Frank Oberzaucher: Übergabegespräche
Rezensiert von Dipl.-Soz. Kaspar Molzberger, Julian Wolf, 01.03.2015

Frank Oberzaucher: Übergabegespräche. Interaktionen im Krankenhaus. Eine Interaktionsanalyse und deren Implikationen für die Praxis. Lucius & Lucius (Stuttgart) 2014. 265 Seiten. ISBN 978-3-8282-0593-2. 44,00 EUR.
Thema
Das hier rezensierte Buch von Frank Oberzaucher beschäftigt sich mit Übergabegesprächen in Krankenhäusern. Übergabegespräche zwischen Pflegekräften sind ein hochgradig ritualisiertes und für die Sicherstellung des betrieblichen Ablaufs im Krankenhaus enorm wichtiges Gesprächsformat, welches bislang nur selten Gegenstand wissenschaftlicher Forschung gewesen ist und hier im Rahmen einer ethnomethodologisch informierten Ethnografie untersucht wird.
Entstehungshintergrund
Das Buch von Oberzaucher basiert auf seiner Dissertation mit dem Titel „Komm lass uns Übergabe machen – Eine konversationsanalytische Untersuchung von Übergabegesprächen im Krankenhaus und die praktischen Folgen der Analyse“, die im Rahmen eines Promotionsstipendiums der International Graduate School of Sociology (IGSS) an der Universität Bielefeld unter Leitung von Prof. Bergmann und Prof. Dausendschön-Gay in den Jahren 2005 bis 2011 entstanden ist. Dem vorausgegangen war sein Diplomarbeitsprojekt zu Übergaben auf einer Geburtshilfestation in einem österreichischen Ordensspital, die als Grundlage für das vorliegende Buch diente, aber sowohl was den Erhebungsumfang wie die methodische Ausrichtung angeht wesentlich erweitert wurde.
Aufbau
Das vorliegende Werk folgt einer einfachen und klaren dreigliedrigen Betrachtung.
- Zunächst wird der zu untersuchende Gegenstand – Schichtübergaben bzw. Übergabegespräche – in den bisherigen Wissenschaftsdiskurs zu Erkenntnissen über die Bedeutung von Gesprächen in institutionalisierten Arbeitskontexten eingebettet, sowie als interaktionsanalytische Feldforschung nach Maßgabe der Ethnomethodologie bzw. als eine Weiterentwicklung derselben als konversationsanalytische Arbeit ausgerichtet.
- Nach der davon ausgehenden Darlegung des Erkenntnisinteresses wird sogleich übergeleitet zum empirischen Teil, der mit Abstand den größten Teil der Studie ausmacht.
- Es folgt eine Auseinandersetzung mit dem Verhältnis der präsentierten empirischen Ergebnisse und den praktischen Problemen des Feldes, also der Frage, welchen Wert die wissenschaftlichen Erkenntnisse für die Praxis haben können und aus ethnomethodologischer Perspektive haben sollen.
Der Autor schließt mit einem kritischen Rückblick auf die eigene Arbeit.
Inhalt
Das Buch umfasst insgesamt acht Kapitel, wovon Kapitel I die wissenschaftliche Hinführung zum Feld, Kapitel II-V die wissenschaftliche Analyse desselben und Kapitel VI-VIII wieder Distanz aufbauen und danach fragen, wie sich das Verhältnis zwischen ethnomethodologischer Forschung und alltäglichem Handlungsvollzug im Feld angemessen beschreiben und wie sich davon ausgehend die beiden Sphären aufeinander beziehen lassen.
Ethnomethodologischer bzw. konversationsanalytischer Zugang zum Phänomen der Übergabegespräche in Krankenhäusern. Zu Beginn des Kapitels werden Übergabegespräche einführend als praktisches Problem gerahmt und anhand ihrer allgemeinen Merkmale (Übergabegespräche als ritualisierte Ausnahmetätigkeit; personale Zusammensetzung aus übernehmender und übergebender Pflegeschicht; Sicherstellung des patientenbezogenen Informationsflusses sowie Überprüfung der je situativ angemessenen pflegerischen Maßnahmen) vorgestellt. Oberzaucher gibt an, insbesondere an der Erläuterung des Wie des Übergabegesprächs interessiert zu sein, folglich die „Prozessualität des Ereignisses“ (S. 3) Übergabegespräch untersuchen zu wollen. Anschließend nähert sich der Autor dem Untersuchungsgegenstand anhand einer Einführung in den wissenschaftlichen Diskurs zu Übergabegesprächen. Über eine kompakte Darstellung der wissenschaftlichen Erkenntnisse zu Besprechungskommunikationen in Arbeitskontexten, und damit auch in Krankenhäusern, kommt der Autor zu einer Abgrenzung bzw. engeren Definition seines Untersuchungsgegenstandes, indem er recht ausführlich diejenigen Studien verhandelt, die wie er, einen interaktionsanalytischen Zugang zum Feld wählen. Das Übergabegespräch auf Station wird demnach als „spezifische Interaktion“ (S. 33) verstanden, als ein soziales Ereignis, dessen für sie „konstitutive Ablaufstruktur“ (S. 34) mit Hilfe einer multimodalen Analyse (auf Basis von Transkriptionen audio-visueller Gesprächsdaten) expliziert werden soll. Im Folgenden wird diese Setzung aus ethnomethodologischer sowie konversationsanalytischer Perspektive ausbuchstabiert. Kern der verhandelten Ansätze und damit auch des Buches ist die Idee, dass soziale Wirklichkeit stets geordnet vorliegt, jedoch nur insofern sie von Akteuren in ihren alltäglichen Praktiken der Kommunikation stets aufs Neue generiert, modifiziert und damit durch sie selbst erneuert wird.
Kommunikative Ökologie der Übergabegespräche. Oberzaucher beginnt seine empirische Arbeit mit einer multimodalen Analyse der die Kommunikation umgebenden Umwelt, indem er seinen Blick auf die situative Aneignung körperlicher wie räumlicher Gegebenheiten durch die anwesenden Pflegekräfte im Rahmen des Übergabegesprächs rekonstruiert. Er kann zeigen, wie sich die AkteurInnen ihre Umgebung aufgabenzentriert und stets situativ als Ressource (vermittels spezifischer Blick- und Körperarrangements, Spickzettel und handschriftlicher Notizen als „Gedächtnisfunktion“ S. 92) zu Nutze machen und ggf. in Folge „kooperativer Neu-Abstimmung“ (S. 89) immer wieder neu aushandeln, was für den so verstandenen Interaktionsraum aktuell relevant ist.
Das Ereignis Übergabe als Gesprächseinheit. Das Übergabegespräch wird hier in seinen ablaufstrukturellen Besonderheiten als eine Gesprächseinheit gefasst, die sich über die Konstruktion „Ein PatientInnenfall = eine Informationseinheit“ konstituiert. Die Übergaben werden anhand des Materials als Gesprächseinheiten vorgestellt, die sich durch spezifische Gesprächseröffnungen und -beendigungen, eine ungleiche Redeverteilung in Folge der typischerweise stark ausgeprägten Wissensasymmetrie zwischen übergebender und übernehmender Schicht sowie der „kontextuellen Bedingung“ (S. 137) einer unbedingten Orientierung am PatientInnenfall, der jeweils über eine örtliche Lokalisierung (Station und Bett) und professionelle Leistungen (medizinisch-pflegerisch) identifiziert wird, auszeichnen. Besonderes Augenmerk wird hier auf sprachökonomische und kontextsensible Äußerungsformen im Rahmen der Übergabegespräche gelegt. Vermittelt durch diesen „telegrammartigen Stil“ werden einerseits die am Übergabegespräch beteiligten Identitäten (übergebende und übernehmende Pflegekraft) hervorgebracht und anderseits die Modalitäten der Übergabe anhand der im Gespräch zugewiesenen Informationseinheiten prozessiert und in Konsequenz als erwartbare medizinische wie pflegerische Anschlusshandlungen zur sozialen Wirklichkeit gebracht.
Organisation von PatientInnen durch Mitgliedschaftskategorien. Ausgehend vom „Beziehungsdreieck“ zwischen übergebender und übernehmender Pflegekraft und den in dieser Situation stets abwesenden PatientInnen rekonstruiert Oberzaucher auf Grundlage der Konversationsanalyse nahestehenden Kategorisierungsanalyse, welche Kategorien im kommunikativen Vollzug der Übergabegespräche als „Verstehensressource“ (S. 169) zur Bearbeitung von Informationsasymmetrien sowie allgemeiner zur „Sinnexplikation und Sinndeutung“ (S. 171) im Hinblick auf die zu vergangenen und zukünftigen pflegerischen Aktivitäten Verwendung finden. Dabei dient der Orientierungscharakter von Kategorien den die Übergabegespräche vollziehenden Pflegekräften in zweierlei Hinsicht: als Ortsmarker für die Rahmung des Ortes, an dem sich die PatientInnen aufhalten („Ortskategorisierung“) und als dynamisch der Patientenkarriere anzupassende Identitätsmarker, die jeweils situativ ausgehandelte Typisierungen zu konstruieren erlauben und aus denen sich im Übergabegespräch pflegerelevante Anschlusstätigkeiten inferenziell, also schlussfolgernd, ableiten lassen.
Übergabe-Wissen. Getreu der ethnomethodologischen Ansicht, dass Wissen weder individuell vorliegt noch vom Feldforscher direkt zu beobachten ist, unternimmt Oberzaucher eine Analyse der Generierung von Wissen in Übergabegesprächen als soziales Ereignis, indem er jene Situationen in den Blick nimmt, in denen die Beteiligten „Kompensationsmaßnahmen“ ergreifen müssen, da in actu fragwürdig gewordene Verhaltens- und Verstehensannahmen (verstanden als soziales bzw. geteiltes Wissen) dies von ihnen verlangen. Dabei identifiziert der Autor folgende für das Übergabewissen relevante und erfolgreich angewendete Praktiken:
- das gemeinsame Konstruieren von Geschichten (Narrationen) als Möglichkeit zur Inferenz nachfolgender Handlungsanweisungen
- das Prozessieren expliziter (Direktiven mit Verweis auf technische Hilfsmittel) und impliziter (Andeutungen bzw. allgemeine Ansprachen zur Aktivierung eines Routinewissens) Instruktionen und Empfehlungen
- das professionelle Behandeln von Versäumnissen durch kommunikativ ausgehandelte und damit vollzogene Improvisationen.
Praxisrelevanz der wissenschaftlichen Analyse. In diesem Kapitel wird untersucht, inwiefern die Ergebnisse der Forschung und die konversationsanalytische Erhebungsform für PraktikerInnen genutzt werden könnten. Der Autor stellt dabei zunächst die Spannung zwischen ethnomethodologischer Indifferenz (d.h. der Uninteressiertheit gegenüber praktischen Fragen) und dem normativen Anspruch der Verbesserung der Kommunikation in der Angewandten Gesprächsforschung heraus. Als „Ausweg“ wird die konversationsanalytische Supervision thematisiert, in der die PraktikerInnen, angeleitet vom Feldforscher, die erhobenen Daten interpretieren. Dabei nimmt der Forscher eine neutrale Position ein, enthält sich also Bewertungen. Oberzaucher beschreibt schließlich, dass diese Form der „außerwissenschaftlichen Datensitzung“ (S. 223) von PraktikerInnenseite positiv aufgenommen wurde. Hervorgehoben wurden dabei neue Möglichkeiten der Selbstbeobachtung und Selbstwahrnehmung, die Einsatzmöglichkeiten der Transkripte in Aus- und Weiterbildungen und die mögliche Erarbeitung von „best practices“.
Ausblick. Im abschließenden Kapitel des Buches werden Felder innerhalb des medizinisch-pflegerischen Kontextes vorgestellt, an denen sich ähnliche Fragestellungen anschließen lassen könnten: 1. Die digitale Übergabe, 2. Case Management, also ein Feld, in dem verschiedene Berufsgruppen, aber auch PatientInnen und Angehörige miteinander verknüpft werden, 3. Fallbesprechungen des medizinischen Personals, 4. Heterogene Felder, in denen übergabeähnliche Gesprächsformate bestehen.
Diskussion
Frank Oberzaucher legt mit diesem Buch eine detaillierte konversationsanalytische Untersuchung zum Gegenstand der Übergabegespräche von PflegemitarbeiterInnen vor. Die Erhebung und Auswertung der Daten sind dabei sehr umfangreich ausgefallen: neben 28 Stunden Audioaufzeichnung und 12 Stunden Videoaufzeichnung sind die Daten auf Grundlage der (üblichen Genauigkeit) ethnomethodologischer Transkriptionen interpretiert worden. An dieser Stelle könnte gefragt werden, ob eine klassische Ethnografie mit weniger Aufwand zu ähnlichen Ergebnissen gekommen wäre.
Das Buch ist gut strukturiert und auch der sprachliche Stil ist angenehm zu lesen. Die Studie behält seinen roten Faden. Man hat nicht den Eindruck, dass Teile des Buches für das verfolgte Erkenntnisinteresse überflüssig wären.
Interessant an der Studie ist die Rückführung der Forschung ins Feld mit Hilfe der konversationsanalytischen Supervision. Sympathisch daran ist insbesondere, dass durch dieses Verfahren nicht die „objektive Wahrheit“ ins Feld zurückgespiegelt wird, sondern durch einen gemeinsamen Interaktionsprozess erarbeitet wird. Dies lässt sich auch gut mit dem ethnomethodologischen Grundsatz vereinbaren, dass die wissenschaftliche Forschungspraxis der Praxis des Feldes nicht in irgendeiner Form überlegen ist.
Oberzaucher schreibt in seinem Vorwort, dass ein grundsätzliches Interesse an der Studie darin besteht, zwischen einer „gelungenen“ und einer „weniger gelungenen“ Übergabe unterscheiden zu können (S. 5). Dieses eingeführte Erkenntnisinteresse wird aber im Buch nicht weiter verfolgt. Gerade im Hinblick auf die angestrebte Praxisrelevanz wäre es interessant gewesen, diese Unterscheidung am Ende des Buches nochmals einzuführen und zu diskutieren.
Ferner beschreibt der Autor, dass eine organisationsanalytische Rahmung von Übergangsgesprächen angedacht war, aber diese zugunsten einer interaktionsfokussierten Untersuchung wieder fallengelassen wurde (S. 33). Dieses Vorgehen ist einerseits, aufgrund der sonst überbordenden Komplexität, nachvollziehbar, könnte aber auf den zweiten Blick einen Zugewinn für die Studie darstellen. Insbesondere die zunehmende Arbeitsbelastung und der wachsende Zeitdruck im Pflegeberuf könnten für den Ablauf von Übergabegesprächen Folgen haben. Ob der organisationale Kontext einen Einfluss auf das prozessuale Geschehen in Übergangsgesprächen hat, bleibt aber angesichts des Untersuchungsdesigns eine offene Frage.
Am Ende des Buches wäre eine Wiedereinführung der wissenschaftlichen Literatur zum Thema Wissenstransfer wünschenswert, um die Ergebnisse der Forschung mit diesen abzugleichen. Durch einen solchen Schritt könnte aufgezeigt werden, welcher Erkenntnisfortschritt mit der Studie einhergeht und was das Typische an Übergabegesprächen zwischen Pflegekräften ist.
Fazit
Zusammengefasst kann gesagt werden, dass das Buch einen detailreichen Einblick in die Praxis der Übergangsgespräche zwischen PflegerInnen gibt. Wer sich mit dem Thema auseinandersetzt, wird an Frank Oberzauchers Buch nicht vorbei kommen. Das ethnomethodologisch bearbeitete Thema, basierend auf Audio- und Videodaten, wird übersichtlich und sprachlich einwandfrei aufbereitet. Am Ende des Buches wäre allerdings ein Kontrast zu wissenschaftlichen Studien, die sich mit dem Thema Wissenstransfer auseinandersetzen, wünschenswert, damit das Typische des pflegerischen Kontextes, aber auch der wissenschaftliche Erkenntnisgewinn der Studie, pointiert dargestellt werden könnten.
Rezension von
Dipl.-Soz. Kaspar Molzberger
Doktorand und von 2013-2016 wissenschaftlicher Projektmitarbeiter im DFG-Projekt „Entscheidungsfindung im Krankenhausmanagement“, Lehrstuhl für Soziologie, Universität Witten/Herdecke
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Julian Wolf
M.A., wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Soziologie, Universität Witten/Herdecke
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