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Bernhard Stier, Reinhard Winter (Hrsg.): Jungen und Gesundheit

Rezensiert von Prof. Dr. Ulrich Papenkort, 29.12.2014

Cover Bernhard Stier, Reinhard Winter (Hrsg.): Jungen und Gesundheit ISBN 978-3-17-021329-6

Bernhard Stier, Reinhard Winter (Hrsg.): Jungen und Gesundheit. Ein interdisziplinäres Handbuch für Medizin, Psychologie und Pädagogik. Kohlhammer Verlag (Stuttgart) 2013. 424 Seiten. ISBN 978-3-17-021329-6. 59,90 EUR.

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Entstehungshintergrund

Das vorliegende ist das erste Handbuch, ja das erste Buch zur Krankheit und Gesundheit von Jungen überhaupt, zumindest in deutscher Sprache.

Nachdem Krankheit und Gesundheit von Menschen lange Zeit, abgesehen von gynäkologischen Fragestellungen, nur geschlechtsneutral thematisiert worden sind, folgte eine Entdeckung geschlechtsspezifischer Aspekte von Krankheit und Gesundheit erst in jüngerer Zeit. Sie geschah in mehreren Schritten.

Zuerst wurden die geschlechtsspezifischen Aspekte der Krankheit und Gesundheit von Frauen zum Thema erhoben, zusätzlich zu den schon aus der Gynäkologie bekannten geschlechtsspezifischen Krankheiten und Gesundheiten. Dieser Schritt kulminierte 2001 im ersten nationalen, ministeriell verantworteten Frauengesundheitsbericht.

In der Folge der Frauengesundheit wurde die der Männer zum Thema (z.B. Thomas Altgeld, Männergesundheit, 2004; M. Stiehler/T. Klotz, Männerleben und Gesundheit, 2007). Ein entsprechender Bericht erschien erst 2010 und auch nicht im Auftrag eines Bundesministeriums. Der dritte Schritt war weniger geschlechts- als alterspezifisch geprägt. Mit dem Survey der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung und des Robert-Koch-Instituts zur „Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland“ (2008) wurde die Alterslücke zwischen den Kindern und Erwachsenen, zwischen Pädiatrie und (Erwachsenen-) Medizin geschlossen. Geschlechtsspezifische Besonderheiten wurden darin schon hervorgehoben.

Der vorliegende Band fokussiert den fünften Schritt in der Entdeckung geschlechtsspezifischer Aspekte von Krankheit und Gesundheit: Die Jungen rücken in den Blickpunkt der Aufmerksamkeit, sogar noch, was einschlägige Bücher betrifft, vor den Mädchen.

Thema

Thema des Handbuchs sind die Krankheiten und Gesundheit von Jungen. Die Krankheiten werden im Titel, für eine sozialwissenschaftliche und präventive Sichtweise bezeichnend, ausgeblendet. Im Buch selbstverständlich nicht. Der Gesundheitsbegriff der Herausgeber schließt nahtlos an die berühmte Bestimmung der Weltgesundheitsorganisation an, die auch von psychischer und sozialer Gesundheit spricht. Expliziert wird der Begriff der Gesundheit ebenso wenig wie der des Jungen. Bearbeitet wird das Thema Jungengesundheit für „Ärzte, Psychologen, Pädagogen und Sozialarbeiter“ (S. 12), die auch oder ganz besonders für und mit Jungen arbeiten. Die Perspektive der Sozialen Arbeit wird im Untertitel leider nicht genannt. Dort bleibt es bei „Medizin, Psychologie und Pädagogik“.

Herausgeber

Herausgeber sind ein Arzt und ein Pädagoge, die beide für geschlechts- und/oder altersspezifische Besonderheiten der Medizin und Pädagogik ausgewiesen sind. Bernhard Stier, promovierter niedergelassener Kinderarzt hat als Mitherausgeber des Sammelwerks „Jugendmedizin“ (2006) die Lücke zwischen klassischer Pädiatrie und (Erwachsenen-) Medizin geschlossen. Reinhard Winter, von Lothar Böhnisch und Hans Thiersch promovierter Diplom-Pädagoge und zusammen mit Gunter Neubauer, einem der Autoren des Handbuchs, geschäftsführender Gesellschafter des „Sozialwissenschaftliches Instituts Tübingen“ (SOWIT), ist seit der Jahrhundertwende mit Büchern zur Jungenpädagogik („Dies und das! Das Variablenmodell ‚balanciertes Junge- und Mannsein‘ als Grundlage für die pädagogische Arbeit mit Jungen und Männern“, 2001; „Praxis der Jungenarbeit“, 2002; „Jungen“, 2011); „Jungen brauchen klare Ansagen“, 2014), zuletzt auch zur „Jungenpolitik“ (2014), in Erscheinung getreten. Alle drei Autoren sind zusätzlich (Mit-) Autoren von vier bis fünf Beiträgen des Sammelwerks.

Aufbau

Das Handbuch besteht aus neun fachlichen Teilen mit insgesamt 47 Beiträgen von 39 Autoren und einer durchschnittlichen Länge von acht Seiten. Hinzu kommt ein Anhang mit Glossaren zu Krankheiten und zum Genitale der Jungen und Listen zu empfehlenswerter Literatur und zu Adressen und Filmangeboten.

  1. Jungengesundheit im epidemiologischen Zusammenhang
  2. Körperliche und psychosoziale Entwicklung von Jungen
  3. Jungenmedizin
  4. Gesundheitsversorgung von Jungen
  5. Mentale und psychische Jungengesundheit
  6. Soziale Gesundheit
  7. Gesundheitsbildung/-erziehung
  8. Risikoverhalten
  9. Aggression und Gewalt

Die Gliederung des Handbuchs wird im Vorwort der Herausgeber nicht kommentiert und fällt nicht immer trennscharf aus. Die Zuordnung der Beiträge zu den Kapiteln hätte in einer Reihe von Fällen auch anders und, wie ich meine, besser erfolgen können. Entsprechende Hinweise folgen.

Inhalt

1 Jungengesundheit im epidemiologischen Zusammenhang. Die beiden epidemiologischen Beiträge des ersten Kapitels müssen sich aufgrund der (noch) lückenhaften Quellen- und Datenlage mit einzelnen Hinweisen begnügen, der historische (Martin Dinges, Die Gesundheit von Jungen und männlichen Jugendlichen in historischer Perspektive 1780 – 1980) noch mehr als der aktuelle (Eckhard Scholl, Jungengesundheit – Epidemiologie: „Hauptsache gesund“). Als Einführung in das Handbuch sind diese Hinweise aber durchaus hilfreich.

2 Körperliche und psychosoziale Entwicklung von Jungen. Die Hälfte der Beiträge in diesem Kapitel kreist um Fragen der Entwicklung des körperlichen Geschlechts: vor der Geburt (Paul-Martin Holterhus, Männliche Geschlechtsentwicklung), mit der Pubertät (Bernhard Stier, Somatische Entwicklung) und speziell unter neurobiologischem Aspekt (Gerald Hüther, Neurobiologie – das schwache Geschlecht und sein Gehirn).

3 Jungenmedizin. Die ersten beiden Beiträge sind Störungen der Geschlechtsorgane gewidmet (Paul-Martin Holterhus, Störungen der Geschlechtsentwicklung; Bernhard Stier/Peter Schmittenbecher, Jungenspezifische Krankheitsbilder). Die nächsten beiden Texte knüpfen an störbaren Aktivitäten des täglichen Lebens an: der Ernährung (Lars Wöckel, Ernährung, Essgewohnheiten und Essstörungen) und Bewegung (Jörg Schriever, Bewegte Jungen – Gestern, heute, morgen: „Schlappis oder Knackis“). Thematisch hätte der Aufsatz zur Entspannung aus Kap. 5 (Bernd Drägestein, Entspannung und Stressreduzierung) gut dazu gepasst. Der folgende Aufsatz (Frank Dammasch, ADHS – Ruhelose Jungen und ihre frühen Beziehungsmuster) wäre dagegen gut in Kap. 5 aufgehoben gewesen. Die letzten beiden Beiträge des Kapitels sind den Themen der Behinderung allgemein (Jo Jerg, Jungen und Behinderungserfahrungen) und der Krebserkrankung im Besonderen (Henning Ross/Almut Munke, Genderspezifische Aspekte onkologischer Jugendlichenrehabilitation) gewidmet.

4 Gesundheitsversorgung von Jungen. Im vierten werden Strukturen des Gesundheitswesens in den Fokus gerückt: mit externen Blick auf die USA (Donald E. Greydanus, Blick über die Grenzen: Grundsätze der gesundheitlichen Betreuung männlicher Jugendlicher in den USA; Ank V Marcell, Blick über die Grenzen: Gesundheitsvorsorge bei Jungen und jungen Männern in den USA), mit internem Blick auf die deutschen Verhältnisse, was Prävention und Gesundheitsvorsorge (Bernhard Stier, Gesundheitsversorgung – Prävention; Thomas Altgeld, Public Health und öffentlicher Gesundheitsdienst) und was Therapie und Gesundheitsversorgung (Reinhard Winter, Jungenbegleitende Strukturen in der Gesundheitsversorgung; Gunter Neubauer, Patientenkompetenz. Oder: Was müssen Jungen als Patienten wissen und können?) betrifft. Beim Thema Prävention gibt es deutliche Überschneidungen zum Kap. 7.

5 Mentale und psychische Jungengesundheit. Den Beitrag zur Entspannung habe ich schon unter Kap. 3 erwähnt. Zwei weitere Beiträge passen unmittelbar zum Kapitel: einer allgemein (Gunther Klosinski, Jungenpsychosomatik, Jungenpsychiatrie und -psychotherapie) und einer zu den Störungen des Sozialverhaltens (Hans Hopf, Externalisierende Störungen). Der musikpädagogische Aufsatz (Frank Begemann, Künstlerisches Arbeiten: Rap-Workshop mit Jungen) wäre besser in Kap. 7, der kommunikationssoziologische (Olaf Jantz/Christoph Grote, … und Jungen reden doch. Kommunikation und Jungen) in Kap. 6 aufgehoben gewesen.

6 Soziale Gesundheit. Das sechste Kapitel fokussiert kulturpsychologische (Reinhard Winter, Männlichkeit und Jungengesundheit) und sozialpsychologische Aspekte von Gesundheit (Steve Stiehler, Die Bedeutung persönlicher Beziehungsformen in der Lebensbewältigung von Jungen; Wolfgang Settertobulte, Soziale Gesundheit von Jungen), insbesondere auch von sexuellem Verhalten (Silja Matthiesen, Jungensexualität; Reiner Wanielik, Jungen - sexuelle Beziehungen und Orientierungen). Ein interkultureller Akzent (Martin Kohls/Christian Babka von Gostomski, Gesundheit von Jungen mit Migrationshintergrund) beschließt das Kapitel.

7 Gesundheitsbildung/-erziehung. Das Thema des siebten Kapitels wird für die verschiedenen Bildungsorte und Lernwelten von Jungen aufgefächert: die Kindertageseinrichtungen (Gunter Neubauer, Mit oder ohne Geschlecht? Jungenbezogene Gesundheitsbildung und -erziehung in Kindertageseinrichtungen), die Schule (Uli Boldt, „Das Frühstück fällt bei mir zu Hause aus!“ Jungengesundheitserziehung in Schulen; Reinhard Winter/Gunter Neubauer, Jungen – Schule – Gesundheit?), die Kinder- und Jugendhilfe (Uwe Sielert, Jugendhilfe, Jugendarbeit, soziale Unterstützungsangebote; Reinhard Winter, Jungenarbeit und besondere Beratungsangebote für Jungen), den Sport (Nils Neuber/Sebastian Salomon, Jungen, Sport und Gesundheit) und die Medien (Manfred Spitzer, Medienwelten).

8 Risikoverhalten. Das schon sprichwörtliche Risikoverhalten Jugendlicher ist mehrheitlich eines von Jungen. Das achte Kapitel thematisiert verschiedene Formen eines solchen Risikoverhaltens: beim Konsum von Drogen i.w.S. (Helmut Kuntz, Substanzgebrauch - Nikotin, Alkohol, illegalisierte Drogen), im Straßenverkehr (Lu Decurtins, Gaspedal und Männermythen. Bildungs- und Präventionsarbeit mit Jungen und männlichen Jugendlichen zum Risikoverhalten im Straßenverkehr) und beim Medienkonsum (Manfred Spitzer, Riskanter Medienkonsum bei Jungen). Der Intensität des Risikoverhaltens (Jürgen Raithel, Waghalsige Aktivitäten und Mutproben) gilt der letzte Aufsatz des Kapitels.

9 Aggression und Gewalt. Das neunte Kapitel hängt eng mit dem achten zusammen und verlängert es in einem gewissen Sinne. Es geht um aggressives Verhalten (Bernd Drägestein, Aggressionskultivierung; Christian Dietrich, Jungen und Mobbing. Hintergründe und Impulse aus der Praxis), die schon im Kap. 5 bei den externalisierenden Störungen ein Thema war, bis hin zur Gewalt, bei der Jungen als Täter (Bernd Drägestein, Jungen als Gewalttäter) und als Opfer (Hans-Joachim Lenz, Gewalt an Jungen und die kulturelle Verleugnung ihrer Verletzbarkeit) auffallen.

Diskussion

Es ist mir nicht möglich, die einzelnen oder einzelne Beiträge zu diskutieren. Im ersten Fall sind es zu viele, im zweiten finden sich keine, die besonders, ob im positiven oder negativen Sinne, herausstechen. Zur Systematik ist zu sagen, dass sie, wie schon gesagt, nicht immer schlüssig ist. Das ist aber, da man sich bei einem Handbuch als Leser auf die einzelnen individuell interessanten Beiträge konzentriert, von geringerer Bedeutung. Schwerwiegender sind da schon inhaltliche Lücken im Handbuch, zumal sich hinter ihnen blinde Flecken verbergen könnten. Mir scheint, am Untertitel des Buches gemessen, die „Medizin“ im Vergleich zur „Psychologie und Pädagogik“ alles in allem zu kurz zu kommen.

Fazit

Das erste Handbuch zur Gesundheit und Krankheit von Jungen ist, von kleinen Mängeln abgesehen (s. Diskussion), ein gelungener Wurf. Es hält, was ein Handbuch verspricht: kundige und aktuelle Beiträge zu allen relevanten Themen, ergänzt um einen Apparat zum zusätzlichen Nachschlagen.

Rezension von
Prof. Dr. Ulrich Papenkort
Professur für Pädagogik an der Katholischen Hochschule Mainz
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Es gibt 51 Rezensionen von Ulrich Papenkort.

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Zitiervorschlag
Ulrich Papenkort. Rezension vom 29.12.2014 zu: Bernhard Stier, Reinhard Winter (Hrsg.): Jungen und Gesundheit. Ein interdisziplinäres Handbuch für Medizin, Psychologie und Pädagogik. Kohlhammer Verlag (Stuttgart) 2013. ISBN 978-3-17-021329-6. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/17464.php, Datum des Zugriffs 05.11.2024.


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