Wiebke Scharathow: Risiken des Widerstandes
Rezensiert von Prof. (i.R.) Dr. Gudrun Ehlert, 17.06.2015

Wiebke Scharathow: Risiken des Widerstandes. Jugendliche und ihre Rassismuserfahrungen. transcript (Bielefeld) 2014. 473 Seiten. ISBN 978-3-8376-2795-4. D: 39,99 EUR, A: 41,20 EUR, CH: 52,00 sFr.
Autorin
Wiebke Scharathow (Dr. phil.) ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Pädagogischen Hochschule Freiburg. Sie lehrt und forscht im Arbeitsbereich Sozialpädagogik zu Fragen sozialer Differenz und Ungleichheit.
Entstehungshintergrund
Die Publikation ist die Veröffentlichung der Dissertation von Wiebke Scharathow an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Das Forschungsthema hat sich aus ihrer Tätigkeit in der außerschulischen Jugendarbeit entwickelt: in einem Jugendtreff, in dem verschiedene Projekte und Aktivitäten für Kinder und Jugendliche angeboten werden, hat Wiebke Scharathow sieben Jahre gearbeitet. Dabei wurde der Autorin bewusst, dass Jugendliche mit einem sogenannten Migrationshintergrund in ihrem Alltag vielfältige Erfahrungen mit Diskriminierungen und Rassismus machen und damit sehr vielfältig umgehen (müssen). So gilt ihr Erkenntnisinteresse dem Zusammenspiel von Rassismus und den individuellen Lebenswelten von Jugendlichen.
Aufbau
Die Veröffentlichung umfasst neben der Einleitung und dem Epilog sechs große Kapitel:
- I Verortungen und Perspektiven der Forschungsarbeit
- II Rassismusforschung
- III Theoretische Zugänge und methodologische Annäherungen
- IV Forschungspraxis
- V Jugendliche und ihre Rassismuserfahrungen
- VI Resümee
Inhalt
In der Einleitung skizziert die Verfasserin kurz den Entstehungskontext, das Forschungssetting und die Fragestellungen ihrer Untersuchung. Ziel der Arbeit ist es, „einen differenzierten Beitrag zu Diskursen und Debatten in der Migrationsgesellschaft zu leisten, in denen nicht nur Rassismus ein noch immer unterrepräsentiertes Thema ist“ (S. 10). Sie möchte die Perspektiven und Stimmen der Jugendlichen zu Gehör bringen, denen in den Debatten wenig Aufmerksamkeit zuteil wird. Rassismus als subjektiv bedeutsamer Einfluss von jugendlichen Lebenswelten in Deutschland wird in der gesellschaftlichen Wirklichkeit immer noch ignoriert. Die Verfasserin möchte diese Realität als Teil von gesellschaftlicher Wirklichkeit erkennbar und sichtbar machen und zeigen wie Rassismus als Gesellschaft strukturierendes Ungleichheitsverhältnis analysiert, kritisiert und auch verändert werden kann.
Im ersten Kapitel verortet Wiebke Scharathow ihre Fragestellungen und ihre Untersuchung im Forschungsfeld und im Diskurs über Rassismus. Sie versteht „unter Rassismus ein soziales und gesellschaftliches System von Diskursen und Praktiken der machtvollen Unterscheidung und Kategorisierung von Menschen, mit welchen Ungleichbehandlung und ungleiche Machtverhältnisse legitimiert werden“ (S.37). In ihrem Verständnis von Rassismus orientiert sie sich u.a. an Stuart Hall, Robert Miles, Malcolm Brown und Etienne Balibar.
Im zweiten Kapitel „Rassismusforschung“ thematisiert sie das Verhältnis von Wissenschaft, Wissensproduktion, Bedeutungskonstruktion und Repräsentationen um daran anschließend Rassismus- und repräsentationskritische Perspektiven herauszuarbeiten. Die Verfasserin umreißt hier die Prämissen einer kritischen Rassismusforschung.
Im dritten Kapitel werden die theoretischen Zugänge und methodologischen Annäherungen skizziert. Wiebke Scharathow positioniert ihre Untersuchung im Paradigma der qualitativ-interpretativen Sozialforschung, den Cultural Studies sowie der Kritischen Psychologie.
Im Zentrum des vierten Kapitels steht die „Forschungspraxis“ der Autorin, in die sowohl ihre pädagogischen als auch ihre wissenschaftlichen Interessen einfließen. Im Kontext ihrer pädagogischen Praxis hat Wiebke Scharathow ein Kunstprojekt zu Rassismuserfahrungen begleitet und eine viertägige Forschungswerkstatt konzipiert und aus diesen beiden Projekten, die Daten für ihre qualitative Forschung hervorbringen können. Grundlage für die Auswertung bildet das Datenmaterial aus drei Gruppendiskussionen und zwei Ausschnitte aus Plenumsgesprächen während der Forschungswerkstatt, acht themenzentrierte Interviews mit Jugendlichen, die an der Forschungswerkstatt teilgenommen haben sowie Aussagen aus sechs Kurzinterviews mit Jugendlichen aus dem Kontext des Kunstprojekts. Insgesamt fließen damit Aussagen von 16 Jugendlichenund Heranwachsenden im Alter zwischen 13 und 22 in die Untersuchung ein, von neun weiblichen und 7 männlichen Jugendlichen. Die Auswertung der Daten erfolgt in Anlehnung an ein fallrekonstruktives, sequenzielles Vorgehen nach Gabriele Rosenthal sowie im Rückgriff auf das Kodier- und Analyseverfahren der Grounded Theory nach Anselm L. Strauss und Juliet Corbin.
Im fünften Kapitel „Jugendliche und ihre Rassismuserfahrungen“ werden die Ergebnisse der Untersuchung präsentiert. Vorab betont die Verfasserin, dass die Jugendlichen den Begriff des Rassismus wenig verwenden sondern in der Regel von Diskriminierung sprechen. Beide Begriffe werden von den Jugendlichen weitestgehend synonym verwendet. Die Jugendlichen sprechen über Erfahrungen mit manifestem, offenen Rassismus - latente und subtile, verdeckte Formen verweigerter Zugehörigkeit, rassistischer Zuschreibungen, Herabsetzungen und Ungleichbehandlungen machen jedoch offensichtlich den größten Teil ihrer Erfahrungen mit Rassismus im Alltag aus. Wiebke Scharathow betont, dass sie von Rassismus bzw. Rassimuserfahrungen der Jugendlichen spricht, wenn sich diese in den Schilderungen der Jugendlichen erkennen lassen, auch wenn die Jugendlichen selbst sie in den Erzählungen nicht als Diskriminierung oder Rassismus benennen. Eine Verwendung des Rassismusbegriffs ausschließlich aus der Perspektive der Jugendlichen würde eine begriffliche Ungenauigkeit bedeuten und zu analytischen Verkürzungen führen. Dass die Jugendlichen den Begriff des Rassismus nicht gebrauchen, lässt sich auch als Teil und als eine Konsequenz des Rassismus begreifen. Das Datenmaterial wird dann sehr differenziert mit vielen Zitaten und Beispielen der Jugendlichen und immer wieder mit Rückgriff auf die theoretischen Prämissen unter den folgenden Kategorien ausgewertet: Zugehörigkeitsverhältnisse, rassistische Artikulationen, Rassismus als unlogische Erfahrung, Rassismus als Erfahrung einseitiger Sichtbarkeit, Rassismusverdacht als Rassismuserfahrung, Rassismus als verschwiegene Erfahrung und Rassismus als unsichtbare Erfahrung. Der Verfasserin gelingt es hervorragend die Komplexitäten und Widersprüche der Erfahrungen sowie die unterschiedlichen Deutungs- und Umgangsweisen der Jugendlichen herauszuarbeiten.
Im Resümee (sechstes Kapitel) werden die Ergebnisse auf einer allgemeineren Strukturebene gebündelt. Dabei geht es der Verfasserin um die Strukturen und Verhältnisse, die die Deutungen und Handlungen der Jugendlichen in Situationen rahmen, in denen diese Zuschreibungen, (Nicht)zugehörigkeit und Rassismus erfahren. Auf der Grundlage des Deutungswissens der Jugendlichen manifestiert sich Rassismus für sie in homogenisierenden Vorurteilen mit denen sie als Ausländerin und Ausländer kategorisiert und in der Regel abgewertet und diskriminiert werden. Ein wesentlicher Aspekt dieses durch Scharathow rekonstruierten Rassismuskonzepts ist, „dass mit ihm in erster Linie die interaktionale Ebene von Rassismus bzw. ein individuelles Handeln in den Blick gerät, dessen Begründung auch vornehmlich auf dieser Ebene verortet wird“ (S. 415). Damit wird deutlich, dass historische Entwicklungen und gesellschaftliche Ungleichheitsverhältnisse kaum Bestandteil der Diskurse sind, auf deren Deutungsangebote die Jugendlichen zurückgreifen. Auch auf ein politisiertes Wissen zu Rassismus, beispielsweise aus antirassistischen Bewegungen, greifen die Jugendlichen nicht zurück. Die Verfasserin macht deutlich, dass den Jugendlichen damit ein sich als ungenügend herausstellender Deutungsrahmen zur Verfügung steht. So präsentieren sich die Rassismuserfahrungen der Jugendlichen nicht nur als irritierend und von Unsicherheit gekennzeichnet, sie „präsentieren sich auch als absurde Erfahrungen: als sehr reale Erfahrungen von etwas, das die ihnen bekannten, dominanten Bedeutungskonstruktionen nicht nur nicht zu erklären vermögen, sondern das diesen zufolge gar nicht existiert. Dies wiederum erschwert das Sprechen über Rassismus erheblich“ (S. 416f). Welche Konsequenzen solche (De-)Thematisierungs- und Normalisierungsstrukturen für das Verhalten der Jugendlichen haben, wird unter der Überschrift „Ambivalenter Widerstand in risikoreichen Verhältnissen“ ausgeführt. Die Jugendlichen arbeiten in ihrem Alltag an Bedeutungsverschiebungen, an Perspektivwechseln und an der Veränderung dominanter Selbstverständlichkeiten. Eine rassismuskritische pädagogische Praxis sollte die Thematisierung von Rassismuserfahrungen und das Anklagen von Rassismus ermöglichen. Die Jugendlichen, die an der Untersuchung teilgenommen haben, betonen, dass ihnen der Austausch über Rassismuserfahrungen wichtig ist, wie beispielsweise Samir: „Ich finde das gut darüber zu reden. Wenn man es so für sich behält ist irgendwie voll das komische Gefühl. So dann denkt man die ganze Zeit darüber nach, aber wenn man es erzählt, dann fühlt man sich so frei, dann ist es weg irgendwie“ (S. 435).Wiebke Scharathow fasst in diesem Kapitel abschließend die Notwendigkeit und die Prämissen einer rassismuskritischen und selbstreflexiven pädagogischen Arbeit zusammen. Im abschließenden Epilog lässt sie die Jugendlichen noch einmal zu Wort kommen mit ihren Antworten auf die Frage „Wenn Du irgendwas ändern könntest, hier in der Gesellschaft, was wäre das?“
Diskussion und Fazit
Die Veröffentlichung von Wiebke Scharathow ist sowohl theoretisch als auch empirisch und pädagogisch hoch relevant für die gegenwärtige Auseinandersetzung mit Rassismus in Deutschland. Sie bietet eine differenzierte Aufbereitung der einschlägigen Diskurse, die Lektüre der Auswertung der Aussagen der Jugendlichen gibt einen tiefen Einblick in die Alltäglichkeit von Rassismus in unserer Gesellschaft. Diese Untersuchung ist für die Soziale Arbeit, die sich als Menschenrechtsprofession versteht, als Profession, die den Prinzipien der sozialen Gerechtigkeit und der Menschenwürde verpflichtet ist, von zentraler Bedeutung. Sie ist für Berufspraktiker_innen, Studierende, Lehrende, Eltern, Lehrer_innen und politische Akteure außerordentlich wichtig, um Rassismus zu verstehen.
Rezension von
Prof. (i.R.) Dr. Gudrun Ehlert
Hochschule Mittweida, Fakultät Soziale Arbeit
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