Monika Götsch: Sozialisation heteronormativen Wissens
Rezensiert von Prof. Dr. Heinz-Jürgen Voß, 23.09.2014
Monika Götsch: Sozialisation heteronormativen Wissens. Wie Jugendliche Sexualität und Geschlecht erzählen. Verlag Barbara Budrich GmbH (Opladen, Berlin, Toronto) 2014. 290 Seiten. ISBN 978-3-86388-075-0. D: 36,00 EUR, A: 37,10 EUR, CH: 47,90 sFr.
Heteronormativität unter Jugendlichen
In ihrer Untersuchung, die zugleich die Dissertation darstellt, geht die Autorin Monika Götsch der Frage der heteronormativen Sozialisation von Jugendlichen in der Bundesrepublik Deutschland nach. Wollte sie dabei zeigen, dass sich „mit der Zunahme der sexuellen Erfahrungen“ das „heteronormative [] Wissen“ verfestige (S. 259), erwies sich, „dass die Jugendlichen altersübergreifend ihre sexuellen Erfahrungen entsprechend ihres heteronormativen Wissens ordnen und plausiblisieren, dass sie die Erzählungen lediglich mit den passenden Erfahrungen anreichern und dadurch bestätigen. Offensichtlich wurde dies daran, dass die Erzählungen über alle Altersgruppen hinweg ihre Erzählfiguren, Logiken, Normen und Mythen beibehalten.“ (ebd.)
Anlage der Studie und Ergebnisse
Die Basis von Götschs Studie stellen Interviews mit 51 Jugendlichen unterschiedlichen Alters einer Kleinstadt dar, die in 14 Gruppendiskussionen sowie – ergänzend – 11 Einzelgesprächen gewonnen wurden (S. 95). Die Jugendlichen waren zwischen 12 und 20 Jahre alt, wobei sich die Gruppen gleichaltrig entsprechend der Klassenstufe zusammensetzten. 21 Befragte waren in der 7. Klasse und durchschnittlich 13 Jahre alt, darunter 17 Mädchen und vier Jungs. Elf waren in der 9. Klasse (fünf Mädchen, sechs Jungs). Hinzu kamen 19 Berufsschüler_innen um die 18 Jahre (zehn junge Frauen und neun junge Männer).
Aus den Erzählungen der Jugendlichen zeigt sich einerseits ein Verständnis davon, was ‚typisch weiblich‘ oder ‚typisch männlich‘ sei. Dabei werden Sehnsüchte nach festen und ehrlichen Liebesbeziehungen geäußert und zu einmaligen und schnellen sexuellen Kontakten abgegrenzt. Mit Sex müssten ‚beide‘ Beteiligte – das Mädchen und der Junge – einverstanden sein (S. 212). Jungs sollten „‚freundlich‘, ‚hilfsbereit‘, ‚sozial‘, ‚voll fürsorglich‘“ (S. 224) sein, wogegen der „‚Schläger‘, ‚Macho‘, ‚Obermacker‘“ (S. 227) abgelehnt werde; dennoch könnten sich Mädchen und junge Frauen durch den männlichen Partner zum Sex genötigt fühlen (S. 228). Vor dem Hintergrund der Heterogenität der Gruppe und der nur punktuellen Spezifizierung der Aussagen in der Darstellung sowie des Stands der Forschungen u.a. der Genderstudies zur Geschlechtssozialisation sind die Aussagen wenig überraschend. Interessant – und weitere Untersuchungen wert – ist der Aspekt, dass das Wissen der Jugendlichen über Transsexualität als recht ausgeprägt erscheint. Finden sich zwar in den entsprechenden Passagen der Jugendlichen auch Negativzuschreibungen, so wird durch die Gelassenheit der Thematisierung auch eine gewisse Selbstverständlichkeit von Transsexualität deutlich (S. 165). Die Jugendlichen zeigen sich in den Interviews geradezu bemüht, sich als tolerant und emanzipatorisch auszuweisen und gegenüber anderen Personengruppen abzugrenzen, insbesondere gegenüber den Eltern (S. 113-134), aber auch rassistisch (S. 125-126). In letzterer Zuschreibung bündeln sich möglicherweise Diskurse, die schon im Band „Karriere eines konstruierten Gegensatzes: Zehn Jahre ‚Muslime versus Schwule‘. Sexualpolitiken seit dem 11. September“, herausgegeben von Koray Y?lmaz-Günay, kritisch thematisiert wurden.
Diskussion
Solche kritischen Arbeiten zieht die Autorin leider nicht heran, wie aus dem theoretischen Teil ihrer Arbeit hervorgeht, der den qualitativen Interviews vorangestellt ist und etwa ein Drittel des Buches ausmacht. Führt sie zwar auch intersektionale Publikationen an, so setzt sie das darin liegende Potenzial nicht um. Das wird bereits dort deutlich, wo der Autorin nicht auffällt, dass die Unterscheidung in „deutsche[]“ Jugendliche und „Jugendliche[] mit Migrationshintergrund“ (S. 71) diskriminierend ausschließt, als könnten nicht Menschen mit Migrationshintergrund die deutsche Staatsangehörigkeit haben. Unreflektiert werden von ihr die Ergebnisse der so genannten Simon-Studie wiedergegeben (S. 80-81), die wegen des methodischen Vorgehens und stereotyper Zuschreibungen seit Jahren in der Kritik steht (zuletzt im Beitrag „Forschung und Soziale Arbeit zu Queer mit Rassismuserfahrungen“ von Saideh Saadat-Lendle und Zülfukar Çetin, erschienen in: Forschung im Queerformat: Aktuelle Beiträge der LSBTI*-, Queer- und Geschlechterforschung, hg. Von der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld, Bielefeld 2014: Transcript). Die übrige theoretische Basis – Geschlechterforschung, Sozialisation Jugendlicher – gibt weitreichend den aktuellen akademischen Diskussionsstand im deutschsprachigen Raum wieder.
Fazit
Monika Götsch liefert mit „Sozialisation heteronormativen Wissens“ einen Überblick über die (sexuelle) Sozialisation von Jugendlichen. Sie prüft auf zweigeschlechtliche und Hetero-Norm. Allerdings müsste der theoretische Stand nicht nur summarisch angeführt, sondern auch kritisch diskutiert werden. Die erhobenen Daten gehen auf eine kleine, zudem heterogene und qualitativ nur skizzenhaft vorgestellte, Untersuchungsgruppe zurück – ihre Aussagekraft ist damit beschränkt.
Rezension von
Prof. Dr. Heinz-Jürgen Voß
Professur Sexualwissenschaft und sexuelle Bildung
Hochschule Merseburg
FB Soziale Arbeit. Medien. Kultur
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Es gibt 61 Rezensionen von Heinz-Jürgen Voß.
Zitiervorschlag
Heinz-Jürgen Voß. Rezension vom 23.09.2014 zu:
Monika Götsch: Sozialisation heteronormativen Wissens. Wie Jugendliche Sexualität und Geschlecht erzählen. Verlag Barbara Budrich GmbH
(Opladen, Berlin, Toronto) 2014.
ISBN 978-3-86388-075-0.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/17534.php, Datum des Zugriffs 20.09.2024.
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