Ariane Gernhardt, Rita Balakrishnan et al. (Hrsg.): Kinder zeichnen ihre Welt
Rezensiert von Prof. Dr. habil. Ruth Hampe, 07.01.2015

Ariane Gernhardt, Rita Balakrishnan, Heike Drexler (Hrsg.): Kinder zeichnen ihre Welt. Entwicklung und Kultur.
verlag das netz GmbH
(Kiliansroda) 2014.
111 Seiten.
ISBN 978-3-86892-087-1.
D: 16,90 EUR,
A: 17,40 EUR,
CH: 24,50 sFr.
DIN A4-Format. Mit vielen farbigen Abbildungen.
Zielgruppe und Thema
Das vorliegende Buch richtet sich sowohl an pädagogische Fachkräfte als auch an Eltern, um die Beschäftigung des Malens und Zeichnens von Kindern im Vorschulalter besser und vorurteilsfrei zu verstehen. Es wird besonders der kulturelle Faktor in der Gestaltung ihrer Lebenswirklichkeit und Lernumwelt reflektiert, d.h. hinsichtlich von Unterschieden bezogen auf die kulturelle Herkunft von Kindern in der Wahl von Motiven, der Darstellung der eigenen Person als auch der Familie. Ein Verstehen der Kinderzeichnungen in ihren kulturellen Besonderheiten angesichts der Zunahme von Migrationskontexten und aus ihren situativen, prozesshaften Anlässen mit den Kommentaren der Kinder steht im Vordergrund.
Entstehungshintergrund und Aufbau
Das Buch ist in Kooperation zweier Forschungsgruppen der Universität Hannover und Osnabrück entstanden und gliedert sich nach Beiträgen zu folgenden Themenschwerpunkten:
- Zugänge zur Kinderzeichnung
- Kindliches Zeichnen als Bildungsauftrag
- Kinderzeichnungen im Kulturvergleich
- Die Kinderperspektive: Was teilen und Kinder in ihren Bildern mit?
- Ausblick
Inhalt
In dem Zusammenhang werden Zugänge zur Kinderzeichnung ausgehend von der Entwicklungspsychologie, von ihrer psychologischen als auch pädagogischen Nutzung, im Rahmen von Bildung und Kultur hin zu praktischen Anwendungsfeldern in der subjektiven Vermittlung des kindlichen Erlebens in der Lebensumwelt erörtert. Dies wird mit vielen Bildbelegen zum besseren Verstehen der Kinderzeichnungen unterstützt.
In dem einführenden Kapitel gibt Hartmut Rübeling einen Überblick über das Verständnis und den Gebrauch der Kinderzeichnung in ihren historischen Anfängen und den aktuellen Anwendungen. Einhergehend mit der Ausrufung des Jahrhunderts des Kindes durch Ellen Key rückte Ende des 19. Jahrhunderts international der bildnerische Ausdruck des Kindes ins Zentrum des Interesses. Die Ansätze der Reformpädagogik in der Wende zum 20. Jahrhundert haben zu einer zunehmenden Wahrnehmung der kindlichen Kreativität als eigenständigen Ausdruck beigetragen. Das Anlegen von Sammlungen zur Kinderzeichnung wie von Georg Kerschensteiner u.a. und deren Ausstellung im Museum hat dies weitergehend unterstützt. Dem folgend wurden Intelligenztests entwickelt, wie von Florence Goodenough als „Draw-a-Man-Test“, der in der psychologischen Diagnostik später als Schuleignungstest, eingeführt von Hermann Ziller, Verwendung fand. Die vielschichtigen konfliktträchtigen Aspekte, die damit einhergehen, werden prägnant herausgestellt. Auch folgenschwere Fehleinschätzungen der Kinderzeichnung bezogen auf den Verdacht des sexuellen Missbrauchs werden erörtert und im Kontext kultureller Besonderheiten bei Kindern mit Migrationshintergrund reflektiert. In der Hinsicht wird herausgestellt, dass Kinderzeichnungen ohne Kenntnisse der normalen Zeichenentwicklung, der Einbeziehung des kulturellen und biographischen Kontextes eines Kindes kaum zu verstehen sind und auch keine dezidierten Aussagen über die Intelligenz oder auffällige Persönlichkeitszüge geben. Von daher wird die Verwendung der „Mensch-Zeichnung“ zur Beurteilung des Entwicklungsstandes in Frage gestellt. Dagegen wird die Entwicklungsförderung durch Zeichnen und Malen als ein Aspekt der ästhetischen Bildung besonders herausgestellt.
In den folgenden beiden Beiträgen des Kapitels von Ariane Gernhardt und von Rita Balakrishnan zusammen mit Heike Drexler werden die Entwicklung des kindlichen Zeichnens sowie individuelle Entwicklungsverläufe im Vergleich zweier Jungen mit vielen Bildbeispielen anschaulich dargelegt, und zwar einhergehend mit der Reflektion biographischer und kultureller Besonderheiten.
Im Kapitel zum kindlichen Zeichnen als Bildungsauftrag mit Beiträgen von Hartmut Rübeling und Elfriede Billmann-Mahecha wird die unterschiedliche Alltagskultur des Zeichnens und Malens in westlichen und nicht-westlichen Kulturen exemplarisch problematisiert. In dem Zusammenhang wird auf Lehrpläne Bezug genommen, denen zufolge das Zeichnen unterschiedlichen Setzungen unterliegt wie beispielsweise bezogen auf die Volksrepublik China oder in bäuerlichen Gemeinschaften Zentralafrikas. In den Bildungsplänen wird Zeichnen und Malen als Bausteine ästhetischer Bildung gefordert. In den Bildungsplänen der einzelnen Bundesländer gibt es unterschiedliche Aussagen zur Umsetzung zum Bereich Zeichnen und Malen, und zwar bezogen auf konkrete Aussagen über die Materialausstattung. In der Zusammenstellung der unterschiedlichen Bildungs- und Orientierungspläne wird ein Überblick vermittelt mit den entsprechenden Webangaben. Hervorgehoben wird die Wertschätzung des kindlichen Gestaltens in den meisten Bildungsplänen, insbesondere in dem Bildungsplan von Brandenburg bezogen auf „Fünf goldene Regeln“ der Akzeptanz des kindlichen Ausdrucks.
Mit dem Kapitel zu Kinderzeichnungen im Kulturvergleich mit Beiträgen von Heidi Keller, Ariane Gebhardt und Rita Balakrishnan wird auf kindliche Lernumwelten bezogen auf den ökosozialen Kontext, die Sozialisation und Bildung in Beziehung zur Familie im Rahmen des kulturellen Modells eingegangen. Das kulturelle Milieu wirkt unterschiedlich auf das Kind, und es gilt eine vorurteilsfreie Akzeptanz von Andersartigkeit wahrzunehmen. Ob in einer dörflichen Gemeinschaft einer kamerunischen Bauernfamilie im Vergleich zum westlichen Mittelschichtkontext aufgewachsen, werden dem Kind unterschiedliche kulturelle Modelle mit entsprechenden Vorstellungen vom Kind angeboten. Weiterhin wird angemerkt, dass ein überwiegender Anteil von Migranten in Deutschland aus ländlichen Regionen kommt. Im Hinblick darauf werden diese kulturellen Prägungen in Relation zu Kinderzeichnungen thematisiert. Die Frage nach der Zeichnung von sich selbst und der eigenen Familie mit unterschiedlichen kulturellen Kontexten zeigt Differenzen auf, und zwar bezogen auf das Größenverhältnis der Familienmitglieder, die Binnenstrukturierung u.a. angesichts eines anderen Selbst-Erlebens und in der Beziehung zu anderen. Auch die Stellung des Einzelnen in der familiären Gemeinschaft findet seinen Ausdruck in der Kinderzeichnung und kann unter Umständen zu Fehldeutungen führen. Dies zeigt die Untersuchung zu Motiven bei Kindern mit und ohne Migrationshintergrund – auch im Kontext gesellschaftshistorischer Veränderungen. Prozentual wird ein Überblick über die beliebteste Motivwahl von Kindern mit türkischem Migrationshintergrund und von deutschen Kindern dargelegt sowie kritisch reflektiert. Zusammenfassend ist auffallend, dass sich die Motivwahl kulturell als auch zeitgeschichtlich voneinander unterscheidet.
Im Kapitel zur Kinderperspektive mit Beiträgen von Rita Balakrishnan, Heike Drexler, und Elfriede Billman-Mahecha werden Typen von Kinderzeichnungen vorgestellt mit entsprechenden Bildbeispielen. Es wird unterschieden nach drei Typen:
- einfachen Darstellungen,
- Beschreibungen von Weltwissen und nach
- Erzählbildern.
Auffallend ist, dass Kinder mit 4;4 Jahren am häufigsten einfache Darstellungen zeichnen, denen die beiden anderen Typen mit geringem Abstand folgen. Mit zunehmendem Alter kommt es zu einer Verschiebung der Verteilung, so dass mit 5;7 Jahren die Erzählbilder die größte Gruppe bilden, gefolgt von Beschreibungen zum Weltwissen und am seltensten einfache Darstellungen. Dies verweist auf unterschiedliche Aspekte eines kindlichen Weltverstehens und auf das kommunikative Moment in der Kinderzeichnung, das andere Zugänge zum Kind erschließen lässt.
Im Hinblick darauf untersucht Heike Drexler Erzählbilder von Kindern, indem sie diese in ihren Facetten prozesshaft dokumentiert. Die Entwicklung der Erzählfähigkeit über die Kinderzeichnung wird bei Vorschulkindern herausgearbeitet. Weiterführend geht sie auf die Bedeutung der Zeichnungen als Gesprächsanstoß ein. Die Kinderzeichnungen bieten die Möglichkeit eines sozial-emotionalen Austausches bzw. verweisen darauf, wie Bildinhalte als subjektiver Ausdruck des Kindes zu verstehen sind. Dazu bietet ein Fallbeispiel einen eindrucksvollen Beleg, wenn auch zu respektieren ist, dass nicht jedes Kind über seine Bildinhalte direkt Auskunft geben möchte.
Was die Achtsamkeit im Umgang mit der Deutung von Kinderzeichnungen betrifft, problematisiert Elfriede Billmann-Mahecha die Kontextfaktoren bezogen auf den Verdacht auf sexuellen Missbrauch. Für sie steht die Aussage des Kindes zu seinen Zeichnungen im Vordergrund als auch ein Verständnis zu kulturellen und situativen Einflüssen.
Im Ausblick geht Hartmut Rübeling auf das Medium Computer in der Erstellung von Zeichnungen ein. Es geht um die Nutzung eines Zeichencomputer im Vorschulalter. Im Rahmen einer Studie in den USA, durchgeführt im Kindergarten mit Kindern aus städtischen Mittelschichtfamilien, zeigen sich in den am Computer angefertigten Zeichnungen mehr Details und Bildelemente im Vergleich zu den Papierbildern. Auffallend ist, dass sich bei den älteren Kindern die Computerzeichnungen und auf Papier gezeichneten Bilder stärker gleichen als bei den jüngeren Kindern. Dennoch werden kritische Aspekte zur Nutzung des Mediums Computers angemerkt. Dagegen widerspricht Rübeling den Befürchtungen, dass mit dem Zeichencomputer die Ausdrucks- und Gestaltungsfähigkeit eingeschränkt wird. Es bedarf aber einer sinnvollen Anleitung, um dieses Medium im Rahmen der ästhetischen Bildung zu nutzen. Der Computer kann kein Ersatz für traditionelles Zeichen- und Malmaterial und deren Techniken sein, sondern dient als Medium, um Darstellungs- und Ausdrucksmöglichkeiten u.U. zu erweitern. Weiterhin ist der Zeichencomputer als zusätzlicher Kostenfaktor zu problematisieren, da er eine Ergänzung zum herkömmlichen Zeichnen und Malen beinhalten würde.
Fazit
Im Ganzen handelt es sich um ein empfehlenswertes Buch für Fachkräfte und Eltern, aber auch für Auszubildende an Universitäten etc. Es eröffnet eine erweiterte Sichtweise im Verstehen der Kinderzeichnung im Vorschulalter. Mit der Vorstellung von neueren Forschungsansätzen zu kulturellen Kontexten der Kinderzeichnung werden wesentliche Aspekte zum Migrationshintergrund erörtert. Weiterführende Fragestellungen zum Einfluss von Bilderfahrungen im kulturellen Kontext der neuen visuellen Medien auf die Kinder- und Jugendzeichnung können sich anschließen.
Rezension von
Prof. Dr. habil. Ruth Hampe
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