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Michael Quante, David P. Schweikard (Hrsg.): Marx-Handbuch

Rezensiert von Prof. Dr. Gregor Husi, 22.02.2016

Cover Michael Quante, David P. Schweikard (Hrsg.): Marx-Handbuch ISBN 978-3-476-02332-2

Michael Quante, David P. Schweikard (Hrsg.): Marx-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. J. B. Metzler’sche Verlagsbuchhandlung und Carl Ernst Poeschel Verlag GmbH (Stuttgart, Weimar) 2016. 443 Seiten. ISBN 978-3-476-02332-2. D: 49,95 EUR, A: 51,40 EUR, CH: 67,00 sFr.

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Thema

Karl Marx - kein Unbekannter. Eine prägende Gestalt des 19. Jahrhunderts mit grossen sozialwissenschaftlichen, philosophischen und politischen Wirkungen bis in unsere Tage. Er lebte von 1818 bis 1883. Obwohl die hohe Zeit des Marxismus-Leninismus vorbei ist, werden immer noch Jahr für Jahr etwelche Bücher und Artikel zu Aspekten der Schriften und Lebensgeschichte veröffentlicht. Bereits jetzt, drei Jahre vor dem zweihundertsten Geburtstag, erscheint ein Handbuch zu, wie es im Untertitel heisst, Marx´Leben, Werk und Wirkung.

Herausgeber

  • Michael Quante ist Professor für Praktische Philosophie an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster.
  • David P. Schweikard ist Akademischer Rat auf Zeit am Philosophischen Seminar der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster.

Aufbau

Das Handbuch weist fünf Hauptteile auf:

  1. Im ersten wird das Leben von Karl Marx beschrieben.
  2. Der zweite Hauptteil – zu den Werken – ist dreigeteilt und widmet sich den philosophischen Schriften, der Kritik der politischen Ökonomie sowie den politischen Schriften.
  3. Der dritte Hauptteil erörtert philosophische und polit-ökonomische Grundbegriffe und Konzeptionen.
  4. Der vierte Hauptteil geht ausführlich den Rezeptionen nach, gegliedert nach Themen, Autorinnen und Autoren, Disziplinen und politischer Praxis.
  5. Zuletzt versammelt der Anhang einen Hinweis auf die beiden grossen Werkausgaben, eine Auswahlbiographie, ein Verzeichnis der beitragenden Autorinnen und Autoren sowie ein hilfreiches Personenregister.

Im Handbuch wird nach den beiden grossen Werkausgaben zitiert, das heisst der Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA) und der Marx-Engels-Werke (MEW). Überaus nützlich ist die Angabe des Links, der zu allen Pdf-Versionen der MEW führt: http://marx-wirklich-studieren.net/marx-engels-werke-als-pdf-zum-download/

Inhalt

Da das Handbuch auf mehreren Gliederungsprinzipien beruht, werden viele unterschiedliche Wege beschritten, um Marx´ Gedankenwelt zu erkunden. So kann man auf unterschiedlichen Pfaden zum selben Thema gelangen, und umgekehrt scheinen Pfade am einen Ort zuweilen unerwartet abzubrechen, da schon andere Pfade dahin führen. Es offenbart sich dergestalt die vielgestaltige Anschlussfähigkeit des gesamten Werks. Die verschiedenen Werkphasen lassen den Umgang mit ihm noch komplexer werden. An einigen wenigen, aber wichtigen Punkten soll dennoch angesetzt werden:

Man kann Marx als den Begründer der Gesellschaftswissenschaft betrachten. Die disziplinäre Perspektive der Soziologie wird im Handbuch als Bewegung nachvollzogen, die von Hegel über Marx und Weber zu Bourdieu führt. Gewiss, sie führte im Feld der Gesellschaftstheorien zumindest auch zu Habermas und Giddens. In der berühmten Formulierung seines Mitstreiters Friedrich Engels heisst es, Marx wolle Hegel vom Kopf auf die Füsse stellen (MEW 21, S. 293). Sein Materialismus will den vorgängigen Idealismus überwinden. „Die Erforschung der Produktionsverhältnisse, die die Menschen in der Auseinandersetzung mit der Natur entwickelt haben, und der Bedeutung der Eigentumsverhältnisse an den Produktionsmitteln stellen einen wichtigen Fortschritt in der sozialwissenschaftlichen Erklärung gesellschaftlicher Verhältnisse, ihrer Entstehung und ihrer Veränderung dar, dessen Bedeutung für die Soziologie mit dem Beitrag Newtons für die Physik verglichen werden muss. Alle Soziologen vor und nach der Jahrhundertwende mussten sich mit den theoretischen und methodologischen Vorschlägen von Marx auseinandersetzen“ (S. 374), schreibt Korte über die ausserordentliche Relevanz von Marx´Schaffen für die Entstehung der Soziologie ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Max Weber äussert sich da und dort entschieden ablehnend: „Die sogenannte ‚materialistische Geschichtsauffassung‘ als Weltanschauung oder als Generalnenner kausaler Erklärung der historischen Wirklichkeit ist auf das Bestimmteste abzulehnen“ – die Ansicht, die Ökonomie sei „etwas ‚Letztes‘ in der Ursachenreihe“, sei nämlich „wissenschaftlich vollständig erledigt“ (S. 375). Weber suchte seine Position mit der viel zitierten Gegenüberstellung von Ideen und Interessen zu klären. „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“ endet mit der Klarstellung, es könne nicht darum gehen, „an Stelle einer einseitig ‚materialistischen‘ eine ebenso einseitig spiritualistische kausale Kultur- und Geschichtsdeutung zu setzen“. Dass Weber damit seinen überaus einflussreichen Text mit dieser Feststellung tatsächlich beendet, zeigt auf, wie wichtig die diesbezügliche Haltung ist. Auch bei Marx verhält sich indes die Sache nicht ganz so eindeutig. Wenn auch die „theoretischen Erzeugnisse und Formen des Bewusstseins“ aus der Produktionsweise zu erklären sind, so heisst dies, dass „die Sache in ihrer Totalität (und darum auch die Wechselwirkung dieser verschiedenen Seiten aufeinander) dargestellt werden“ (MEW 3, S. 38). Um eine Wechselwirkung soll es sich also handeln.

Das Bild einer eigenständigen Klassentheorie, das die Soziologie überliefert, wird im Handbuch allerdings relativiert, und dennoch seien Einfluss und Aktualität gross geblieben. „Dazu gehört in diesem Bild eine auf Klassenkämpfe rekurrierende Gesellschaftsauffassung, mit der Marx eine Antwort auf die Frage nach den Gesetzen des sozialen Wandels formuliert; dazu gehört eine materialistische, auf die Relation von Produktivkraft und Produktionsverhältnissen sich stützende Herrschaftssoziologie, die sämtliche kulturellen Gebilde (d. h. auch Rechts- und Staatssysteme) primär mit Bezug auf ihre Abhängigkeit von wirtschaftlichen Faktoren analysiert; ebenso gehört dazu eine religionssoziologische Säkularisierungsthese, nach der im klassenlosen Gesellschaftszustand das Bedürfnis nach Religion vollständig erlischt; und nicht zuletzt der methodologische Standpunkt, dass sich soziales Handeln und soziale Gebilde durch die Intentionen der Akteure nicht hinreichend erfassen lassen“ (S. 377).

Bourdieu nun beerbt nicht nur – terminologisch offensichtlich – Marx´, sondern auch Webers Auffassungen von Klassen und Ständen, die Weber allerdings nirgends systematisch aufbereitet. Das Handbuch fokussiert auf Bourdieus einflussreiche Unterscheidung von ökonomischem, kulturellem und sozialem Kapital und überrascht mit einer Bemerkung: „Insgesamt ist für Bourdieu Kapital im Grunde dasjenige, was Marx in seiner Analyse vielmehr als Ware expliziert“ (S. 379). Auch Bourdieu markiert Distanz zu einer ökonomistischen Sichtweise: „Es ist natürlich schwierig, nicht davon auszugehen, dass in den Industriegesellschaften die Effekte des ökonomischen Feldes besonders stark sind. Aber muss man deshalb auch die Voraussetzung einer (allgemeinen) letztinstanzlichen Determinierung durch die Ökonomie mitmachen?“ (S. 379). Bourdieus Ansichten zu Klasse thematisiert das Handbuch zwar nicht, jedoch seine Überzeugung von der zentralen Bedeutung der Relationalität, d. h. einer relationalen Sicht der sozialen Dinge. Dieser Ansicht stand Marx Pate: „Die Gesellschaft besteht nicht aus Individuen, sondern drückt die Summe der Beziehungen, Verhältnisse aus, worin diese Individuen zueinander stehn“ (MEW 42, S. 189).

Blickt man in die nahe gelegene Disziplin der Psychologie, erhält man einen völlig anderen Eindruck von Marxens Bedeutsamkeit. Um Wilhelm Reich, Otto Fenichel, Erich Fromm, Karen Horney und andere gab es zwar Bemühungen um einen Freudomarxismus, und später sollte sich Klaus Holzkamp bei seiner Kritischen Psychologie auf Marx berufen, doch bleibt dessen Einfluss ansonsten gering. Das Handbuch behandelt jedoch nicht weniger als vierzehn Disziplinen und spinnt die Fäden sogar bis zu den Naturwissenschaften, der Mathematik und der Logik! Immerhin verfasste Marx zum Beispiel auch „Mathematische Manuskripte“. Darin untersuchte er die Entwicklungsgeschichte der Infinitesimalrechnung von Newton und Leibniz über Euler und d´Alembert bis zu Lagrange. Die mathematischen Neuerungen, die gleichzeitig zu seinen Arbeiten anderswo anfielen, kriegte er allerdings nicht mit. Seine Erkenntnisse nutzte er im Zusammenhang seiner ökonomischen Arbeiten, für die Weiterentwicklung der Mathematik waren sie nie bedeutsam.

Eine Disziplin fehlt allerdings im Handbuch bei dieser Sichtung: die Philosophie. Dies, weil die separat thematisierten unterschiedlichen Rezeptionsströmungen als philosophische betrachtet werden. Nicht nur die Darstellung der Rezeptionen in den Disziplinen, sondern auch jene in den philosophischen Strömungen enthält vierzehn Unterkapitel. Hier werden Antonio Gramsci, Rosa Luxemburg, Ernst Bloch, Georg Lukács, Louis Althusser und Leo Trotzki behandelt sowie als Denkrichtungen der dialektische Materialismus, Austromarxismus, existenzialistische Marxismus, die Kritische Theorie, Neue Marxlektüre, der analytische Marxismus, New Dialectics und der kritische Rationalismus.

Der Darstellung der individuellen und disziplinären Rezeptionen vorangestellt sind mögliche Antworten auf Grundfragen der Marx-Rezeption. Sie gelten der Gerechtigkeitstheorie, der Entfremdungstheorie und der Kritik der politischen Ökonomie. Eine eigentliche Theorie der Gerechtigkeit hat Marx nicht entworfen, wenngleich er von „Raubgier“, „geraubtem Geld“ u. ä. spricht. Persönlich betrachtete er den Kapitalismus gewiss als ungerecht. Auch mit Blick in die Zukunft ist nicht klar, wie Marx seinen oft wiedergegebenen Satz „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen“ (MEW 19, S. 21) aus den „Randglossen zum Programm der deutschen Arbeiterpartei“ verstand. Er wird sowohl im deskriptiven als auch normativen Sinn rezipiert. War Marx demnach kein Gerechtigkeitstheoretiker, so zweifellos ein Entfremdungstheoretiker. Diese Einschätzung beschränkt sich auf den jungen Marx. Dieser bemühte sich nämlich nicht um die Publikation der Schriften, die er 1843 und 1844 verfasste, die jedoch erst seit 1932 in deutscher Sprache vollständig als „Ökonomisch-Philosophische Manuskripte“ vorliegen. Hier nimmt er an, der Kapitalismus mit der grundlegenden Institution des Privateigentums führe zu einer vierfachen Entfremdung der Menschen: von sich selber, den anderen, eigener Arbeit und deren Produkten (MEW 40, S. 443-463, 510-522). Entfremdungskriterien bestimmte Marx allerdings kaum näher. Die Interpretationen fragen sich darum, was gemeint sei. Geht es um die Möglichkeit, andere Menschen als Mittel für eigene Zwecke zu gebrauchen, Vergegenständlichung der Arbeit, Anerkennung oder die Verwirklichung des menschlichen Wesens? Je nach Interpretation werden dann andere Traditionslinien akzentuiert: Kant, Feuerbach, Hegel, Aristoteles. Wie auch immer – Marx sah sich durch seine Lektüre von Max Stirners „Der Einzige und sein Eigentum“ aus dem Jahre 1844 dazu veranlasst, seine Annahmen aus den Manuskripten zu überdenken. Ab Mitte der 1840er Jahre suchte er nachzuweisen, dass kapitalistische Gesellschaften instabile und vorübergehende Gebilde seien. Nun wollte er Entstehen und Vergehen von „Gesellschaftsformationen“ erklären. In „Zur Kritik der politischen Ökonomie“ (1859) und den drei Bänden von „Das Kapital“ entstand eine neue Art von Kapitalismuskritik. „In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen. Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt, und welcher bestimmte gesellschaftliche Bewußtseinsformen entsprechen. Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozeß überhaupt. Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt. Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen oder, was nur ein juristischer Ausdruck dafür ist, mit den Eigentumsverhältnissen, innerhalb deren sie sich bisher bewegt hatten. Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um. Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolution ein. Mit der Veränderung der ökonomischen Grundlage wälzt sich der ganze ungeheure Überbau langsamer oder rascher um. In der Betrachtung solcher Umwälzungen muß man stets unterscheiden zwischen der materiellen, naturwissenschaftlich treu zu konstatierenden Umwälzung in den ökonomischen Produktionsbedingungen und den juristischen, politischen, religiösen, künstlerischen oder philosophischen, kurz, ideologischen Formen, worin sich die Menschen dieses Konflikts bewußt werden und ihn ausfechten. Sowenig man das, was ein Individuum ist, nach dem beurteilt, was es sich selbst dünkt, ebensowenig kann man eine solche Umwälzungsepoche aus ihrem Bewußtsein beurteilen, sondern muß vielmehr dies Bewußtsein aus den Widersprüchen des materiellen Lebens, aus dem vorhandenen Konflikt zwischen gesellschaftlichen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen erklären“ (MEW 13, S. 8f.). In diesen bekannten Zeilen aus dem Vorwort von „Zur Kritik der Politischen Ökonomie“ fasst Marx das theoretische Konzept seines Spätwerks zusammen. Dieses Vorwort endet mit einem Ausblick: „Die bürgerlichen Produktionsverhältnisse sind die letzte antagonistische Form des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, antagonistisch nicht im Sinn von individuellem Antagonismus, sondern eines aus den gesellschaftlichen Lebensbedingungen der Individuen hervorwachsenden Antagonismus, aber die im Schoß der bürgerlichen Gesellschaft sich entwickelnden Produktivkräfte schaffen zugleich die materiellen Bedingungen zur Lösung dieses Antagonismus. Mit dieser Gesellschaftsformation schließt daher die Vorgeschichte der menschlichen Gesellschaft ab“ (MEW 13, S. 9).

Die Zeit, „wenn die Stunde des kapitalistischen Privateigentums schlägt“, wenn die kapitalistische Hülle gesprengt werde, stellt sich Marx im „Kapital“ so vor: „Die aus der kapitalistischen Produktionsweise hervorgehende kapitalistische Aneignungsweise, daher das kapitalistische Privateigentum, ist die erste Negation des individuellen, auf eigne Arbeit gegründeten Privateigentums. Aber die kapitalistische Produktion erzeugt mit der Notwendigkeit eines Naturprozesses ihre eigne Negation. Es ist Negation der Negation. Diese stellt nicht das Privateigentum wieder her, wohl aber das individuelle Eigentum auf Grundlage der Errungenschaft der kapitalistischen Ära: der Kooperation und des Gemeinbesitzes der Erde und der durch die Arbeit selbst produzierten Produktionsmittel“ (MEW 23, S. 791). Hier spricht Marx übrigens schon die „Verschlingung aller Völker in das Netz des Weltmarkts“ an – Globalisierung. Weshalb rechtlich geschütztes Privateigentum Marx und Engels ein Dorn im Auge ist, begründen sie im „Manifest der Kommunistischen Partei“: „Ihr entsetzt euch darüber, daß wir das Privateigentum aufheben wollen. Aber in eurer bestehenden Gesellschaft ist das Privateigentum für neun Zehntel ihrer Mitglieder aufgehoben; es existiert gerade dadurch, daß es für neun Zehntel nicht existiert“ (MEW 4, S. 477).

Zur Diskussion steht, wie die verschiedenen Faktoren, Produktivkräfte, Produktionsverhältnisse und Bewusstsein, zueinander stehen. Handelt es sich um eindeutige kausale Beziehungen oder sind sie funktionalistisch zu deuten? Nach Louis Althusser bricht mit der Schrift „Deutsche Ideologie“, die Marx und Engels 1845 gemeinsam veröffentlichten, eine neue Phase an. Auf die „ideologische Periode“ folge die „wissenschaftliche Periode“, in der noch die „Werke der Reifung“ und die nachfolgenden „Werke der Reife“ nach 1857 auseinander gehalten werden können. Zwar distanzieren sich die beiden Autoren der „Deutschen Ideologie“ von der Philosophie und Engels nennt ihr gemeinsames Theorieprojekt „wissenschaftlichen Sozialismus“ (MEW 19, S. 177-228), doch legen viele Interpretationen offen, inwiefern philosophische Überlegungen weiterhin eine Rolle spielen. So wird die im „Kapital“ entwickelte Werttheorie beispielsweise als „Metaphysik des Kapitalismus“ bezeichnet.

Diskontinuität und Kontinuität, beide kennzeichnen also das Verhältnis der Werkphasen zueinander. Wenn im Teil II des Handbuchs die Werke gegliedert nach philosophischen, polit-ökonomischen und politischen abgehandelt werden, umfassen die philosophischen Werke neben den oben gestreiften „Ökonomisch-Philosophischen Manuskripten“ (1844, MEW 40) insbesondere „Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie“ (1843, MEW 1), „Zur Judenfrage“ (1843, MEW 1), „Die Heilige Familie“ (1845, MEW 2), „Die deutsche Ideologie“ (1845, MEW 3), „Das Elend der Philosophie“ (1847, MEW 4) und „Grundrisse der Kritik der Politischen Ökonomie“ (1857/58, MEW 42). Hier klingt also bereits Ökonomisches an. Was die polit-ökonomische Periode betrifft, beschreibt das Handbuch über die beiden Schriften hinaus, auf die oben bereits näher eingegangen wurde, „Zur Kritik der politischen Ökonomie“ (1859, MEW 13) und „Das Kapital“ (1867, 1885, 1894, MEW 23-25), besonders Schriften aus der so genannten „Vorbereitungsphase“, die von 1850 bis 1857 dauerte. Bei den politischen Werken sind schliesslich neben journalistischen Texten „Das Manifest der Kommunistischen Partei“ (1848, MEW 4), „Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte“ (1852, MEW 8), „Der Bürgerkrieg in Frankreich“ (1871, MEW 17) sowie die Randglossen, die „Kritik des Gothaer Programms“ (1875, MEW 19), kommentiert.

Den Hauptperioden – bei aller Relativierung – entsprechend werden in Teil III philosophische Begriffe zum einen und politische Begriffe zum anderen diskutiert. Wie stellt sich Marx die Gesellschaft vor? Das Handbuch antwortet unter dem Stichwort ‚Historischer Materialismus‘: „Die Gesellschaft ist ein mehrstöckiges Gebäude, dessen Struktur von den ‚Verhältnissen‘ zwischen arbeitenden Individuen abhängt. Die Wirklichkeit der Gesellschaft ist also eine relationale Wirklichkeit. Die Pointe ist dabei, dass es sich um ‚materielle‘ Relationen in dem definierten Sinn handelt: um Relationen, die nicht vom Bewusstsein der beteiligten Individuen abhängen. Der Ausdruck ‚materiell‘ ist hier also von seinen traditionellen Assoziationen an ‚Stoff‘ oder Substanz gelöst. Marx war, wie man heute eher sagen würde, Realist im Hinblick auf (soziale) Relationen“ (S. 206).

In den „Grundrissen der Kritik der politischen Ökonomie“ bringt Marx den Akt der wechselseitigen Hervorbringung schön auf den Punkt, die der Auffassung einer relationalen Soziologie Pate stand: „Endlich als Resultat des Produktions- und Verwertungsprozesses erscheint vor allem die Reproduktion und Neuproduktion des Verhältnisses von Kapital und Arbeit selbst, von Kapitalist und Arbeiter. Dies soziale Verhältnis, Produktionsverhältnis, erscheint in fact als ein noch wichtigeres Resultat des Prozesses als seine materiellen Resultate. Und zwar produziert innerhalb dieses Prozesses der Arbeiter sich selbst als Arbeitsvermögen und das ihm gegenüberstehende Kapital, wie andrerseits der Kapitalist sich produziert als Kapital und das ihm gegenüberstehende lebendige Arbeitsvermögen. Jedes reproduziert sich selbst, indem es sein andres, seine Negation reproduziert. Der Kapitalist produziert die Arbeit als fremde; die Arbeit produziert das Produkt als fremdes. Der Kapitalist produziert den Arbeiter und der Arbeiter den Kapitalisten etc.“ (MEW 42, S. 371).

Ein naturgeschichtlicher Prozess bringe diese Relation hervor, wie Marx im Vorwort zum „Kapital“ schreibt: „Die Gestalten von Kapitalist und Grundeigentümer zeichne ich keineswegs in rosigem Licht. Aber es handelt sich hier um die Personen nur, soweit sie die Personifikation ökonomischer Kategorien sind, Träger von bestimmten Klassenverhältnissen und Interessen. Weniger als jeder andere kann mein Standpunkt, der die Entwicklung der ökonomischen Gesellschaftsformation als einen naturgeschichtlichen Prozeß auffaßt, den einzelnen verantwortlich machen für Verhältnisse, deren Geschöpf er sozial bleibt, sosehr er sich auch subjektiv über sie erheben mag“ (MEW 23, S. 16). Dazu heisst es im „Kapital“ weiter: „Die Natur produziert nicht auf der einen Seite Geld- oder Warenbesitzer und auf der andren bloße Besitzer der eignen Arbeitskräfte. Dies Verhältnis ist kein naturgeschichtliches und ebensowenig ein gesellschaftliches, das allen Geschichtsperioden gemein wäre. Es ist offenbar selbst das Resultat einer vorhergegangenen historischen Entwicklung, das Produkt vieler ökonomischen Umwälzungen, des Untergangs einer ganzen Reihe älterer Formationen der gesellschaftlichen Produktion“ (MEW 23, S. 183).

Eine Klasse hat aber erst noch für sich selber eine Klasse zu werden: „Die ökonomischen Verhältnisse haben zuerst die Masse der Bevölkerung in Arbeiter verwandelt. Die Herrschaft des Kapitals hat für diese Masse eine gemeinsame Situation, gemeinsame Interessen geschaffen. So ist diese Masse bereits eine Klasse gegenüber dem Kapital, aber noch nicht für sich selbst. In dem Kampf, den wir nur in einigen Phasen gekennzeichnet haben, findet sich diese Masse zusammen, konstituiert sie sich als Klasse für sich selbst. Die Interessen, welche sie verteidigt, werden Klasseninteressen. Aber der Kampf von Klasse gegen Klasse ist ein politischer Kampf“ (MEW 4, S. 180f.).

„Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen“ (MEW 4, S. 462), hebt der bekannteste politische Text aus der Feder von Marx und Engels, das „Manifest der kommunistischen Partei“, denn an. Hier analysieren sie im ersten der vier Abschnitte das Verhältnis von „Bourgeois und Proletarier“ genau. Nebenbei erwähnen sie zwei weitere Klassen: einerseits die Mittelstände, das sind „der kleine Industrielle, der kleine Kaufmann, der Handwerker, der Bauer“, andererseits das Lumpenproletariat, „diese passive Verfaulung der untersten Schichten der alten Gesellschaft“ (MEW 4, S. 472). Im Vorwort zur Ausgabe von 1872 schreiben die beiden Autoren, „die in diesem ‚Manifest‘ entwickelten allgemeinen Grundsätze behalten im ganzen und großen auch heute noch ihre volle Richtigkeit. Einzelnes wäre hier und da zu bessern“ (MEW 18, S. 95).

Im berühmten Brief an Annenkow aus dem Jahr 1846 hält Marx zunächst fest, dass das wechselseitige Handeln der Menschen die Gesellschaft hervorbringe. Und er reiht eine Folge von Verknüpfungen auf, die von den Produktivkräften ausgehen: „Was ist die Gesellschaft, welches immer auch ihre Form sei? Das Produkt des wechselseitigen Handelns der Menschen. Steht es den Menschen frei, diese oder jene Gesellschaftsform zu wählen? Keineswegs. Setzen Sie einen bestimmten Entwicklungsstand der Produktivkräfte der Menschen voraus, und Sie erhalten eine bestimmte Form des Verkehrs [commerce] und der Konsumtion. Setzen Sie bestimmte Stufen der Entwicklung der Produktion, des Verkehrs und der Konsumtion voraus, und Sie erhalten eine entsprechende soziale Ordnung, eine entsprechende Organisation der Familie, der Stände oder der Klassen, mit einem Wort, eine entsprechende Gesellschaft [société civile]. Setzen Sie eine solche Gesellschaft voraus, und Sie erhalten eine entsprechende politische Ordnung [état politique], die nur der offizielle Ausdruck der Gesellschaft ist“ (MEW 27, S. 452). Die Reihe führt also von den Produktivkräften über Produktion, Handel, Konsum zur Zivilgesellschaft (soziale Ordnung: Familie, Stände, Klassen) und schliesslich zur politischen Ordnung. Das impliziert die Ausdifferenzierung von Wirtschaft, Zivilgesellschaft und Politik.

Eine andere Reihe lässt folgende Äusserung erkennen: „Eure Ideen selbst sind Erzeugnisse der bürgerlichen Produktions- und Eigentumsverhältnisse, wie euer Recht nur der zum Gesetz erhobene Wille eurer Klasse ist, ein Wille, dessen Inhalt gegeben ist in den materiellen Lebensbedingungen eurer Klasse“ (MEW 4, S. 477). Hier führt die Verknüpfung von den Produktions- und Eigentumsverhältnissen (materielle Lebensbedingungen) über den Willen zum Recht bzw. zu den Ideen.

Man kann sich angesichts all dessen fragen, inwiefern diese Sichtweisen in den mittleren Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts neu waren. 1852 schrieb Marx in einem Brief, welchen Neuigkeitsanspruch er mit seinen Gedanken erhob: „Was mich nun betrifft, so gebührt mir nicht das Verdienst, weder die Existenz der Klassen in der modernen Gesellschaft noch ihren Kampf unter sich entdeckt zu haben. Bürgerliche Geschichtschreiber hatten längst vor mir die historische Entwicklung dieses Kampfes der Klassen, und bürgerliche Ökonomen die ökonomische Anatomie derselben dargestellt. Was ich neu tat, war 1. nachzuweisen, daß die Existenz der Klassen bloß an bestimmte historische Entwicklungsphasen der Produktion gebunden ist; 2. daß der Klassenkampf notwendig zur Diktatur des Proletariats führt; 3. daß diese Diktatur selbst nur den Übergang zur Aufhebung aller Klassen und zu einer klassenlosen Gesellschaft bildet“ (MEW 28, S. 507f.).

Diskussion

Seit der Ausdehnung von „Industrie, Handel, Schiffahrt, Eisenbahnen“ (MEW 4, S. 464) auf einem Weltmarkt, soweit die prominent aufgeführten Charakteristika im „Manifest der Kommunistischen Partei“, haben sich die Lebensbedingungen für Menschen sehr verändert. Was bieten Marx und Engels uns Heutigen noch? Sind sie gar nur noch von wissenschaftsgeschichtlichem Interesse? Eine Antwort auf diese Fragen muss differenziert ausfallen. Sie fällt nicht leicht, und dies aus drei hauptsächlichen Gründen: Erstens stehen sich im Werk selber zwei Phasen gegenüber, wobei von Texten der einen Phase zu solchen der anderen durchaus Gedankenlinien führen. Es liegt denn keine einheitliche Gesellschaftstheorie vor. Zweitens sind sich in der Folge die Interpretinnen und Interpreten oftmals nicht einig, und zwar durchaus auch hinsichtlich zentraler Punkte der Debatte. Die Anschlüsse sind überdies so weit verzweigt, dass ein weit reichender Überblick nicht mehr möglich ist. Und drittens haben weitere industrielle Revolutionen die Lebensverhältnisse seit den Tagen von Marx und Engels völlig verändert.

Das Handbuch bietet in Kombination mit den im Internet vollständig zugänglichen Marx-Engels-Werken eine ausgezeichnete Möglichkeit, auf die gestellten Fragen für sich selber Antworten zu finden. Es ist gut strukturiert, und die Beiträge sind kompetent und verständlich verfasst. Die Vielfalt der Themen ist enorm.

Zuweilen vermisst man die Erwähnung von Autorinnen und Autoren, die sich in der Sekundärliteratur, gerade auch der deutschsprachigen, in den letzten Jahrzehnten einen Namen gemacht haben. Und bei den „Realisierungsversuchen“ nur auf Lenin und Mao einzugehen, verpasst die Gelegenheit, die Relevanz des Werks in der 68er-Bewegung, den nationalen Befreiungsbewegungen, den linken politischen Parteien und der zeitgenössischen Globalisierungskritik aufzuzeigen.

Fazit

Das Handbuch eignet sich bestens für Bemühungen, auf dem weiten Planeten des Marxschen (und Engelsschen) Œuvres Orientierung zu finden. Die zugrunde gelegten mehreren Gliederungsprinzipien haben zur Folge, dass sich viele Anschlussmöglichkeiten ergeben und sich die Vielfältigkeit des Denkens und Wirkens von Marx und seinem Mitstreiter zu offenbaren vermag. Nicht nur legt das Handbuch Begriffssystematik und Werkbiographie einzeln dar, sondern es räumt auch der mannigfaltigen Rezeption in den verschiedenen Disziplinen und Denkrichtungen viel Platz ein. Damit erleichtert es die Auseinandersetzung mit dem behandelten Werk sehr.

Rezension von
Prof. Dr. Gregor Husi
Professor an der Hochschule Luzern (Schweiz). Ko-Autor von „Der Geist des Demokratismus – Modernisierung als Verwirklichung von Freiheit, Gleichheit und Sicherheit“. Aktuelle Publikation (zusammen mit Simone Villiger): „Sozialarbeit, Sozialpädagogik, Soziokulturelle Animation“ (http://interact.hslu.ch)
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Es gibt 41 Rezensionen von Gregor Husi.

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ISSN 2190-9245