Julia Franz: Intergenerationelle Bildung
Rezensiert von Prof. Dr. Irmgard Schroll-Decker, 03.11.2014

Julia Franz: Intergenerationelle Bildung. Lernsituationen gestalten und Angebote entwickeln. W. Bertelsmann Verlag GmbH & Co. KG (Bielefeld) 2014. 149 Seiten. ISBN 978-3-7639-5365-3. D: 19,90 EUR, A: 20,50 EUR, CH: 28,50 sFr.
Thema
Das Deutsche Institut für Erwachsenenbildung (DIE) beschäftigt sich in seinen Publikationen schon seit zwei Dekaden mit Fragen zur intergenerationellen Bildung, wie Marion Fleige in den Vorbemerkungen zum Buch hervorhebt. Wenngleich die vorausgehenden Beiträge ihr Entstehen sehr verschiedenen Anlässen verdanken, reiht sich der vorliegende Band nahtlos in die Themenreihe ein. Die Aktualität intergenerationeller Bildung wird in der gesellschaftlichen und gesellschaftspolitischen Diskussion zurzeit täglich neu mit Argumenten unterfüttert.
Autorin
Julia Franz hat sich als Forscherin und Praktikerin auf dem Gebiet des intergenerationellen Lernens etabliert. Seit ihrer Mitwirkung in einem von der Katholischen Bundesarbeitsgemeinschaft für Erwachsenenbildung (KBE) und dem Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderten Modellprojekt zur generationenübergreifenden Bildung zur Nachhaltigkeit und ihrer Dissertation hat sie regelmäßig publiziert. Julia Franz hat an zwei Methodenbüchern des wbv-Verlags zur intergenerationellen Bildungsarbeit im Jahr 2009 mitgewirkt.
Entstehungshintergrund
Dieses Buch erscheint in der Buchreihe „Perspektive Praxis“ des Deutschen Instituts für Erwachsenenbildung und ist der Intention gemäß mit verschiedenen Methoden-Kästen, Handlungshilfen und Praxisbeispielen aufbereitet. Die Aufmachung des Buches passt zum angezielten Adressatenkreis: Es handelt sich um Bildungspraktiker, die motiviert sind, sich auf neue Angebote und Formate des intergenerationellen Dialogs einzulassen.
Aufbau
Das Buch gliedert sich in sechs Kapitel, die bereits auf den ersten Blick einen guten Überblick verschaffen. In Erwartung einer Leserschaft, die hauptsächlich erwachsenenbildnerisch-praktische Informationen aufnehmen möchte, um „Lernsituationen gestalten und Angebote entwickeln“ zu können, wie dies im Untertitel formuliert ist, orientiert sich der Aufbau an einer deduktiven Vorgehensweise und stellt allgemeine Klärungen an den Anfang, um danach in die Besonderheiten des intergenerationellen Lernens sowie des generationensensiblen didaktischen Handelns einzusteigen.
Inhalt
Nach den Vorbemerkungen der DIE-Repräsentantin zur Reihe „Perspektive Praxis“ und den Vorzügen dieser Reihe für die Bildungspraktiker, wie z.B. Lektüretipps, Methoden-Kästen, Beispielen und Checklisten, die vom Verlag zum kostenlosen Download zur Verfügung gestellt werden, liefert eine knappe, vierseitige Einleitung die Zielrichtung intergenerationeller Bildungsarbeit, nämlich aus dem Neben- ein Miteinander der Generationen zu initiieren. Dafür präsentiert der Band zahlreiche Ideen, die teilweise bereits einem Praxistest unterzogen waren und die in der Bildungsarbeit Tätige motivieren sollen, neue Lehr- und Lernarrangements auszuprobieren.
Kapitel 2 „Begründungen – Warum intergenerationelle Bildung?“ beinhaltet folgende Unterpunkte
- Gesellschaftliche und soziale Perspektiven (demografischer Wandel, Veränderung des Alters, Miteinander der Generationen, kein „Krieg der Generationen“)
- Bildung und Intergenerationalität
- Herausforderungen und Funktionen intergenerationeller Bildungsarbeit
Die Legitimation intergenerationeller Bildung ist knapp zusammengefasst und beinhaltet bereits erste methodische Hinweise, wie die Themen in Bildungsveranstaltungen aufgegriffen werden können. Das Miteinander der Generationen ist auf die Bereiche Familie, Beruf und Ehrenamt sowie Verein fokussiert. Die martialischen Vorstellungen vom „Krieg der Generationen“ werden mit einem Verweis auf hohe materielle und immaterielle Transferleistungen zwischen den Generationen zurückgewiesen. Intergenerationalität ist gekennzeichnet von wechselseitigen Lernprozessen junger und älterer Generationen. Als Funktionen intergenerationeller Bildungsarbeit definiert Julia Franz die Kompensations-, die Partizipations- und die Bildungsfunktion.
Abschnitt 3 „Bereiche – Felder intergenerationeller Bildungsmöglichkeiten“ differenziert folgende Praxisfelder:
- Zufällige altersheterogene Kurssituationen (implizites Lernen)
- Intergenerationelle Modellprojekte (explizites Lernen)
- Intergenerationelle Angebote (explizites Lernen)
- Intergenerationelles Engagement (implizites Lernen)
- Explizites und implizites intergenerationelles Lernen
Die Praxisfelder werden mit vielen Beispielen konkretisiert, auf mögliche Konfliktfelder wird hingewiesen, neue Begriffe werden definiert. Im letzten Unterpunkt wird für das jeweilige Praxisfeld die vorwiegende Lernform benannt.
Der umfangreiche 45-seitige Abschnitt 4 „Betrachtungen – Systematik intergenerationeller Bildung“ macht die LeserInnen des Buches mit der Vielzahl an Variationen intergenerationellen Lernens bekannt und stellt eine systematische Unterteilung vor. Die Unterabschnitte gliedern sich wie folgt:
- Generationenbegriffe (genealogischer, pädagogischer, historisch-soziologischer Begriff)
- Das Zusammen lernen (voneinander, miteinander, übereinander)
- Die 9-Felder-Matrix intergenerationellen Lernens (genealogisch-voneinander, genealogisch-miteinander, genealogisch-übereinander; pädagogisch-voneinander, pädagogisch-miteinander, pädagogisch-übereinander; historisch-soziologisch-voneinander, historisch-soziologisch-miteinander, historisch-soziologisch-übereinander) mit Nennung von realisierten Beispielformen, Nachschlagetipps und Methoden
- Überlegungen zur didaktischen Gestaltung (Auswahl von intergenerationellen Zielgruppen einschließlich der Zielgruppenansprache; die Begleitung von intergenerationellen Bildungsprozessen und das Explizieren von Generationenperspektiven als Potenzial für Bildungsprozesse)
Das ebenso umfassende Buchkapitel 5 „Befähigungen – Generationensensibles didaktisches Handeln“ stellt didaktische Prinzipien vor, die als Hilfsmittel „Orientierung in der Planung und Begleitung von intergenerationellen Bildungssituationen liefern und die Praxis der Gestaltung von Lernarrangements für verschiedene Generationen erleichtern“ (S. 90). Als Prinzipien werden vorgestellt und mit zahlreichen Methoden illustriert:
- Reflexion, indem Differenzen (historisch-soziologische, familiär-genealogische, in der Lebenserfahrung und den Lebenswelten, im Lernen und im Lernhabitus) sichtbar gemacht werden (z.B. durch soziografische Stellübungen räumlich, durch Symbolisieren anhand von Generationengegenständen)
- Interaktion, indem Gespräche angeregt und Gruppenarbeiten gestaltet werden
- Partizipation, indem eine gleichberechtigte Teilhabe am Lernprozess ermöglicht wird (durch das Aushandeln der Inhalte, durch partizipatorische Methoden)
- Biografie, indem Lernen mit Lebensgeschichten verbunden wird (Selbstreflexion, Narratives und/oder kreatives Arbeiten)
- Sozialraum, indem der Lebensraum als Ressource genutzt wird (als makrodidaktische Planungshilfe und mikrodidaktische Praxis).
Ein knapper Ausblick auf die weitere Notwendigkeit des intergenerationellen Austauschs und auf die bestehenden Forschungslücken in der allgemeinen Didaktik und in den Vernetzungs- und Angebotsstrukturen der Bildungsarbeit schließen das Buch ab.
Diskussion
Der Ausgangspunkt des Buches ist die Vermittlung von anwendungsnahem und transferaffinem Wissen zur intergenerationellen Bildungsarbeit. Dafür aus der Breite der Erkenntnisse empirischer und theoretischer Art diejenigen herauszufiltern, die sich in der Kombination für die Angebotsgestaltung auf Makro- und Mikroebene eignen, ist eine sehr große Leistung. Es ist erstaunlich, mit wieviel Fingerspitzengefühl Julia Franz diese erbracht hat, ohne auf der einen Seite zu plakativ zu werden im Sinne eines „Man nehme“ und andererseits doch verständlich zu bleiben und sowohl Begriffe klar zu definieren, als auch eine Systematik von intergenerationellen Lernformen zu entwickeln. Manchmal verwundert auf den ersten Blick das Auftauchen einer Methodenbeschreibung, bei genauer Betrachtung kann der Zusammenhang nachvollzogen werden. Die Autorin stellt nicht den Anspruch, eine intergenerationelle Didaktik zu entwickeln, weist sehr wohl aber auf ein Desiderat hin. Sie begnügt sich damit, die bekannten didaktischen Prinzipien intergenerationell abzutasten und sie zu nutzen. Die Verfasserin formuliert, ihr gehe es „um die spielerische und reflektierte Integration intergenerationeller Perspektiven in die vielleicht schon bestehende Bildungsarbeit“ (S. 141) und proklamiert, dass „Konzepte von Intergenerationalität“ (S. 140) in die allgemeine außerschulische Didaktik aufgegriffen werden müssen. Existierende Ansätze werden leider nicht zur Kenntnis genommen.
Fazit
Dieses Buch hält, was es verspricht: Es vermittelt Wissen für die Gestaltung von Lernsituationen und für die Entwicklung neuer Angebote intergenerationellen Lernens und gibt zugleich eine Fülle methodischer Vorgehensweisen an die Hand. Darstellung, Schreibstil und komprimierte Präsentation sind auf das Zielpublikum abgestimmt, so dass in der Bildungspraxis Planende, Ausführende und in verschiedener Hinsicht mit der Materie des intergenerationellen Lernens Betraute durchaus ermutigt werden, sich experimentell der intergenerationellen Bildung zu nähern oder sie zu vertiefen. Man kann sich der gesamten Palette der Erkenntnisse zur intergenerationellen Bildung bedienen oder punktuell mit einem ausgewählten Projekt einsteigen. Aus diesem Grund gehört es in die Hände aller gesellschaftlichen Akteure, die den Dialog zwischen den Generationen anstoßen, fördern oder intensivieren wollen.
Rezension von
Prof. Dr. Irmgard Schroll-Decker
Lehrgebiete Sozialmanagement und Bildungsarbeit an der Fakultät Sozial- und Gesundheitswissenschaften der Ostbayerischen Technischen Hochschule Regensburg
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