Meike Sophia Baader, Florian Eßer et al. (Hrsg.): Kindheiten in der Moderne
Rezensiert von Prof. Dr. Manfred Liebel, 05.11.2014
Meike Sophia Baader, Florian Eßer, Wolfgang Schröer (Hrsg.): Kindheiten in der Moderne. Eine Geschichte der Sorge. Campus Verlag (Frankfurt) 2014. 514 Seiten. ISBN 978-3-593-50079-9. 39,90 EUR.
Thema
Jeder Versuch, Ereignisse oder soziale Phänomene historisch zu rekonstruieren, erfolgt unter einer bestimmten Perspektive oder geht von bestimmten Vorannahmen aus. Das ist bei der Rekonstruktion von Kindheiten aus verschiedenen Epochen nicht anders. Am bekanntesten sind die höchst unterschiedlichen, ja gegensätzlichen Befunde zur Geschichte der Kindheit bei Philippe Ariès und Lloyd de Mause. Während de Mause die Entstehung bürgerlicher Kindheit als eine Befreiung der Kinder aus quälender Unterdrückung zeichnete, sah Ariès mit derselben bürgerlichen Kindheit die Kinder eher in ein infantiles Ghetto verbannt. Insgeheim stehen hinter solchen grundverschiedenen Bewertungen unterschiedliche Wahrnehmungen und Einschätzungen der gewöhnlich als „Moderne“ bezeichneten Epoche der Neuzeit. Es ist anzunehmen, dass auch dem hier vorgestellten Band, der „Kindheiten in der Moderne“ zu rekonstruieren versucht, eine bestimmte Vorstellung von dieser Moderne und ihrer Stellung in der Geschichte zugrunde liegt. Wobei gleich zu Beginn betont werden sollte, dass (fast) immer, wenn von „Moderne“ oder „Postmoderne“ die Rede ist, der Blick auf Europa und Nordamerika gerichtet ist oder aus europäischer bzw. nordamerikanischer Sicht gedacht wird.
Aufbau und Inhalt
Der vorliegende Band gibt seine Perspektive nicht nur in dem Bezug auf die Moderne zu erkennen, sondern auch durch die im Untertitel bekundete Absicht, die historische Abfolge von Kindheiten als eine „Geschichte der Sorge“ zu rekonstruieren. Letzteres ist zweifellos eine originelle, aber auch gewagte Idee.
Die Sorgeperspektive wird von der Herausgeberin Meike S. Baader und den beiden Herausgebern Florian Eßer und Wolfgang Schröer damit begründet, dass sie ermögliche, „eine geschlechterdifferenzierende Perspektive im Umgang mit Kindern einzunehmen und nach den damit verbundenen Prozessen der Arbeitsteilung zu fragen“ (S. 7). Einen weiteren Vorteil dieses Zugangs sehen sie darin, mit der „Frage nach der gesellschaftlichen Organisation der Sorge die in der deutschen Tradition verwurzelte Differenzierung zwischen einer weiblich konnotierten und im Privatraum situierten ‚Erziehung‘ sowie einer eher männlich konzipierten ‚Bildung‘, die im öffentlichen Raum angesiedelt ist“, überschreiten zu können“ (S. 7). Der Band knüpft damit an eine feministische Theorietradition an, die die „soziale Verwiesenheit und die Eingebundenheit in Sorgebeziehungen als Normalfall (zwischen-)menschlicher Existenz“ ansieht“ (S. 9) und „die Sorge universell als Bedingung sozialen Lebens entwirft“ (S. 11). Die Betrachtung von Kindheit als eine Geschichte der Sorge müsse deshalb immer auch eine „Geschichte der Sorgenden“ sein (S. 12).
Herausgeberin und Herausgeber weisen ausdrücklich darauf hin, dass sich die von ihnen vorgelegte Kindheitsgeschichte auf die „europäische Moderne“ konzentriert, wobei allerdings „keinesfalls von ihrem linearen Verlauf“ auszugehen sei (S. 15). Sie wollen unter Beachtung von „pluralen und unterschiedlichen Entwicklungsdynamiken […] nach dem besonderen Zusammenhang von Modernisierungsprozessen und den jeweiligen Konstruktionen sowie dem Wandel von Kindheit und Kindern als Akteuren“ fragen (S. 15). Ihr Ausgangspunkt bildet die These, „dass sich in den jeweiligen Diskursen über Kindheit charakteristische Elemente […] der jeweiligen Epochen der Moderne wie in einem Brennglas spiegeln“ (S. 15).
Die europäische Moderne gliedern die Herausgeberin und die Herausgeber in nicht weniger als zehn, sich teilweise zeitlich überschneidende Epochen und ordnen ihnen jeweils spezifische Charakteristika der jeweiligen Kindheiten bzw. Kindheitsdiskurse zu. Ich stelle diese im Folgenden mit Nennung der Autorinnen und Autoren der entsprechenden Beiträge dar.
- Frühe Neuzeit (1500 bis 1750): „Versorgte und unversorgte Kinder“ (Juliane Jacobi)
- Revolution und Restauration (1789 bis 1815): „Die bürgerliche Kindheit“ (Pia Schmid)
- Industrialisierung und Säkularisierung: „Die proletarische Kindheit“ (Doris Bühler-Niederberger und Heinz Sünker)
- Bildung von Nationalstaaten und Aufstieg der Naturwissenschaften: „Die nationalstaatliche Kindheit“ (Franz-Michael Konrad) und „Die verwissenschaftlichte Kindheit“ (Florian Eßer)
- Klassische Moderne (1890 bis 1930): „Die Kindheit der sozialen Bewegungen“ (Meike Sophia Baader) und „Die großstädtische Kindheit“ (Håkan Forsell)
- Massengesellschaft und Wohlfahrtsstaat (1914 bis 1945): „Die fordistische Kindheit“ (Volker Schubert) und „Die wohlfahrtsstaatliche Kindheit“ (Johanna Mierendorff)
- Faschismus und Nationalsozialismus (1922 bis 1945): „Die faschistische Kindheit“ (Till Kössler) und „Kinder und Kindheiten in nationalsozialistischen Konzentrationslagern“ (Wiebke Hiemesch)
- Nachkriegszeit (1945 bis 1968): „Die ‚familiarisierte‘ Kindheit“ (Michael-Sebastian Honig und Ilona Ostner) und „Die sozialistische Kindheit in der Sowjetischen Besatzungszone“ (Sabine Andresen)
- Zweite Moderne (1968 bis 2000): „Die reflexive Kindheit“ (Meike Sophia Baader)
- Globalisierung (seit 1990): „Die sozialinvestive Kindheit“ (Harry Hendrick) und „Die transnationale Kindheit“ (Nicole Himmelbach und Wolfgang Schröer)
Diskussion
In seinem Gang durch die europäische Geschichte seit dem 16. Jahrhundert vermittelt der Band einen anschaulichen Eindruck von den großen Veränderungen und Unterschieden in den Lebensverhältnissen von Kindern in und zwischen den Epochen. Die Beiträge basieren durchweg auf profunden Kenntnissen der Kindheitsdiskurse und verfügbaren Quellen. Sie beleuchten auf eindrucksvolle Weise die jeweiligen Zusammenhänge mit den vorherrschenden Denkströmungen und teilweise auch den materiellen Voraussetzungen des Aufwachsens von Kindern. Allerdings wirft der Band auch einige Fragen auf, die ich hier knapp beleuchten möchte.
Die Vorgabe der Herausgeberin und Herausgeber, die Geschichte der Kindheiten der europäischen Moderne als eine Geschichte der Sorge zu schreiben, wird nicht von allen Autorinnen und Autoren in demselben Maße beherzigt. Und das ist gut so. Denn die in der Einleitung bemühten Absichten hätten, wären sie in vollem Maße aufgenommen worden, die Autorinnen und Autoren eher daran gehindert, viele der verschiedenen Aspekte, die das Leben der Kinder in den verschiedenen Epochen auszeichnen, auszublenden. Das in der Einleitung formulierte Programm wird offensichtlich von den meisten Autorinnen und Autoren eher als eine Anregung betrachtet, ihre profunden Kenntnisse nicht einfach auszubreiten, sondern mit Blick auf die sozialen Beziehungen zwischen Kindern und „erwachsenen“ Menschen und den von ihnen geprägten Institutionen, denen sie mehr oder minder ausgeliefert sind, zu reflektieren. In einigen Beiträgen wird dabei auch den Unterschieden, die sich aus den geschlechtlichen Zuordnungen und Rollenmustern ergeben, besondere Aufmerksamkeit gewidmet.
Die Typisierung verschiedener Kindheiten hilft, wesentliche Aspekte der jeweiligen Epochen pointiert zum Ausdruck zu bringen. Sie sollte allerdings nicht dazu verleiten, die rekonstruierten und mit einem Etikett versehenen Kindheiten für „bare Münze“ zu nehmen. Es handelt sich um gedankliche Konstruktionen, die die Aufmerksamkeit auf bestimmte Aspekte lenken, die jeweils dominiert haben und die teilweise auch für andere Epochen gelten. Es sollte auch mitbedacht werden, dass in den meisten Beiträgen die dem herrschenden Denken entsprechenden, also gleichsam „offiziellen“ Kindheiten abgebildet werden. Dies gilt naheliegender Weise nicht für die „proletarische Kindheit“ oder gar die Kindheiten in den Nazi-Lagern (diesen Beitrag finde ich herausragend, allerdings bleibt mir unverständlich, warum im Titel der Nazi-Terminus „Konzentrationslager“ reproduziert wird, statt von Vernichtungslagern zu sprechen, was der dargestellten Realität der Kinder eher entsprochen hätte). Gleichwohl sind – aus heutiger Sicht betrachtet – diese Kindheiten auch irgendwie „anerkannt“, da sie einer vergangenen Zeit angehören und keinem mehr wehtun. Neben den „offiziellen“ Kindheiten hätten auch weitere „verborgene“, „illegitime“ oder „verstörende“ Kindheiten angesprochen werden können, wie etwa diejenigen der in den jeweiligen Epochen besonders marginalisierten Kinder (denen als „children out of place“ [Judith Ennew] häufig eine Kindheit überhaupt abgesprochen wird) oder die Kindheiten, die sich aus Migrationsprozessen oder der politischen bzw. diskursiven „Erzeugung“ von Minderheiten ergeben.
Ein Problem ergibt sich auch daraus, dass „die Moderne“ als gedanklicher und begrifflicher Rahmen für die Rekonstruktion der Kindheiten genommen wird. Zwar ist der Herausgeberin und den Herausgebern zugute zu halten, dass sie keinem simplen Entwicklungs- oder Fortschrittsdenken huldigen, sondern sich auch im Sine einer „Dialektik der Aufklärung“ (Horkheimer/Adorno) den Abgründen der Moderne stellen. Aber insgeheim wird der Eindruck vermittelt, die Geschichte der Kindheiten gehe in Richtung einer zunehmenden Reflexivität und überschreite mehr und mehr die bornierten Grenzen „nationalen“ Denkens, als handele sich bei den Abgründen eher um eine Art Abweichung von der „geschichtlichen Logik“. Gewiss macht es aus pragmatischen Gründen Sinn, einen Band auf die Vorgänge in einem Kontinent zu begrenzen, aber durch die Lokalisierung der Moderne in Europa werden mit einer gewissen Zwangsläufigkeit deren Auswirkungen auf andere Kontinente (und die dortigen „Antworten“) ausgeblendet. So ist es meines Erachtens ein gravierendes Versäumnis, nicht auch „koloniale Kindheiten“ in den Blick zu nehmen oder die Kindheiten in anderen Kontinenten unter dem Aspekt kolonialer und postkolonialer Herrschaftsstrukturen zu betrachten. Einzig im letzten Beitrag zu „transnationaler Kindheit“ werden solche Aspekte wenigstens angedeutet.
Zurecht betonen die Herausgeberin und die Herausgeber in der programmatischen Einleitung, dass eine Geschichte der Sorge nicht zuletzt als eine Geschichte der Sorgenden verstanden werden müsse. Nach der Lektüre des gesamten Bandes frage ich mich allerdings, ob dies nur für „Erwachsene“ gilt und nur als ein einseitiges Verhältnis verstanden werden kann. Hätten nicht auch die Kinder als Sorgende in den Blick genommen werden können? Da dies in dem Band kaum geschieht (auch nicht, wie zu erwarten gewesen wäre, in dem Beitrag zur „Kindheit der sozialen Bewegungen“; eine erfreuliche Ausnahme ist der Beitrag über „großstädtische Kindheit“), wird auch der Anspruch weitgehend verfehlt, die Geschichte der Kindheiten als eine von den Kindern als Akteuren zu rekonstruieren. Dies wäre angesichts der verfügbaren Quellen bestimmt ein sehr schwieriges Unterfangen, aber umso mehr sollte es als Herausforderung für die historische Erforschung von Kindheiten auf der Tagesordnung bleiben.
Fazit
Ein informativer, auf sorgfältigen Quellenstudien basierender Band über die neuzeitliche Geschichte von Kindheiten in Europa, der sich allerdings kaum auf die Perspektive von Kindern als Akteuren einlässt.
Rezension von
Prof. Dr. Manfred Liebel
Master of Arts Childhood Studies and Children’s Rights (MACR) an der Fachhochschule Potsdam, Fachbereich Sozial- und Bildungswissenschaften
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Es gibt 104 Rezensionen von Manfred Liebel.
Zitiervorschlag
Manfred Liebel. Rezension vom 05.11.2014 zu:
Meike Sophia Baader, Florian Eßer, Wolfgang Schröer (Hrsg.): Kindheiten in der Moderne. Eine Geschichte der Sorge. Campus Verlag
(Frankfurt) 2014.
ISBN 978-3-593-50079-9.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/17495.php, Datum des Zugriffs 23.01.2025.
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