist (S. 167), überlässt es der Rezensent den Lesern, sich ein Bild zu machen. Kannings Fazit nach der detaillierten Analyse ist auch hier vernichtend: „Wie so viele vor ihr verspricht die Namenspsychologie ohne die geringste Fundierung ihren potentiellen Opfern das Blaue vom Himmel herunter. Was produziert wird, ist Willkür und diagnostisches Chaos.“

Was passiert, wenn die Lieblingsfarbe zum Verhängnis wird, erläutert Kanning in Kapitel 5 Farbdeutung. Nicht bekannt war dem Rezensenten, dass die Lüscher-Farb-Diagnostik ebenfalls ins „Gruselkabinett unseriöser diagnostischer Methoden“ (Kanning 2010, S. 171) gehört. Den Lüscher-Farben-Test hielt er – mangels besserer Informationen – für nicht a priori verdächtig. Auch hier eine Abgrenzung zu Beginn – die Farbdeutung nach Lüscher beschäftigt sich nicht mit der Frage, wie Farben auf uns wirken oder was für Assoziationen sie in uns auslösen, sondern was bestimmte Vorlieben und Abneigungen gegenüber Farben über die Persönlichkeit aussagen. Das Kapitel beginnt, da die Farbdeutung auf den Schweizer Max Lüscher zurückgeht, mit der Beschreibung des Hauptprotagonisten, bevor es auf Methode und Deutungsmuster eingeht. Das Haupteinsatzgebiet ortet Lüscher in der medizinischen und psychiatrisch-psychotherapeutischen Praxis zur Diagnose von Krankheiten oder psychischen Störungen. Weiter sind Online-Tests zur Persönlichkeitsanalyse verfügbar.

Lüscher ordnet Vorlieben für Farben bestimmte Wahrnehmungs- und Denkmuster (beobachtend, aufgeschlossen, kritisch, objektiv), aber auch normative Eigenschaften (pedantisch, oberflächlich, Träumer) zu. In Kombination von vier Farben, Tierkreiszeichen und antiken Elementen konstatiert er den „4-Farben-Menschen“. Bereits dies lässt nach Kanning die Farbdeutung als Pseudowissenschaft erkennen. Auch hier ist die Kritik fundamental: Kanning konstatiert ein veritables Farbchaos. Unklar ist bereits, warum Lüscher vier Farben (gelb, blau, rot, grün) und nicht die drei Grundfarben gelb, blau und rot verwendet. Weiter variiert die Anzahl verwendeter Farben – mal vier, mal 16, mal fünf, mal acht. Schließlich variieren die Farben in der Entwicklung seit den 1940er Jahren noch erheblich: Übereinstimmungen zwischen den verschiedenen Varianten des Tests sind die Ausnahme, nicht die Regel. Bereits dies widerspricht den Gütekriterien der psychologischen Testforschung (S. 183). Wie schon bei anderen Methoden sind die Möglichkeiten an Einzeldeutungen enorm. Einzelne Zeilen, Doppelzeilen, Spalten und Doppelspalten von Farbmustern oder auch deren Spiegelungen lassen sich deuten, ohne Anleitung, wie diese Einzelinformationen in ein Gesamtbild integriert werden sollen. Die Bedeutungen der einmal plötzlich 10 Grundfarben (rot = Triebstärke, grün = Sensibilität) ist trivialen Alltagsattributionen nachempfunden und genügt eher dem gesunden Menschenverstand als einer wissenschaftlichen Persönlichkeitspsychologie. Kannings Urteil über die Farbpsychologie Lüschers liegt gegenüber den vorangegangenen Methoden aber auf einer anderen Ebene, da der Ansatz doch einige wissenschaftliche Ursprünge hat, denn zahlreiche wissenschaftliche Publikation beschäftigen sich mit Lüschers Farbtest. Dennoch schließt Kanning damit, dass das Verfahren „heute international üblichen Standards für psychodiagnostische Methoden bei weitem nicht gerecht wird“ (S. 194), die Farbpräferenzen sich empirisch nicht erhärten ließen und der Flickenteppich diagnostischer Einzelurteile sich zu keinem Gesamtbild formen lässt. Die fehlende wissenschaftliche Fundierung, die handwerklichen Probleme bei der Durchführung, die variierenden Farbtöne oder die riesigen Spielräume zur Deutung lassen nach Kanning nur ein negatives Urteil zu, auch wenn das Verdikt nicht so hart ausfällt wie bei den vorangegangenen Methoden.

Eine Geste sagt mehr als tausend Worte und Körpersprache kann nicht lügen. Dass dem nicht so ist, zeigt Kanning in Kapitel 6 und kritisiert hierbei vor allem das Konzept der Analyse von Körpersprache nach Molcho. Anders als in den anderen Kapiteln beginnt er mit unstrittigen, anerkannten Erkenntnissen zur nonverbalen Kommunikation aus der Sozialpsychologie (Argyle 2005; Forgas 1999), bevor er sich dem ‚ungekrönten König der Körpersprachedeutung‘ Samy Molcho widmet, der seit 1983 mit Büchern, DVDs, Vorträgen und Workshops zum Thema unterwegs ist. Nach kurzen biographischen Ausführungen zu Molcho analysiert er den auch „fotographisches Körperlesen“ (Sollmann 2013) genannten Ansatz, den er als überzogen bewertet: Plausibilität in der Erklärung der Körpersprache, Unmittelbarkeit in deren Verstehen, Pragmatik im Zugang zu Anderen, Selbstsicherheit beim Betrachter und die schnelle Analyse von Interaktionspartnern seien eine Fiktion, wie auch Sollmann kritisiert (Sollmann 2013, S. 23f.). Diese Kritik führt Kanning detailliert, fundiert und mit einer reichhaltigen Portion Sarkasmus zu Molchos populärpsychologisch-trivialen Deutungen, nur zum Beispiel zu nicht überschlagenen Beinen bei Frauen, breitbeinigem Stehen (oder Glatzen) bei Männern oder der Bedeutung des Mittelfingers als Penissymbol – ein wahrer Psychoanalytiker sei an Molcho verloren gegangen. Der ernste Teil der Kritik richtet sich an die verlorene Chance durch diese kurzschlüssigen Interpretationen: Gerade weil Körpersprache ein wichtiger Teil menschlicher Kommunikation ist, sei die pseudowissenschaftliche Deutung derselben durch Molcho und auch weitere Protagonisten (wie z.B. die österreichische „Erfolgstrainerin“ Monika Matschnig (Matschnig 2007a, 2007b), Anm. ww) bedauerlich. Die Kritik im Fazit: Obwohl ausreichend wissenschaftliche Erkenntnisse für eine tragfähige Deutung von nonverbaler Kommunikation vorlägen, erliegen Protagonisten wie Molcho u.a. der Versuchung kurzschlüssiger Deutungen, die bestenfalls Hypothesencharakter haben. Ein spannendes Gebiet, das ernsthafter Gegenstand wissenschaftlicher Betrachtung ist, wird so zur Glaubenslehre reduziert und trivialisiert. Nur eine kleine Ergänzung aus Sicht des Rezensenten. Matschnig konstatiert wie Molcho „Der Körper spricht die Wahrheit“, „keine menschliche Sprache ist so ehrlich wie die Körpersprache“ (Matschnig 2007b, Klappentext), um im Buch auf 192 Seiten dasselbe nochmals zu behaupten (zu jedem Kapitel und Verhaltenskontext ein reich illustrierter „Lügendetektor“) und gleichzeitig das Gegenteil zu trainieren („wie krieg´ ich ihre Telefonnummer, ohne dass sie meine Nervosität merkt“).

Das Kapitel 7Von Verführern und Verführten – Die Psychologie der Scharlatanerie beschreibt die Grundprinzipien pseudowissenschaftlicher Methoden, die handlungsleitenden Regeln der Verführer und sozialpsychologische Deutungsmuster zur Suggestibilität der Adressaten.

Diskussion

Das Buch ist kenntnisreich und ebenso analytisch scharf wie kritisch – es meistert die Gratwanderung zwischen Entsetzen und Sarkasmus über Scharlatanerie und Einfalt einerseits und nüchterner, fachlich fundierter Kritik andererseits. Die Illustrationen, Photos, Schriftproben und Tabellen sind lehrreich und illustrierend. Das Buch ist wie schon „Wenn Manager auf Bäume klettern“ amüsant zu lesen und darüberhinaus eine veritable Schule der Ideologiekritik, an der auch der Rezensent sein wissenschaftlich-kritisches Denken schärfen konnte. Einige Kapitel hätten etwas kürzer ausfallen können, aber, wen die Essenz der Erkenntnisse interessiert, der kann diagonal lesen und die Fazits benutzen. Ich empfehle es Personal- und Führungsverantwortlichen in der Sozialen Arbeit, die mit Methoden der Personenbeurteilung zu tun haben, weiter Fachkräften der Sozialen Arbeit, die bei Klienten oder kooperierenden Fachkräften oder Institutionen pseudowissenschaftliche Methoden wahrnehmen und darauf reagieren möchten. Für das Studium der Sozialen Arbeit können einzelne Kapitel (v.a. Kap. 6 und 7) lehrreich für die Praxis und hilfreich zur Ausbildung einer kritisch-wissenschaftlichen Haltung sein.

Fazit

Schauderhaft-amüsante, lesenswerte Schule in kritischem Denken. Weniger bedeutsam für die Praxis der Sozialen Diagnostik selbst als für die Kooperation mit Klienten, deren Angehörigen und anderen Fachkräften, falls Pseudowissenschaften und Scharlatanerie in Hilfeprozessen Klienten, Angehörige, Mitarbeitende oder Institutionen (be)schädigen. Unverzichtbar für Fachkräfte, die in ideologiebelasteten Kontexten arbeiten und sich argumentativ gegen pseudowissenschaftlichen und esoterischen Unsinn wappnen wollen, und: lehrreich für alle an wissenschaftlicher Argumentation und Ideologiekritik Interessierten.

Rezension von
Dr. rer. soc. Wolfgang Widulle
Hochschule für Soziale Arbeit FHNW, Olten/Schweiz
Institut Beratung, Coaching und Sozialmanagement
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Es gibt 36 Rezensionen von Wolfgang Widulle.

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Zitiervorschlag
Wolfgang Widulle. Rezension vom 30.09.2014 zu: Uwe Peter Kanning: Von Schädeldeutern und anderen Scharlatanen. Unseriöse Methoden der Psychodiagnostik. Pabst Science Publishers (Lengerich) 2010. ISBN 978-3-89967-603-7. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/17420.php, Datum des Zugriffs 20.03.2023.


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