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Viktoria Bergschmidt: Konstruktionen „verworfener“ Subjekte

Rezensiert von Prof. Dr. Gundula Barsch, 20.04.2015

Cover Viktoria Bergschmidt: Konstruktionen „verworfener“ Subjekte ISBN 978-3-8379-2348-3

Viktoria Bergschmidt: Konstruktionen „verworfener“ Subjekte. Eine ethnografisch-diskursanalytische Untersuchung am Beispiel von Drogenabhängigen ohne deutschen Pass. Psychosozial-Verlag GmbH & Co. KG (Gießen) 2014. 621 Seiten. ISBN 978-3-8379-2348-3. D: 69,90 EUR, A: 71,90 EUR, CH: 93,50 sFr.

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Thema und Entstehungshintergrund

Ausgangspunkt der vorgelegten Publikation ist die immense mediale Aufmerksamkeit, die die Kombination der Themen „junge Männer mit Migrationshintergrund, Delinquenz, Gewalt, Drogenhandel und Drogenabhängigkeit“ in Deutschland immer wieder bekommt. In diesen Bezügen wird regelmäßig auch eine besondere Gefährlichkeit von „drogenabhängigen und dealenden Ausländern“ konstruiert, die im Alltag wiederum oft den Ausschluss aus sozialen und therapeutischen Hilfen und eine schnelle Abschiebung begründet. Im eigentümlichen Kontrast dazu existieren jedoch nur wenige empirische Untersuchungen, die die realen Fakten, Hintergründe und Problemlagen rund um diese Personengruppe klarer nachzeichnen, deren besonderen Hilfe- und Unterstützungsbedarfe im Rahmen des gegenwärtig möglichen psychosozialen und gesundheitlichen Hilfesystems aufblenden und eine sachgerechte Einordnung der Auffälligkeit dieser Gruppe im Gesamtkontext von Drogenkonsum und Delinquenz in Deutschland vornehmen.

Vor diesem Hintergrund stellt sich die Autorin der Frage, welche Auswirkungen die gegenwärtigen ausländer-, sozial-, staatszugehörigkeits- und betäubungsrechtlichen Regulierungen auf die Entwicklung problematischer Problembündelungen haben, für die es dann nur sehr enge Limits für Hilfe und Unterstützung gibt und die zudem Rahmenbedingungen erzeugen, die zu einem engen Handlungskorsett werden – dies nicht nur in Bezug auf die betroffenen Personengruppen, sondern auch auf das Hilfesystem, das sich dieser Menschen und ihrer Nöten annimmt und das mit seinem Hilfealltag in den Einrichtungen der Drogenhilfe, den Handlungsmöglichkeiten der Mitarbeiter und den Therapieverläufen der Klienten kaum über reale Handlungsmöglichkeiten verfügt.

Aufbau und Inhalt

Die Autorin stellt in ihrem Werk zunächst die Problematisierungsweisen für „Drogenabhängige Migrant_innen“ dar, erläutert sodann die von ihr gewählten theoretischen und methodischen Zugänge zu diesem Thema als Ganzes als auch zu ihren Analysepfaden, ehe sie mit ihrem anspruchsvollen empirischen Methodenapparat versucht, die Komplexität des Prozesses der Subjektivierung betroffener Männern mit Migrationshintergrund und Einschnitten in der Biografie in Form von Drogenabhängigkeit und Kriminalität einzufangen. Diese Ergebnisse ergänzt Frau Bergschmidt durch eine genealogische Analyse betäubungs- und aufenthaltsrechtlicher Regelungen, aus denen sie ableitet, welche hier angelegten Konstrukte eine explizite Zuschreibung der Betroffenen als „degenerierte, verworfene, gefährliche“, auf jeden Fall aber „gefährliche Subjekte“ ermöglichen – Etikettierungen, die für Migrant_innen regelmäßig vorgenommen werden und die den Weg dafür öffnen, auch politisch und verwaltungsrechtlich den Weg der Stigmatisierung bis hin zur totalen Ausgrenzung in Form von Ausweisung und Abschiebung konsequent zum Ende zu führen – eine Konsequenz, die deutschen Drogenkonsumenten in der Regel durch andere Auslegungsarten erspart bleibt.

Frau Bergschmidt legt ihrer theoretische Näherung die Ideen Foucaults zur Analytik der Bio-Macht, aber auch postkolonialen Analyseansätze und Ansätze einer Critical-Whiteness-Theory zu Grunde. Deshalb gelingt es ihr auf bemerkenswerte Weise, sich als weiße, weibliche, deutsche Forscherin immer wieder in die Reflexionsprozesse der eigenen Forschungsperspektive einzubeziehen und kritisch zu befragen.

Die eigentliche empirische Arbeit erfolgt mit einer Methodenkombination: Dazu wird zum einen eine diskursanalytische Forschungsperspektive genutzt, mit der Prozesse der Regulation und Selbstkonstruktion „ausländischer Drogenabhängiger“ aufgeklärt werden sollen, die ihrerseits durch teilnehmende Beobachtungen, narrativ-biografische Interviews und Experteninterviews mit empirischen Belegen gefüllt werden. Diese beiden Forschungsstrategien werden nicht einfach nur miteinander kombiniert und ethnografisch und diskursanalytisch verschränkt. Vielmehr werden die so erarbeiteten Aussagen der Logik und Genealogie der juridischen Regelungen gegenüber gestellt. Die unmittelbare empirische Datensammlung erfolgt über eine Drogenhilfeeinrichtung, die ihre Angebote explizit an drogenabhängige Immigranten offeriert. Es handelt sich dabei in erster Linie um türkische Männer, weshalb folgerichtige Diskurse über Männlichkeit, Drogenabhängigkeit, Rasse/Ethnizität im Forschungsbezug auftauchen und in den Interviews ebenfalls narrativ miteinander verwoben werden.

Mehr als vierhundert Seiten mit empirischen Befunden, die immer wieder auch theoretisch gewendet werden, bilden einen Fundus an Einblick in und Enttarnung von Disziplinar- und Regulierungstechniken, die schließlich in das Selbst- und Fremdkonstrukt „verworfener Subjekte“ eingehen. Von diesen bis zu den regelmäßig auftauchenden und medial in Szene gesetzten ausländischen Verführern und Dealern, die „uns“, vor allem aber „unsere Kinder“ schädigen, ist es dann nur noch ein kleiner Schritt, der allerdings nach dem Lesen dieser Arbeit fundiert durchschaut werden kann.

Die vorgelegten empirischen Befunde, in denen an Hand von Dokumentenanalysen, teilnehmender Beobachtung und Experteninterviews eine interkulturelle sozialtherapeutische Drogenlangzeittherapieeinrichtung für Menschen mit türkischem und arabischem Hintergrund portraitiert wird, laden ein, die vorgelegten Ergebnissen intensiver aufzublenden. Dabei rückt in die Aufmerksamkeit der Autorin nicht nur die spannungsgeladene Arbeit der Mitarbeiter unter dem Damoklesschwert „Ausweisung“. Spannend sind auch die Beschreibungen des Zugangs der Forscherin zu ihrem Forschungsfeld, bei dem sie sich gegen diverse Widerstände und Vereinnahmungsstrategien durchsetzen musste. Die Beschreibung der Alltagsroutinen und Psycho-Diskurse aus dem Blickwinkel einer Betrachtung der Einrichtung als Disziplinär- und Selbstdisziplinierungstechnologie vermittelt Denkanstöße, die für suchttherapeutische Einrichtungen allgemein gelten.

Ein nächster Analyseschritt ist den Selbstkonstruktionen der Klienten der Einrichtung gewidmet, der die Autorin mit narrativ-biografischen Interviews näher kommt. Diese werden insbesondere entlang der Achsen Rasse/Ethnizität, Männlichkeit und Drogenabhängigkeit beforscht. Auch für diesen Teil der Arbeit vermittelt das Aufdecken, wie die Psycho-Diskurse der Einrichtung – hier Sucht als Ursache von Beziehungsstörungen – schließlich von den Klienten in die Konstruktion des eigenen Selbstbildes übernommen werden, einen interessanten Einblick in die Wirkmechanismen suchttherapeutischer Ansätze, die wiederum allgemeingültig sind.

An diesen empirischen Arbeitsschritt, der unmittelbar an den Mitarbeitern und Klienten der Einrichtung orientiert ist, schließt sich eine Auseinandersetzung mit der Logik und Genealogie des Betäubungsmittelgesetzes und des Aufenthaltsgesetzes an. Dazu arbeitet die Autorin heraus, dass die Überschneidung beider gesetzlicher Regulierungen zu einer gravierenden und lebensbedrohlichen Benachteiligung von drogenkonsumierenden Ausländern führen. In der ihr eigenen Gründlichkeit geht die Autorin der Frage nach, wie diese Rechtsgrundlagen historisch entstanden sind und aus aus welchen Elementen sich diese speisen. Damit geraten Konstrukte wie „Degenerationsgefahren“, „Abwehr unerwünschter Elemente“, „Sucht als gefährlicher Zustand“ und die weitreichende Auslegung des Begriffs „Volksgesundheit“ in den Blick. Das Nachzeichnen der daran geknüpften historischen Bezüge ist für sich eine eigenständige Forschungsfrage, weshalb die Autorin ihre Argumentation auch eher entlang anderer Autoren entwickelt. Wie sie über die Auswahl der zitierten Autoren dazu jedoch ein kritisches Bild entwirft, das wiederum Allgemeingültigkeit auch für bis heute aktuelle Bezüge hat, dürfte wieder lesenswert sein auch für diejenigen, die sich dem Fokus „drogenkonsumierende Ausländer“ bisher nicht zugewendet haben. Das interessante Nachzeichnen der rassenhygienischen und rassifizierenden Diskurse, die bei der Entstehungsgeschichte des Opiumgesetzes eingingen, das dem BtmG voranging, und die Zusammenschau der aktuellen gesetzgeberischen Verschränkungen in Zusammenhang mit Migranten und Ausländern führen zu dem bestürzenden Ergebnis, dass für deutsche und ausländische Drogenkonsumenten höchst unterschiedliche Regulierungslogik existiert. Diese stellt bei den einen auf eine Hinführung zur Therapie und bei den anderen auf eine Gefahrenabwehr ab und hat zur Folge, dass Migranten und Ausländern rasch abgeschoben werden, selbst wenn diese hier geboren und aufgewachsen sind.

Hintergrund dafür sind historische Bezüge, deren Leitideen mit dem Bemühen um „Abwehr unerwünschter Elemente“ bereits im 19. Jahrhundert argumentierten und schon damals mit Massenausweisungen, Grenzsperrungen und ethnisierender Siedlungspolitik umgesetzt wurden. Wieder kommt man nicht um eine Empfehlung herum, diese Passagen der Arbeit mit der Intention der Eineignung von Grundwissen rund um die Ausländerpolitik Deutschlands zu lesen. Immerhin wurden diese Kernideen durch Regulierungen in Zusammenhang mit dem Reichs- und Staatszugehörigkeitsgesetz von 1913 verfestigt und findet sich bis heute in der Praxis wieder, Ausweisung nicht mehr nur als Strafe für schwere Delikte zu handhaben, sondern als ein, auf fremde Staatszugehörigkeit beschränktes bevölkerungspolitisches Instrument zu nutzen – ein Instrument, das ursprünglich damit argumentierte, eine „Überflutung durch ethnisch unterwertige Volksteile“ verhindern zu wollen. Es ist bedrückend, wie aktuell diese Aussagen aus dem vorigen Jahrhundert noch immer sind. Immerhin wird auch heute noch darüber diskutiert, wie durch Zuzug die deutsche Bevölkerung nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ entwickelt werden kann. Die Argumentation mit gefährlichen, politischen und ökonomischen Charakteristika und mit der öffentlichen Gesundheit scheinen die Fähigkeit einer permanenten Wiederauferstehung zu haben.

In letzten Teil der Arbeit versucht die Autorin eine Zusammenschau ihres mehr als umfangreichen Fundus. Nochmals stellt sie die Kontinuitäten von Gefährlichkeitskonstruktionen im medialen Diskurs um drogenkonsumierenden Ausländer dar, die regelmäßig als Dealer einen besonders gefährlichen Status erhalten. Die nach 2001erlassenen Antiterrorgesetze haben dem nicht nur weitere Konstrukte von Gefährung hinzugefügt, sondern durch das Ziel der präventiven Gefahrenabwehr und bestimmten Nützlichkeitskriterien für Ausländer in Deutschland weitere Verengungen und diskriminierende Wertungen hinzugefügt. Diese führen schließlich zu einer doppelten Bestrafung drogenkonsumierender Ausländer, die sowohl im öffentlichen Diskurs, als auch durch Übernahme dieser Zuweisungen in ihr eigenes Selbstbild Aspekte „verworfener Subjekte“ zuerkannt bekommen. Sehr spät löst die Autorin damit den von ihr gewählten Titel ihrer Arbeit auf: Verworfene Subjekte sind Menschen, deren Verlust nicht betrauernswert und auch politisch ohne folgenreiche Empörung bleibt. Die Autorin entlässt ihre Leser mit dem bedrückenden Bild, dass die Ausweisung für den Betroffenen in der Regel bedeutet, dass sein Status als ein autonomes Subjekt mit für seine Existenz grundlegenden Rechten vollständig verloren geht (u. a. Krankenversorgung, Sozialhilfe, körperliche Unversehrtheit, Aufenthalt) und es nicht einmal mehr ein öffentliches Interesse gibt, diesen Menschen zu einer Therapie zu bewegen oder zu bestrafen. „Verworfene Subjekte“ sind einfach nur noch Anstoß für Ekel, Horror, Verachtung und Hass. Ein menschliches Antlitz, dem Empathie, Anteilnahme und Solidarität zusteht, gibt es damit nicht mehr.

Fazit

Das Werk ist eine höchst umfangreiche Darlegung, die sich dadurch auszeichnet, dass alle behandelten Facetten auf dem Weg zur Erkenntnis – von der theoretischen Fundierung, über die Auseinandersetzung mit den gewählten Forschungsstrategien bis hin zu dem vielschichtigen Auswertungsprozess, kleinteilig dargelegt und jeder Gedanken- und Arbeitsgang und oft auch seine Verzweigungen diskursiv gewendet und abgewogen werden. Erst mit größter Umsicht und mit viel Bedacht werden schließlich die Ergebnisse der Forschung vorgelegt. Auf diese Weise wird der inhaltsschwere und komplexe Arbeitsweg nachvollziehbar, bis endlich die empirischen Befunde mit entsprechend kritischen Näherungen an den Umgang der deutschen Kultur an das Phänomen des Konsums illegalisierter Substanzen durch Menschen mit Migrationshintergrund vorgelegt werden können. Insofern ist dieses Buch in seiner Gesamtanlage geradezu ein Lehrbuch für diejenigen, die sich einem sozialwissenschaftlichen Arbeits- und Forschungsprozess stellen wollen und erleichtert denjenigen, die eine solche anspruchsvolle Arbeit begleiten, Auseinandersetzungen und Hilfestellungen, wenn für die Verwobenheit sozialer Phänomene sensibilisiert werden muss. Leider verhindert diese Fülle an Informationen jedoch, die Essentiales dieser Arbeit in ihre ganzen Bedeutung zur Kenntnis zu nehmen und in den Prozess einer öffentlichen Debatte mit dem Ziel zu überführen, grundsätzliche Änderungen in der sozialen Verfasstheit der deutsche Kultur in Angriff zu nehmen. Insofern kann die Autorin nur ermutigt werden, mit einem Abstand von dem eigentlichen aufwendigen und anspruchsvollen Forschungsprozess einen Reader zu erstellen, der von der Darstellung der vielen Zwischenüberlegungen und Seitenwege absieht und die erarbeiteten empirischen Ergebnisse zum Ausgangspunkt macht, von dem aus notwendige kurz-, mittel- und langfristige Änderungen im Umgang mit ausländischen Drogenkonsumenten ausgewiesen werden.

Rezension von
Prof. Dr. Gundula Barsch
Hochschule Merseburg
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Es gibt 23 Rezensionen von Gundula Barsch.

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Zitiervorschlag
Gundula Barsch. Rezension vom 20.04.2015 zu: Viktoria Bergschmidt: Konstruktionen „verworfener“ Subjekte. Eine ethnografisch-diskursanalytische Untersuchung am Beispiel von Drogenabhängigen ohne deutschen Pass. Psychosozial-Verlag GmbH & Co. KG (Gießen) 2014. ISBN 978-3-8379-2348-3. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/17531.php, Datum des Zugriffs 10.10.2024.


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