Insa Fooken, Gereon Heuft (Hrsg.): Das späte Echo von Kriegskindheiten
Rezensiert von Prof. Dr.med. Dipl.Psychol. Karla Misek-Schneider, 07.08.2015
Insa Fooken, Gereon Heuft (Hrsg.): Das späte Echo von Kriegskindheiten. Die Folgen des Zweiten Weltkriegs in Lebensverläufen und Zeitgeschichte ; [mit fünf Tabellen]. Vandenhoeck & Ruprecht (Göttingen) 2014. 307 Seiten. ISBN 978-3-525-40461-4. D: 29,99 EUR, A: 30,90 EUR, CH: 38,90 sFr.
Thema
Das Buch liefert eine Zusammenstellung wichtiger Beiträge des 2. Internationalen Kongresses „Kindheiten in Europa im II. Weltkrieg“ im Jahre 2013 in Münster/Westfalen. Diese beschäftigen sich mit den lebenslangen individuellen und familiären Folgen und Nachwirkungen des zweiten Weltkriegs und mit den Forschungen, die seit dem ersten Kongress 2005 getätigt wurden. Der Band ist eher für eine breite Leserschaft - von interessierten Laien über psychosoziale Fachkräften bis hin zu WissenschaftlerInnen – konzipiert und möchte die unterschiedlichen disziplinären Perspektiven und Akzentsetzungen auf den Themenbereich vorstellen. So wird aufgegriffen, wie sich Kinderliteratur mit Kriegs- und Verlusterfahrungen beschäftigt oder wie das Thema der sog. transgenerationalen Weitergabe typischer zeitgebundener oder kriegstraumatischer Prägungen in Forschungsstudien untersucht wurde. Über allem steht die Botschaft der HerausgeberInnen, dass die Relevanz der Beiträge und des Themenkreises sich nicht nur aus einer rein europäischen historischen Perspektive ergibt. Vielmehr ist es – angesichts der tagtäglich stattfindenden kriegerischen Auseinandersetzungen, von denen besonders die Zivilbevölkerung betroffen ist – von hoher Aktualität.
HerausgerInnen
Prof.Dr.phil.Insa Fooken war Professorin für Psychologie am Department Erziehungswissenschaft-Psychologie an der Universität Siegen
Prof.Dr.med.Gereon Heuft ist Lehrstuhlinhaber für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie an der Medizinischen Fakultät der Westfälischen Wilhelms Universität Münster.
Entstehungshintergrund und Zielsetzung
Das Buch ist erschienen im Verlag Vandenhoeck & Ruprecht und möchte sensibilisieren für kriegsbedingte psychische, soziale und körperliche Belastungen des zweiten Weltkriegs sowie für mögliche Spätfolgen im Alter. Die HerausgeberInnen haben einen repräsentativen Querschnitt der Beiträge verschiedener Fachdisziplinen, so wie diese beim 2. Internationalen Kongress zu Thema „Kindheiten im zweiten Weltkrieg“ vertreten waren, zusammengetragen. Sie weisen im Vorwort darauf hin, dass – seit dem 1. Kongress zu diesem Thema im Jahre 2005 – das Thema zunehmend mehr von Beratung, Therapie, Bildungsarbeit Seelsorge, Pflege und Hospizarbeit aufgegriffen wurde und auch mehrere wissenschaftliche Studien erfolgt sind, deren Erkenntnisse und Forschungsergebnisse in den Beiträgen vorgestellt werden.
In erster Linie soll diese Kongresspublikation Fachleute und auch Fachkräfte aus der Praxis informieren und sensibilisieren für die Folgen der Kindheitserfahrungen des zweiten Weltkriegs und möchte diese im weiteren anregen und ermutigen, sich in ihren jeweiligen Fächern und Praxisbereichen damit zu beschäftigen. Angesichts der derzeitigen allgegenwärtigen kriegerischen Auseinandersetzungen und den vielen Menschen, die Flucht oder Vertreibung erfahren haben, können aus den gewonnenen Erkenntnissen und Forschungsergebnissen – so hoffen die HerausgeberInnen – Schlussfolgerungen für sekundär präventives Handeln gewonnen werden, um problematische Langzeitfolgen zu verhindern oder zu verringern.
Aufbau und Inhalt
Der Band fasst unterschiedliche disziplinäre Sichtweisen zusammen und lässt sich in sieben Themenbereiche untergliedern:
Im 1. Themenkreis „Fehlende und ferne Väter“ behandeln zwei Beiträge (Fooken und Lieberz) die biografischen Eindrücke und seelischen Auswirkungen in Familien, bei denen die Väter kriegsbedingt fehlten. Beide Beiträge referieren die Ergebnisse qualitativer Studien; so analysiert Fooken Erfahrungen von Töchtern (84 autobiografische Texte von vaterlosen Frauen) und stellt neben negativ erlebten Auswirkungen fest, dass Frauen im Rückblick auch Bewältigungszuversicht und Selbstvertrauen aus dieser schwierigen Familiensituation gewonnen haben und stolz sind, solche Situationen gemeistert zu haben. Liebers verdeutlicht anhand von 2 Fallbeispielen aus der sog. Mannheimer Kohorten Studie („MKS“), dass Vaterverlust bei Söhnen keine nachweisbaren psychophysischen Folgeschäden nach sich ziehen muss, sondern im Kontext verschiedener Einflüsse gesehen und analysiert werden muss.
Im 2. Themenkreis beschäftigen sich die beiden Artikel (Karpenstein-Eßbach und Mikota) mit Kriegs- und Verlusterfahrungen in der Kinderliteratur und in der allgemeinen Literatur. Hier kann sich die interessierte Leserschaft informieren, wie sich zeitgenössische Kinderliteratur mit Kriegsvätern beschäftigt und welche Kraft literarische Beschreibungen in Lyrik oder Drama für Vorstellungen über Grausamkeiten eines Krieges besitzen und für das emotionale Erinnern der Menschheit unerlässlich sind.
„Kriegskindheitserfahrungen als Thema in gesellschaftlichen Institutionen und Diskursen“ ist die Überschrift des 3. Themenkreises. Hier zeigen vier Beiträge (Köster, Erhardt, Leh und Kröger) die Thematisierung und didaktische Präsentation von Kriegserleben und Kriegsfolgen in schulischen und außerschulischen Bildungsbereichen auf. Es werden hier interessante schulische und außerschulische Bildungsprojekte vorgestellt und die emotionale Relevanz von Zeitzeugen, Bildern, Fotos für die Erinnerungskultur betont.
Zeithistorische Besonderheiten und biografische Verwerfungen kommen im 4. Themenkreis in zwei Beiträgen zur Sprache (von der Stein und Hinze). In diesen außergewöhnlich interessanten und kritischen Artikeln wird ein sehr psychologisch/psychoanalytischer aber auch politischer Blick auf das Entstehen und Weiterbestehen von Vorurteilen und Traumata und die Aussöhnung mit eigenem Erleben oder die Vergebung von Tätern geworfen. Es wird darauf hingewiesen, dass ein Focus nur auf Kriegskinder und Kriegsprägungen den Blick verstelle auf aktuelle zeitgeschichtliche und gesellschaftliche Veränderungen, die ständig das Wohlergehen von Kindern bedrohen.
Der 5. Themenkreis „Kriegsprägungen und Transgenerationalität“ befasst sich in drei Beiträgen (Kiess et al., Bohleber, Lamparter und Holstein) mit den Kriegsfolgen und der Weitergabe von schrecklichen und traumatischen Erfahrungen der Kriegsgeneration an die Nachfahren. Hier werden die Ergebnisse größerer Studien vorgestellt und diskutiert, so z.B. der Zusammenhang zwischen dem erinnerten elterlichen Erziehungsverhalten und der politischer Gesinnung und einer rechtsextremer Einstellung (sog. „Mitte-Studien“) oder die Studie mit 64 Zeitzeugen des Hamburger Feuersturms und die Weitergabe dieses Erlebnisses in ihren Familien. Bohleber weist auf die Vorteile aber auch auf die Problematik der Erzählung (Narration) von traumatischen Erlebnissen hin und beschreibt spezifische unbewusste Identifizierungsprozesse, die eine bewusste Auseinandersetzung mit den Erinnerungen oft lange Jahre hemmen.
Spezifische Auswirkungen für Pflegesituationen und Pflegeinteraktionen im Alter werden im 6. Themenkreis in drei Beiträgen (Naechster, Vogel, Wilhelm und Zank) näher betrachtet und anhand anschaulicher Beispiele illustriert und verschiedene Umgangsmöglichkeiten aufgezeigt.
Im 7. Themenkreis geht es in den fünf medizinisch-psychiatrischen Beiträgen (Hirsch, Böwing und Freyberger, Wendt und Freitag und Schmidt, Noll-Hussong, Heuft und Hucklenbroich) um die Ausbildung von psychischen Störungen und Erkrankungen als Folge der Kriegserlebnisse und den sich daraus ergebenden Behandlungsanfragen und Versorgungsaufträge. So weist Hirsch in seinem Artikel auf die Virulenz alter Traumata hin und fordert die Einbeziehung psycho-historischer Aspekte in unser gerontopsychiatrisches Handeln und Denken. Der Zusammenhang von PTSD („Posttraumatic stress disorder“) und gerontopsychiatrischen Symptomen wird eindrücklich und anschaulich in der Analyse zweier Fallbeispielen durch Böwing und Freyberger aufgezeigt. Wendt et al. referieren die Ergebnisse ihrer interessanten Studie (Hamburger Longitudinalen Urbanen Cohorten Altersstudie, „Lucas“) mit 700 TeilnehmerInnen, die einen Zusammenhang zwischen Alter und Ausmaß der späteren psychischen Belastung nahelegen. Der Beitrag von Heuft und Hucklenbroich thematisiert das weitgehende Fehlen von Studien zur Prävalenz von Traumfolgeerkrankungen und der Wirksamkeit von Psychotraumatologischen Verfahren und fordert systematische Forschungen in diesen Bereichen nachdrücklich ein.
Literatur und Quellennachweise finden sich am Ende jedes einzelnen Beitrages. Die HerausgeberInnen haben ein Vorwort verfasst. Beendet wird der Band mit einem AutorInnenverzeichnis.
Diskussion
Der vorliegende Tagungsband weckt mit seinem ungewöhnlichen Titel die Neugier vieler Leser und Leserinnen und diese werden für ihr Interesse nicht enttäuscht; so finden die an Wissenschaft Interessierten aktuelle Studien zur psychischen Verarbeitung und transgenerationalen Weitergabe von Vertreibung, Flucht und anderen kriegsbedingten Schicksalsschlägen oder traumatischen Erlebnissen. MitarbeiterInnen in der Altenpflege und in anderen psychosozialen gerontologischen Praxisbereichen werden neue Blickwinkel und Sichtweisen auf psychische Problematiken und auffällige Verhaltensweisen von älteren Menschen aus der Kriegsgeneration geboten. PsychotherapeutInnen und PsychoanalytikerInnen und andere an Biografien Interessierte können erfahren, wie sich in individuellen Lebensgeschichten und Familientraditionen traumatische und destruktive Erlebnisse wiederfinden und welche positive Kraft hierbei Narrationen und andere Versuche der Sinnfindung entfalten können; über jeden individuellen Unterschied hinweg, findet sich die gemeinsame Neigung von Menschen dem Erlebten einen Sinn zu geben, was als hilfreich, entlastend und tröstlich angesehen wird. Beeindruckend ist weiterhin das Resümee, wie wichtig und unerlässlich emotionale Spuren für das Erinnern auch jüngerer Generationen sind, welchen hohen Stellenwert hierbei die Zeitzeugen, Bilder, Fotos, persönliche oder literarische Erzählungen einnehmen.
Es gibt jedoch auch Themen, die aus Sicht der Rezensentin etwas zu kurz kommen; so finden etwa mögliche positive Auswirkungen von Kriegs- und Nachkriegsgeschehen wenig Beachtung (z.B. die Stärkung von Selbstvertrauen durch die erfolgreiche Bewältigung von Krisen und existentiellen Problemen) oder der Umgang mit und die transgenerationale Weitergabe von Scham und Schuld werden lediglich gestreift.
Es bleibt zum Schluss die Frage, ob etwas fehlt; ja, die Rezensentin wäre für ein Schlusswort der HerausgeberInnen dankbar gewesen, ein Schlusswort, das noch einmal auf die Aktualität des Themas Bezug genommen oder evtl. auch einen kritischen Blick auf bestimmte Aspekte des Themenkreises geworfen hätte. Dies hat stellvertretend Eike Hinze in seinem beeindruckenden Beitrag „Kindheit als Objekt der Zeitgeschichte“ getan, indem er auf S.144 des Buches schreibt: „…Die Beschäftigung mit Kindheiten im Zweiten Weltkrieg hat die Wissenschaft und die Öffentlichkeit sensibilisiert gegenüber der Tatsache, dass Kinder durch gesellschaftliche Katastrophen, wie sie Kriege darstellen, in ihrer Entwicklung schwer beeinträchtigt und traumatisiert werden können, mit lebenslangen Konsequenzen für die seelische und körperliche Gesundheit. Die Fokussierung auf diese Fragestellung sollte aber nicht den Blick dafür verstellen, dass das Wohlergehen von Kindern ständig durch zeitgeschichtliche und gesellschaftliche Veränderungen beeinflusst wird. Die ausschließliche Zentrierung auf die sogenannten Kriegskinder kann auch der Abwehr dagegen dienen, diese Einflüsse angemessen zur Kenntnis zu nehmen. Kinder stellen das schwächste Glied in einer Gesellschaft dar. Ihr Wohlergehen sollte nicht im Wettstreit ideologischer Standpunkte und ökonomischer Interessen untergehen…“
Fazit
Der vorliegende Band bietet für eine breite Leserschaft einen informativen und anschaulichen Streifzug durch die gleichnamige Tagung. Angesichts der bedauerlichen Aktualität von Flucht, Vertreibung und Kriegsfolgen nimmt diese Thematik einen besonderen und relevanten Stellenwert ein. Die Beiträge bilden eine sinnvolle Ergänzung zu der wissenschaftlichen Literatur und den verschiedenen Forschungen über Holocaust Betroffene. Nachfahren der Kriegsgeneration finden in diesem Buch ergänzende wichtige Informationen zur Bewältigung und psychologischer Verarbeitung des Kriegsgeschehens im zweiten Weltkrieg.
Rezension von
Prof. Dr.med. Dipl.Psychol. Karla Misek-Schneider
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Zitiervorschlag
Karla Misek-Schneider. Rezension vom 07.08.2015 zu:
Insa Fooken, Gereon Heuft (Hrsg.): Das späte Echo von Kriegskindheiten. Die Folgen des Zweiten Weltkriegs in Lebensverläufen und Zeitgeschichte ; [mit fünf Tabellen]. Vandenhoeck & Ruprecht
(Göttingen) 2014.
ISBN 978-3-525-40461-4.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/17451.php, Datum des Zugriffs 24.01.2025.
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