Nicolas Dierks: Was tue ich hier eigentlich?
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 01.10.2014

Nicolas Dierks: Was tue ich hier eigentlich? Philosophisch denken lernen und nebenbei das Leben verstehen. Rowohlt Verlag (Reinbek) 2014. 256 Seiten. ISBN 978-3-499-62861-0. D: 14,99 EUR, A: 15,50 EUR, CH: 21,90 sFr.
Philosophie ist Lebenskunde
Wer mit sich und der Welt nicht zufrieden ist, wer nach dem Sinn des Lebens fragt, wer an seiner Existenz zweifelt, und erst recht, wer mit sich und der Welt zufrieden ist, muss philosophieren! (Luc Ferry, Leben lernen. Eine philosophische Gebrauchsanweisung, 2009, www.socialnet.de/rezensionen/9345.php). Dabei wächst die Erkenntnis, dass philosophisches Denken und Verorten sich nicht im Elfenbeinturm einschließen dürfe, sondern sich der wichtigsten, lokalen und globalen Frage bemächtigen müsse, dass Gerechtigkeit globale Loyalität sei, oder wenn dies nicht ist, Unrecht ist (Richard Rorty, Philosophie als Kulturpolitik, in: Schnurer, Berliner Literaturkritik, 14.08.2008). Immer schon, seit Menschen denken können, treibt sie die Sehnsucht nach dem „guten Leben“ um. Die Denk- und philosophischen Anstrengungen darüber, was ein gelingendes Leben ausmacht, sind vielfältig, kongruent und kontrovers (www.socialnet.de/materialien/174.php).
Entstehungshintergrund und Autor
Die Hoffnungen, den Passstein für das Streben nach einem guten Leben zu finden, sind eingebunden in den Wertediskurs, wie denn ein so angestrebtes Dasein aussehen solle (Eberhard Straub, Zur Tyrannei der Werte, 2010, www.socialnet.de/rezensionen/10807.php). Dabei weisen ganz unterschiedliche Wegzeichen auf Lösungsansätze und -möglichkeiten hin: erkenntnistheoretische, weltanschauliche und ideologische. Die Versuchungen sind groß, sie als Ordre-Mufti-Vordenken oder als Ratgeber-Literatur zu präsentieren. Beim Nachdenken allerdings darüber ergibt sich, dass es der verstandesgemäßen Anstrengung bedarf, einen eigenen Durchblick zu gewinnen, darüber nämlich, wie „unser Handeln für uns Sinn ergibt und wir die passende Antwort auf die Ansprüche finden, die das Leben an uns stellt“. Damit sind wir bei der faszinierenden wie gleichzeitig irritierenden, versichernden wie verunsichernden Erkenntnis: Philosophisches Denken liefert weder ein Rezept für ein gutes, gelingendes Leben, noch recht es aus, es intellektuell als Theoriesystem, oder gar als Wolken-Kuckucks-Heim einordnen zu wollen; vielmehr „fördert (es) das Erkunden und Entwickeln des eigenen Denkstils“.
Diese „Einladung zum (eigenen) Denken“ (Karl Heinz Bohrer, Selbstdenker und Systemdenker. Über agonales Denken,2011, www.socialnet.de/rezensionen/12903.php) spricht der an der Leuphana-Universität in Lüneburg lehrende Kulturwissenschaftler und Philosoph Nicolas Dierks mit seinen Reflexionen „Was tue ich hier eigentlich?“ aus. Obwohl der Titel etwas reißerisch und „ratgeberisch“ daher kommt, liegt ihnen eine unverzichtbare Erkenntnis und Wirklichkeitsanalyse zugrunde: Der Mensch ist ein Lebewesen, das auf Wandel, Endlichkeit und Wirklichkeit angewiesen ist (vgl. dazu auch: Lawrence LeShan, Das Rätsel der Erkenntnis. Wie Realität entsteht, 2012, www.socialnet.de/rezensionen/13512.php). Es ist der Perspektivenwechsel im philosophischen Denken, dass Körper und Geist (des Menschen) keine getrennten und unabhängig voneinander agierenden Phänomene, sondern ineinander verflochtene Lebensbezüge sind, die freilich nur entdeckt werden können, wenn der Mensch sich der Anstrengung aussetzt und das Abenteuer eingeht, zu denken! Es ist also kein leichtes, Nebenbei-Unternehmen, Existenz zu denken. Weil aber jeder Mensch, wenn er sich auf eigenes Denken einlässt, ein Philosoph ist und philosophieren lernen kann, sollte auch Philosophieren nicht allein in die Sphären des akademischen Tuns abgegeben werden, sondern sich auch als „Nebenbei-Philosophieren“ für dich und mich ermöglichen lassen.
Aufbau und Inhalt
Neben dem Vorwort und Tipps zur weiteren Lektüre gliedert der Autor das Buch in neun Kapitel, die er jeweils mit einem Schlagwort titelt und einem Fragesatz einführt: Im ersten Teil verbindet er den humanen, demokratischen und identitätsbestimmten Anspruch „Selbstfindung“ mit den globalen und virtuellen Wirklichkeiten „4.0“, indem er fragt: „Wie will ich eigentlich leben?“. Dabei greift er auf historisch-philosophische Zeugnisse zurück, und er zieht aktuelle und utopische Orientierungen heran, um auf das Missverständnis zu verweisen, dass eine gelingende Lebensführung nicht mit noch mehr „Effizienz und Optimierung“ zu erreichen sei, sondern nur mit einer neuen Orientierung möglich ist; mit „eine (r) persönliche(n) Routine, unser Leben als Ganzes in den Blick zu nehmen“.
Auch im zweiten Kapitel bleibt Dierks vorerst im Virtuellen: „Mit dem Navi durchs Leben“, oder „Wie viel Religion will ich?“. Die Erfahrung, dass ein unbedingtes Verlassen auf das Wegweisergerät, das durch geheimnisvolle Navigationssysteme gesteuert wird und scheinbar unfehlbar ist, in Sackgassen und in die Irre führen kann, ist Alltags-Aha-Erlebnis. Religiöse, metaphysische und atheistische Regeln bestimmen sowohl „Gottesgewissheiten“ und „Gottesbeweise“, als auch agnostisches und atheistisches Denken. Die Kantische Prämisse, dass zwischen Aufgeklärtheit und Kritikfähigkeit einerseits, und Religiosität andererseits kein Widerspruch besteht, wenn die Grundvoraussetzung stimmt: „Wenn Religion ernsthaft und sinnvoll sein soll, dann muss sie für Menschen grundlegend annehmbar sein, für Menschen, die den Mut haben, sich ihres eigenen Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen“.
Im dritten Kapitel geht es um das „Labyrinth der Lebenswelten“, das sich erschließt mit der Frage: „Wessen Traum lebe ich?“. Es ist die Auseinandersetzung um den Slogan „Lebe deinen Traum“, der sich als Hoffnung, Transzendenz, Täuschung, Manipulation… darstellt. „Wer seinen Traum lebt, der schläft nicht, sondern ist wach“, und er flüchtet sich nicht in verblendete Verirrungen; er bleibt als Individuum wach!
Das vierte Kapitel thematisiert den „Strudel des Zweifelns“ und sucht ihn mit der Frage: „Was weiß ich wirklich?“. Es ist der (gesunde) Skeptizismus, der nach den Wahrheiten und Wirklichkeiten sucht. Dass dabei die irritierende, radikal-konstruktivistische und kybernetische Antwort herauskommen kann – „Wahrheit ist die Erfindung einer Lüge“ – (Heinz von Foerster / Bernhard Pörksen, Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners. Gespräche für Skeptiker, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/13980.php), zeigt ja nur, dass es aufwändig, schwierig und anstrengend ist, nach d e r Wahrheit und d e n Wahrheiten zu suchen. Was ist da zu tun? „Philosophie, verstanden als das skeptische Hinterfragen des scheinbar Unumstößlichen, bringt häufig unerwartete Wendungen“.
Da sind wir angelangt beim „Rausch der Ratschläge“, die allerorten und bei vielen Situationen auf uns hereinprasseln, und bei der Frage: „Wie höre ich auf mich selbst?“. Wir werden, wie bei den meisten anderen Fragen, fündig bei den Denkern in der abendländischen Geschichte. Hören und interpretieren wir deren Suche, lassen sich Momente und Aha-Erlebnisse finden, die sich anfühlen, als kämen sie aus unserem Innersten.
Mit dem sechsten Kapitel nähern wir uns den „Wirren des Wandelns“, also jenem Phänomen, das mit dem transzendentalen „Alles fließt“ die alltäglichen, individuellen, gesellschaftlichen und kulturellen Veränderungsprozesse benennt und die mit der beinahe konträren Frage „Wie bleibe ich dieselbe Person?“ festgemacht wird. Die uralte, immer wieder neue und notwendige Frage „Wer bin ich?“ ist nämlich permanent zu stellen, und es bedarf des Bewusstseins, dass das „Ich“ und das „Selbst“ eine Abstraktion ist.
Auf diesen verschlungenen, holprigen, von Abzweigungen und Richtungsweisern belegten Wegen kommen wir zur „Oase der Illusion“, die mit der Frage verortet wird: „Wie aufrichtig will ich zu mir sein?“. Es sind die wohlfeilen Verführungen und Manipulationen, die Illusionen erzeugen und zu scheinbaren Wirklichkeiten werden lassen. Es sind Versprechungen und Selbsteinschätzungen, die Illusionen und Utopien denkbar machen. „Die Vielfalt unseres Umgangs mit Illusionen… stellt jeden vor die Aufgabe, selbst zu entscheiden, ob er eine Illusion momentan bewahren oder auflösen sollte“.
Das achte Kapitel wird als „Weckruf zur Weisheit“ getitelt und mit der grammatikalisch wie existentiell bedeutsamen Frage „Wie will ich gelebt haben?“ zu beantworten versucht. Es ist die selbstverständliche und gleichzeitig vielfach tabuisierte Auseinandersetzung um unsere Endlichkeit und unseren unabwendbaren Tod. Die Aufforderung, das Sterben zu lernen, wird mittlerweile in zahlreichen populären und fachwissenschaftlichen Werken thematisiert (vgl. die Annotation „Das Ende des Lebens“, 11. 11. 2013, www.socialnet.de/materialien/163.php).
Im neunten Kapitel schließlich wird mit der Frage „Warum brauchen wir andere, um wir selbst zu sein?“ die Notwendigkeit bewusst gemacht, dass wir uns unseres Ich- und Weltbildes sicher sein sollten.: „Wir erkennen uns selbst nicht durch Abschottung und Isolation“, sondern benötigen dafür den Anderen: „Lass mich Ich sein, damit du Du sein kannst!“. Damit aber haben wir den Schlüssel für ein gelingendes, humanes Leben in der Hand: „In dem Maße, wie ich mein Leben zu einem Konflikt zwischen mir als Individuum einerseits und einer konformistischen Gesellschaft andererseits stilisiere, untergrabe ich wesentliche Bedingungen dafür, ich selbst zu werden“.
Fazit
Die zwangsläufig vielfach nur angedeuteten historischen und aktuellen Beispiele und philosophischen Belege zur jeweiligen thematischen Argumentation ergänzt Nicolas Dierks durch weitere, ausgewählte Lese-Empfehlungen und Literaturhinweise. Sie bieten neugierigen Professionellen und wissbegierigen Laien die Möglichkeit, einerseits eigenes Wissen zu vervollständigen und zu bestätigen, andererseits aber auch danach zu fragen, warum andere, wichtige Werke nicht genannt werden. Weshalb allerdings der Autor seine Zugangsweise als „Nebenbei-Philosophieren“ bezeichnet, erschließt sich dem Rezensenten nicht deutlich genug; es sei denn, er meint damit nicht mehr und nicht weniger als „zu leben und dabei zu überlegen, was man will, was man tun soll, was man weiß – und was für einen wirklich zählt“. Diese ethische Herausforderung aber ist nicht „nebenbei“ zu leisten, sondern muss, philosophisch und alltagstauglich, an den humanen Maßstäben der Menschenrechte gemessen werden, wie sie sich in der „globalen Ethik“, der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ (10. Dezember 1948) in der Präambel postulieren: „Die Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnenden Würde und ihrer gleichen und unveräußerlichen Rechte bildet die Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt“.
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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