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David Becker: Die Erfindung des Traumas

Rezensiert von JProf. Dr. David Zimmermann, 19.09.2014

Cover David Becker: Die Erfindung des Traumas ISBN 978-3-8379-2396-4

David Becker: Die Erfindung des Traumas. Verflochtene Geschichten. Psychosozial-Verlag GmbH & Co. KG (Gießen) 2014. 2. Auflage. 313 Seiten. ISBN 978-3-8379-2396-4. D: 29,90 EUR, A: 30,80 EUR, CH: 41,90 sFr.

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Thema

David Beckers Band mit dem zunächst irritierenden Titel „Die Erfindung des Traumas“ ist in einer Neuauflage im Psychosozial-Verlag erschienen und hat gleichermaßen seit der Ersterscheinung im Jahr 2006 nicht an Aktualität eingebüßt. Im Mittelpunkt von Beckers Überlegungen stehen schwer traumatisierte Menschen, etwa Opfer von politischer Verfolgung, Folter und erzwungener Migration. Der Mainstream des internationalen Traumadiskurses, so analysiert es der Autor, fokussiere nunmehr auf die betroffenen Individuen und deren so genannte posttraumatische Belastungsstörungen. „Die Erfindung des Traumas“ hingegen lenkt den Blick auf „sozialpolitisch verursachte Traumatisierungen“ (S.8), demnach auf die Rahmenbedingungen hoch beeinträchtigter individueller, familiärer und gruppenbezogener Entwicklungen.

Autor

Becker, Psychologe und Sozialpsychologe, berät primär psychosoziale Projekte in Kriegs- und Krisengebieten. Er ist damit zum Experten für die Traumaarbeit internationaler Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen geworden, betrachtet diese gleichwohl aus einer kritischen Distanz. Seine eigene langjährige Praxis in der Beratung und Therapie von politisch verfolgten Menschen in Chile, teils bereits während der Pinochet-Diktatur, bildet die Reflexionsfläche seiner theoretischen Überlegungen. „Psychisches Leid ist nie unabhängig vom sozialen Kontext zu verstehen und zu behandeln“ (S. 26). Dies erscheint als Kernbotschaft von Beckers Buch.

Aufbau und Inhalt

Die vorliegende Monografie ist in vier Hauptteile gegliedert.

Im ersten Teil, überschrieben mit „Trauma und Bindung“, beschreibt Becker therapeutische Prozesse mit politisch verfolgten Menschen in Chile. Dabei ist es ihm wichtig, dass sowohl die unmittelbare menschliche Beziehung, namentlich die des Klienten zum Therapeuten, als auch die größeren sozialen Rahmenbedingungen Grundvariablen für gelingende therapeutische Prozesse sind. Auch die Analyse gestörter familiärer Interaktionsmodi aufgrund von Verfolgung einzelner Familienmitglieder nimmt Becker sehr intensiv und eindringlich vor.

Bezug nehmend auf Aspekte der griechischen Mythologie gibt Becker im zweiten Teil „Traumatische Prozesse und Gesellschaft“ einen Überblick, wie stark individuelle, langfristige traumatische Prozesse einerseits und gesellschaftliche Erinnerungs- und Aufarbeitungsprozesse andererseits in Verbindung stehen. Im Hinblick auf die deutsche sozialpolitische Realität meint Becker, dass Erinnerung an die deutsche Geschichte und Umgang mit heutigen Flüchtlingen in einem engen Verhältnis zueinander stehen. Ein hochaktueller Gedanke.

Im dritten Teil „Die Erfindung des Traumas“ erneuert Becker seine Kritik am psychiatrischen Modell der posttraumatischen Belastungsstörung. In Erweiterung des psychosozialen Rahmenmodells „Sequentielle Traumatisierung“ von Hans Keilson entwickelt er eine sechsphasige Traumakonzeption, vor deren Hintergrund sich traumatische Prozesse politisch verfolgter und geflüchteter Menschen im gegebenen gesellschaftlichen Kontext nachvollziehen lassen. Die einzelnen Sequenzen werden dabei als kritische Phasen im traumatischen Prozess gekennzeichnet, die spezifische Herausforderungen mit sich bringen. Mit dem Titel „Die Erfindung des Traumas“ kann es, so ist Becker zu verstehen, demnach nicht um eine Fundamentalkritik an jeglicher Traumakonzeption gehen. Die Einengung auf einen individualisierten Traumafolgeverlauf, wie ihn die psychiatrischen Klassifikationen nahelegen, kritisiert Becker in diesem Sinne jedoch als „Erfindung“.

Im letzten Teil „Trauma und kulturelle Differenz“ greift Becker auf seine vielfältigen Erfahrungen in psychosozialen (Hilfs-) Projekten zurück. Es zeigt sich, dass die individuell orientierte, scheinbar unpolitische Hilfe eine Sackgasse auch für die zwischenmenschlichen Aspekte mit sich bringt. Im Rückgriff auf Edward Saids Thesen vertritt er die Ansicht, der individualisierte, pathologisierende Traumadiskurs sei ein Teil kulturalistischer und imperialer Überformung. Die völlig unterschiedlichen Interessen der Betroffenen in den jeweiligen Ländern würden dabei weitgehend ignoriert.

Diskussion

David Beckers Buch stellt einen hoch bedeutsamen Beitrag zur unübersichtlich gewordenen Diskussion um Traumatisierungen dar. Zwar wird mittlerweile auch an anderen Stellen auf die Beziehungs-, teils auch auf die sozialpolitische Komponente von Traumatisierung verwiesen. Dennoch: in dieser Dichte, aufgrund der Fallgeschichten auch emotional, liegen nur wenige Publikationen vor, die die Weiterentwicklung der Traumatheorie und -arbeit so prägen dürften. Beckers Kritik an der Arbeitsweise und Organisationsform internationaler Zusammenarbeit scheint vielfach berechtigt, auch, wenn dies sicher nicht auf jede einzelne Institution zutrifft. Das von Becker weiterentwickelte Modell der Sequentiellen Traumatisierung kann, so sagt es der Autor selbst, auf verschiedene sozialpolitische Rahmenbedingungen übertragen werden. Es bedarf gleichermaßen stets einer intensiven und zeitaufwändigen Analyse der individuellen und sozialen Leidensgeschichte. Geschieht dies, kann nicht mehr per se von posttraumatischen Belastungen gesprochen werden, vielmehr muss die Aktualität der traumatisierenden Realität in den Blick genommen werden.

Fazit

Für Entscheidungsträgerinnen in NGOs und politischen Gremien sollte David Beckers Buch zur Standardlektüre werden. Auch für den großen und wachsenden Bereich der traumabezogenen psychosozialen Arbeit (Therapeut_innen, Pädagog_innen, Berater_innen) bieten Beckers Aussagen viele wichtige Anregungen. Denn sie hinterfragen die Klassifizierbarkeit menschlicher Entwicklung in Folge von Belastungsereignissen, professionelle, hierarchische Denkmuster und insbesondere die meist als unveränderliche Realität hingenommenen Rahmenbedingungen.

Rezension von
JProf. Dr. David Zimmermann
Juniorprofessor für Pädagogik bei Verhaltensstörungen, Leibniz Universität Hannover, Institut für Sonderpädagogik
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Es gibt 2 Rezensionen von David Zimmermann.

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ISSN 2190-9245