Anke Kuhls, Joachim Glaum u.a. (Hrsg.): Pflegekinderhilfe im Aufbruch
Rezensiert von Dr. Daniela Reimer, 13.10.2014

Anke Kuhls, Joachim Glaum, Wolfgang Schröer (Hrsg.): Pflegekinderhilfe im Aufbruch. Aktuelle Entwicklungen und neue Herausforderungen in der Vollzeitpflege. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2014. 212 Seiten. ISBN 978-3-7799-2936-9. D: 24,95 EUR, A: 25,60 EUR, CH: 34,60 sFr.
Thema
Die Veröffentlichung beinhaltet neun Kapitel zu verschiedenen Themen der Pflegekinderhilfe. Im Vorwort schreiben die Herausgeber: „Der vorliegende Band greift also die aktuelle Entwicklung in der Pflegekinderhilfe auf und stellt Überlegungen zu den Herausforderungen an, die gegenwärtig und zukünftig auf die Vollzeitpflege zukommen.“ (S. 7).
Herausgeber
- Anke Kuhls (Dipl. Soz.arb./ Soz.päd.; Erziehungswissenschaftlerin MA) ist tätig als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Hildesheim in einem Projekt zum Thema Pflegekinder und Pflegefamilien mit Migrationshintergrund. Außerdem promoviert sie zu einem Thema der Pflegekinderhilfe an der Universität Hildesheim.
- Joachim Glaum (Dipl. Soz.päd.) arbeitet im Niedersächsischen Landesamt für Soziales, Jugend und Familie. In diesem Rahmen hat er maßgeblich an der Entwicklung der niedersächsischen Empfehlungen zur Weiterentwicklung der Vollzeitpflege mitgearbeitet.
- Wolfgang Schröer ist Professor für Sozialpädagogik am Institut für Sozial- und Organisationspädagogik der Universität Hildesheim.
Entstehungshintergrund
Die Publikation ist aus einer Ringvorlesung zur Pflegekinderhilfe entstanden, die im Wintersemester 2012/13 erstmals und in den Folgesemestern fortgesetzt an mehreren niedersächsischen Hochschulstandorten stattgefunden hat (bzw. zum Entstehungszeitpunkt der Rezension weiter fortgesetzt wird).
Aufbau
Die Publikation gliedert sich in ein Vorwort der Herausgeber, sowie in drei Teile, die jeweils mehrere Kapitel enthalten:
- Allgemeine Bestandsaufnahme zu den Bedingungen in der Hilfe zu Erziehung in Vollzeitpflege
- Empfehlungen und rechtliche Rahmenbedingungen
- Bedingungen des Aufwachsens in Pflegefamilie
Am Ende sind auf 24 Seiten unkommentiert Auszüge aus den Niedersächsischen Empfehlungen zur Weiterentwicklung der Vollzeitpflege (2013) abgedruckt.
Inhalte
Im Vorwort konstatieren die Herausgeber einen Aufbruch in der Pflegekinderhilfe, beschreiben die Kernproblematiken des Pflegekinderbereichs und bekräftigen das Ziel der Publikation in der abschließenden Aussage: „Mit diesem Buch wird ein Beitrag geleistet, den zukünftigen Weg mutig weiter zugehen“ (S. 7).
Im ersten Teil liefert Anke Kuhls basierend auf ihren Erfahrungen als Mitarbeiterin in der Pflegekinderhilfe einen Bericht über die Schwierigkeiten und Problematiken des Arbeitsbereichs. Aus diesem formuliert sie die Forderung nach einer standardisierten Methodenentwicklung für die Pflegekinderhilfe.
Annalena Groth und Joachim Glaum beschreiben unter dem Titel „Pflegefamilien – die große Konstante in den erzieherischen Hilfen? Ein Blick in Zahlen und Daten“ aktuelle Entwicklungen unter Bezugnahme auf statistische Daten von Destatis (leider fehlt am Ende dieses Kapitels das Literaturverzeichnis).
Im zweiten Teil berichtet Christian Erzberger über die Entwicklung von Empfehlungen zur Vollzeitpflege in Niedersachsen und den damit einhergehenden Prozess zwischen den Jahren 2001 und 2013.
Diana Eschelbach beschreibt detailliert die rechtlichen Rahmenbedingungen der Vollzeitpflege und wirft abschließend einen knappen Blick auf die rechtlichen Bedingungen in England und den Niederlanden.
Den dritten und umfangreichsten Teil des Bandes eröffnet Klaus Wolf mit einem Beitrag der mit der Frage überschrieben ist „Sind Pflegefamilien Familien oder Organisationen?“ (Teile davon wurden bereits in der ZfSp 4/2012 veröffentlicht). Die Frage wird unter Bezugnahme auf verschiedene Studien zum Pflegekinderwesen und zur Professionalisierungstheorie eindeutig zugunsten der Familie beantwortet. Entsprechende Konsequenzen für die Praxis werden abgeleitet. Da in sämtlichen anderen Kapiteln auf diesen Beitrag verwiesen wird, kann er als Herz des Bandes betrachtet werden.
Yvonne Gassmann berichtet in ihrem Beitrag (überarbeitete Fassung eines anderen Sammelbandbeitrags von 2013) über ihre Longitudinalstudie mit 101 Pflegekindern aus dem Kanton Zürich und zeigt als zentrale Schlussfolgerungen aus der Studie auf, dass die Bedingungen unter denen Pflegekinder aufwachsen individuell sind und entsprechend individuell behandelt werden müssen.
Josef Faltermeier widmet sich dem Thema Herkunftsfamilie und plädiert für eine „Family-Partnership“ als neue Denkfigur in der Pflegekinderhilfe. Ausführlich und anschaulich begründet und erklärt er sein weitreichendes Konzept einer Zusammenarbeit zwischen Pflege- und Herkunftsfamilie.
Elisabeth Helming befasst sich in ihrem Beitrag mit den Geschwistern von Pflegekindern. Unter Bezugnahme auf verschiedene aktuelle Studien arbeitet sie heraus und problematisiert, dass die Trennung von Geschwister bei einer Fremdunterbringung eine „fast akzeptierte Tatsache zu sein scheint“ (S. 169), die in der Regel nicht durch eine fachliche Entscheidung begründet ist, sondern aufgrund von Hindernissen und Sachzwängen erfolgt.
Wolfgang Schröer und Severine Thomas beleuchten abschließend das Thema Beendigung von Vollzeitpflege und Übergänge ins Erwachsenenleben (Teile des Beitrags sind bereits in PFAD 4/2013 erschienen). Sie fordern die Verknüpfung von Jugendhilfeforschung und Jugendforschung, um die veränderten, entgrenzten Bedingungen, in denen Übergänge – auch und besonders aus der Jugendhilfe - stattfinden zu durchdringen und professionelle Hilfestrukturen entsprechend anpassen zu können.
Diskussion
Von einem Sammelband, der „…im Aufbruch. Aktuelle Entwicklungen und neue Herausforderungen …“ im Titel führt, darf erwartet werden, dass er in seiner Gesamtheit
- Verdeutlicht woran der Aufbruch festgemacht wird
- Neues für seine Leserschaft zutage bringt und
- Wegweisendes zum konstatierten Aufbruch beiträgt.
Im Folgenden soll der Frage nachgegangen werden, ob der Band diese Erwartungen erfüllen kann.
a. Woran wird der Aufbruch festgemacht?
Die Herausgeber konstatieren einen Aufbruch der Pflegekinderhilfe in ihrem gemeinsamen Vorwort und erklären, es gäbe „ernsthafte Hinweise, dass das Thema Hilfe zur Erziehung in Vollzeitpflege stärker in den Mittelpunkt der (Fach-)Öffentlichkeit rückt“ (S.5).
Explizit wird auf diese Hinweise nicht weiter eingegangen und es bleibt der Leserschaft überlassen, in den einzelnen Beiträgen nach solchen Aufbruchssignalen zu suchen. Diese gibt es in Form von Anmerkungen in den Einzelbeiträgen durchaus: so schreibt Kuhls in ihrem Beitrag „es wird momentan eine Grundlage für methodisches Handeln geschaffen indem erstmals das Pflegekinderwesen in Deutschland erforscht wird“ (S. 21f). Groth und Glaum zeigen anhand statistischer Daten anschaulich die Ausweitung des Pflegekinderbereichs (v.a. in Relation zur Heimerziehung) auf und in Erzbergers Beitrag wird ein sehr vorbildliches Modell auf Landesebene vorgestellt. Die im dritten Teil behandelten Themen mögen ebenfalls als Hinweise auf einen Aufbruch gewertet werden, weil sie (immer noch) als innovativ für die Pflegekinderhilfe betrachtet werden können (Geschwister, Herkunftsfamilie, Übergang ins Erwachsenenalter).
Unterzieht man diese Aufbruchshinweise einer näheren Betrachtung erscheinen sie in einem möglicherweise etwas kritischerem Licht: natürlich wird das Pflegekinderwesen momentan nicht erstmals erforscht, sondern es gibt eine lange Forschungstradition (vgl. für Forschungsüberblicke Gehres/ Hildenbrand 2008; Reimer 2008), gleichwohl ist eine Ausweitung der Forschungsaktivitäten derzeit feststellbar, vor allem im Bereich der (sozial-)pädagogischen Forschung und Veröffentlichungen (Wolf/ Meysen 2011). Die Zahl der Kinder in Pflegefamilien hat zugenommen wie Groth und Glaum beschreiben, gleichzeitig offenbart der Blick in die Statistiken viel Stillstand, so wird beispielsweise darauf hingewiesen, dass das Migrationsthema (eines der zentralen gesellschaftlichen Themen) im Bereich der Vollzeitpflege kaum Berücksichtigung findet. Ähnlich liegt es mit den im dritten Teil behandelten Themen. In fast allen Kapiteln werden die blinden Flecken der Pflegekinderhilfe deutlich: für die Geschwister, die Herkunftseltern und die veränderten Übergänge ins Erwachsenenalter. Und auch der Hinweis auf einen Aufbruch, der mit den durchaus vorbildlichen niedersächsischen Empfehlungen, erstmals 2003 erschienen, gegeben wird, gilt es differenziert zu betrachten, weist doch die Tatsache, dass nach nunmehr elf Jahren die Empfehlungen nur teilweise umgesetzt werden, eher auf einen schleppenden, vielleicht könnte man sagen halbherzigen Aufbruch hin.
Unterstützt wird dieser Eindruck noch wenn im Vorwort beschrieben wird, dass das Familienbild der Pflegekinderhilfe einem traditionellem Muster folgt, das in den nächsten Jahren einer Bearbeitung bedarf, die aufgeführten – durchaus für die Pflegekinderhilfe kritischen – Punkte wie Erwerbsarbeit von Pflegeeltern (insbesondere Pflegemüttern), Wandel des familiären Zusammenlebens und die religiöse und kulturelle Vielfalt aber im weiteren Band nicht mehr oder nur noch am Rande erwähnt werden.
b. Was bringt der Band Neues für seine Leserschaft zutage?
Die Einzelbeiträge, die sich in ihrer Qualität durchaus unterscheiden, sind größtenteils sehr lesenswert. Der Band bietet eine interessante Zusammenstellung, die es in dieser Form noch nicht gibt. Eingeschränkt wird der Grad an Neuem möglicherweise dadurch, dass mehrere der Beiträge vorher bereits in Auszügen veröffentlicht waren, und es sich bei einem Beitrag um ein Grundlagenkapitel handelt (das sehr lesenswerte Kapitel von Eschelbach).
c. Inwiefern kann der Band Wegweisendes zum Aufbruch beitragen?
Ob und inwiefern der Band zum Aufbruch beitragen kann, hängt davon ab, woran der Aufbruch festgemacht wird. Geht es beim Aufbruch um eine Weiterentwicklung der Praxis, kann das niedersächsische Beispiel als Vorbild für andere Bundesländer dienen und die im dritten Teil skizzierten Themen können beispielhaft als Herausforderungen für die Weiterentwicklung der Praxis angenommen werden. Geht es beim Aufbruch um die wissenschaftliche Begleitung der zahlenmäßigen Ausweitung des Pflegekinderbereichs, kann der Band Hinweise geben auf bisher nicht erforschte Themen, wie sie beispielsweise im Vorwort erwähnt werden (Migration, Erwerbstätigkeit und Pflegeelternschaft, familiärer Wandel).
Fazit
Der Band enthält für Praktiker und Theoretiker der Pflegekinderhilfe interessante und anregende Einzelbeiträge. Wünschenswert wäre aus der Sicht der Rezensentin eine stärkere Rahmung durch die Herausgeber gewesen.
Literatur
- Gehres, Walter; Hildenbrand, Bruno (2008) Identitätsbildung und Lebensverläufe bei Pflegekindern. Wiesbaden
- Reimer, Daniela (2008) Pflegekinder in verschiedenen Familienkulturen. Belastungen und Entwicklungschancen im Übergang. Siegen
- Wolf, Klaus; Meysen, Thomas (2011) Was tut sich im Pflegekinderwesen und in der Pflegekinderhilfe? In: Forum Erziehungshilfen, 4/2011, 17.Jg., S.196-202
Rezension von
Dr. Daniela Reimer
HAW Dep. Soziale Arbeit, Institut für Kindheit,Jugend und Familie
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Es gibt 3 Rezensionen von Daniela Reimer.
Zitiervorschlag
Daniela Reimer. Rezension vom 13.10.2014 zu:
Anke Kuhls, Joachim Glaum, Wolfgang Schröer (Hrsg.): Pflegekinderhilfe im Aufbruch. Aktuelle Entwicklungen und neue Herausforderungen in der Vollzeitpflege. Beltz Juventa
(Weinheim und Basel) 2014.
ISBN 978-3-7799-2936-9.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/17472.php, Datum des Zugriffs 10.12.2023.
Urheberrecht
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