André Jacob: Interaktionsbeobachtung von Eltern und Kind
Rezensiert von Prof. Dr. Margarete Imhof, 14.07.2015

André Jacob: Interaktionsbeobachtung von Eltern und Kind. Methoden - Indikation - Anwendung. Ein Praxisbuch. Kohlhammer Verlag (Stuttgart) 2014. 150 Seiten. ISBN 978-3-17-023942-5. 34,99 EUR.
Seit Erstellung der Rezension ist eine neuere Auflage mit der ISBN 978-3-17-030911-1 erschienen, auf die sich unsere Bestellmöglichkeiten beziehen.
Autor
Der Autor ist Diplompsychologe und wissenschaftlicher Leiter und die Co-Autorin ist Mitarbeiterin an der Arbeitsstelle Hochbegabung an der Psychologischen Hochschule Berlin.
Thema
Das Buch versteht sich als Handreichung für diagnostische Situationen, in denen die Beobachtung von Eltern-Kind-Interaktionen relevant ist, wie z.B. in der psychologischen oder in der psychiatrischen, aber auch in allen anderen Beratungsstellen. Der Autor möchte mit der Publikation eine Handreichung für die Beobachtung von Eltern-Kind Interaktionen bereitstellen. Diese Beobachtung wird oft gefordert, z.B. im Rahmen von Gutachtenerstellung oder Beurteilung von Therapie-Evaluation, ohne dass jedoch die geeigneten Instrumente ökonomisch und übersichtlich zugänglich wären.
Aufbau
Das Buch hat drei Teile.
- Der erste Teil führt knapp in Theorie und Methodik der Beobachtung, insbesondere der Eltern-Kind Interaktion ein.
- Im zweiten Teil werden standardisierte interaktionsdiagnostische Verfahren in Steckbriefen vorgestellt.
- Der dritte Teil widmet sich der Praxis der Interaktionsbeobachtung. Es werden spezielle Fragen des Settings behandelt, Vorschläge zur Interaktionsbeobachtung für verschiedene Altersgruppen und diagnostische Fragestellungen in unterschiedlichen Anwendungsfeldern gemacht.
Im Anhang werden relevante Instrumente, Checklisten, Beobachtungskategorien und Beurteilungsskalen in Gänze für die Hand des Praktikers abgedruckt.
Inhalt
Inhaltlich beschäftigt sich der Teil I mit den Herausforderungen der Beobachtung von Eltern-Kind-Interaktion und der Frage, welches die angemessenen Indikatoren zur Beschreibung der Qualität und Funktionalität von Beziehungen sind. Es wird dabei schon deutlich, dass je nach theoretischer Zugangsweise sowohl Inhalt als auch Form bzw. Auflösungsgrad der Beobachtung variieren. Zudem wird auch die Bedeutung der unterschiedlichen Perspektiven (Eltern, Kind, Eltern-Kind und elterliche Beziehung) herausgearbeitet. Eine knappe Einführung in die Methodik der Verhaltensbeobachtung reißt Themen wie Beurteilungseffekte, Gütekriterien, methodischen Aufbau von Beobachtungsverfahren und Skalenniveau an. Die Ausführungen zu den verschiedenen Perspektiven der Interaktionsbeobachtungen sind informativ und entwickeln überzeugend, dass der Praktiker im konkreten Fall seine Entscheidungen gut begründen und reflektieren muss (Welche Perspektiven sind für die jeweilige diagnostische Fragestellung wichtig? Welcher Auflösungsgrad für die Indikatoren ist erforderlich?). Der methodische Teil ist kaum gelungen. Hier wäre ein Verweis auf spezielle Literatur sinnvoll gewesen; denn gerade so wichtige Kapitel wie Beurteilungseffekte und Beobachtungstendenzen sind nicht erschöpfend durch eine Stichpunktliste zu behandeln. Auch die Darstellung der Gütekriterien ist dürftig, so dass kaum deutlich wird, welchen theoretischen und vor allem praktischen Sinn es gibt, auf diese zu achten. Auch der Hinweis darauf, dass Interaktionsbeobachtung mithilfe von Videoaufzeichnungen durchgeführt werden sollte, löst das Dilemma von methodischen Fehlentscheidungen zu Sampling-Verfahren, Gütekriterien, und der Auswahl angemessener Kategorien zur Beobachtung nicht auf.
Der Teil II enthält eine Verfahrensübersicht in Form sowohl ausführlicher als auch kurzer Steckbriefe. Insgesamt elf Verfahren werden ausführlich tabellarisch vorgestellt und erlauben dem Leser eine schnelle Orientierung. Es werden Autoren und Quellen genannt, das Setting der Beobachtung, ggf. Skalen und Kategorien, Altersgruppe, für die sich das Instrument eignet, Perspektiven der Beobachtung, sowie Hinweise zur Praktikabilität und zur Anwendung. Weitere neun Verfahren, vorwiegend aus dem anglo-amerikanischen Raum, werden in kurzgefassten Steckbriefen vorgestellt. Etwas befremdlich ist, dass die Gütekriterien der Instrumente nicht konsequent besprochen werden. Abschließend bietet der Autor noch eine synoptische Verfahrensbeurteilung an.
Im Teil III erläutert der Autor zum Thema Praxis der Interaktionsbeobachtung relevante Punkte der Durchführung, z.B. Settings, Instruktion, Auswertungshinweise sowie Fragen der Kommunikation von Ergebnissen. In diesem Teil erarbeitet der Autor Vorschläge zur Frage, welche der Verfahren sich für spezifische Fragestellungen eignen, z.B. Interaktionsbeobachtung bei Fragen zur elterlichen Erziehungsfähigkeit, Beobachtungen im Rahmen von klinischen Diagnose-Erstellung bei Regulationsstörungen, bei kommunikativen Schwierigkeiten oder Störungen des Sozialverhaltens. Für verschiedene Altersstufen, Schweregrade und diagnostische Fragestellungen diskutiert der Autor noch einmal die Brauchbarkeit und potentielle Aussagekraft der vorgestellten Verfahren, einzeln oder auch in Kombination mit anderen Verfahren. Je nach Untersuchungsanlass lässt sich mit den Verfahren spezielle Information für die Diagnose-Erstellung zusammen tragen. Dieser Teil ist durchaus informativ, weil der Anwender in strukturierter und kritisch kommentierter Form Hinweise darüber erhält, wie die Interaktionsbeobachtung in diesem Fall zu handhaben ist. Sorgfältige Hinweise gibt der Autor auch dazu, wie die Settings hergestellt werden sollen, in denen die Beobachtungen durchgeführt werden. Er zeigt weiter auf, wie eine respektvolle und kooperative Haltung gegenüber den Personen, die beobachtet werden, realisiert werden kann. Da die zentralen Instrumente im Anhang vollständig abgedruckt sind, kann sich der Praktiker ohne Umstände daran orientieren und die eigene Beobachtung planen. Insgesamt irritiert an diesem Teil, dass Beobachtungsfehler und Beurteilungstendenzen nicht diskutiert werden. Die Darstellung unterstellt, dass der Diagnostiker stets treffsicher sein Urteil fällt. Völlig unverständlich ist der Hinweis, dass man bestimmte Verfahren einsetzen könnte, „ …wenn man keinen besonderen Wert auf Gütekriterien …“ (S. 68) legt. So ein Gedankengang in einem Diagnostik-Handbuch scheint mir unangemessen und nachlässig.
Diskussion
Die Stärken des Buches bestehen darin, dass der Praktiker in der Diagnostik sich darin kompakt zu dem Feld der Eltern-Kind Interaktionsbeobachtung informieren kann. Die Beispiele und Szenarien sind praxisnah beschrieben und diskutiert, die Instrumente sind anschaulich beschrieben und zum Teil auch mitgeliefert. Die methodischen Grundlagen der Beobachtung sind knapp und unsystematisch zusammengetragen. Diese Passagen bleiben abgekoppelt von den praktischen Hinweisen.
Sprachlich hätte der Text sicher gewonnen, wenn er noch einmal überarbeitet worden wäre. So scheinen mir an einigen Stellen die Begriffe Beobachtung und Beurteilung verwechselt oder zumindest nicht genau abgegrenzt zu sein, was für eine diagnostische Handreichung aber kritisch wäre. An einigen Stellen werden Fachbegriffe, vor allem methodische Fachbegriffe, ohne Begründung und weitere Erklärungen eingeführt. Eine konsequentere, weniger prätentiöse Sprache hätte der Handreichung und deren praxisnahem Anliegen gut getan. Auch die konsequente Ansprache der Leserinnen und Leser in der weiblichen Form ist am Ende nicht mehr fortschrittlich, sondern wirkt befremdlich.
Fazit
Insgesamt herrscht trotz einiger Einwände der Eindruck vor, dass Diagnostiker und Diagnostikerinnen in der Praxis in diesem Buch schnell die Orientierung finden, die sie suchen und dass sie differenziert und fundiert informiert werden.
Rezension von
Prof. Dr. Margarete Imhof
Universität Main, Psychologisches Institut, Psychologie in den Bildungswissenschaften
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