Susanne Gerull: Hausbesuche in der Sozialen Arbeit
Rezensiert von Svenja Lattwein, 12.12.2014

Susanne Gerull: Hausbesuche in der Sozialen Arbeit. Eine arbeitsfeldübergreifende empirische Studie. Verlag Barbara Budrich GmbH (Opladen, Berlin, Toronto) 2014. 180 Seiten. ISBN 978-3-8474-0196-4. D: 19,90 EUR, A: 20,50 EUR, CH: 28,50 sFr.
Thema
Hausbesuche gehören zum Handlungsrepertoire in vielen Feldern der Sozialen Arbeit. Die Geschichte des Hausbesuchs wird der Entstehung der Armenfürsorge zugeordnet, als bereits Mitte des 19. Jahrhunderts ehrenamtliche Helferinnen als „friendly visitors“ notleidende Familien in ihrem Zuhause besuchten. Das Doppelmandat und die damit verbundenen Forderungen an die Profession der Sozialen Arbeit zeigen, dass mit Hausbesuchen mehr verknüpft sein kann als der freundliche Besuch einer Fachkraft: Hausbesuche können ebenso – und in den meisten Fällen gleichzeitig – Kontrolle und ein Eindringen in die Lebenswelt der Betroffenen darstellen. In jedem Fall bedeuten Hausbesuche, sich in der privaten Sphäre von Adressat_innen der Sozialen Arbeit zu bewegen. Mit dieser Besonderheit des Settings, den damit verbundenen fachlichen Herausforderungen und dem Umgang von Adressat_innen und Fachkräften damit haben bisher wenige empirische Auseinandersetzungen stattgefunden.
In diese zu füllende Lücke platziert Susanne Gerull ihre empirische Studie, die in dieser Breite die erste in Deutschland zu diesem Thema ist. Erklärtes Ziel ist die Entwicklung eines arbeitsfeldübergreifenden Handlungsmodells für Hausbesuche, das die Autorin in Anlehnung an Maja Heiner und ihre Analysen als „Passungsmodell“ bezeichnet (S. 9).
Autorin
Susanne Gerull ist Professorin für Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit an der Alice Salomon Hochschule Berlin. Ihre Schwerpunkte sind Armut, Arbeitslosigkeit, Wohnungslosigkeit und niedrigschwellige Sozialarbeit.
Aufbau und Inhalt
Im Einführungskapitel des Buches beschreibt Susanne Gerull die Ausgangssituation ihrer empirischen Studie. Sie benennt kurz die Tradition des Vorgehens in der Sozialen Arbeit und wirft die Frage auf, ob „dieser nicht unerhebliche Eingriff in die Intimsphäre der Besuchten in der Praxis auch angemessen analysiert und reflektiert“ werde (S. 8). Ausgangspunkt ihrer Studie ist die Annahme, dass das Handeln bei Hausbesuchen kaum hinterfragt werde. Hausbesuche definiert die Autorin als „beruflich motivierten Besuch einer Sozialarbeiterin oder eines Sozialarbeiters in der Wohnung einer Adressatin oder eines Adressaten Sozialer Arbeit“ (S. 11). In einem anschließenden kurzen Problemaufriss, in dem die Autorin „pro und kontra“ von Hausbesuchen darlegt, schneidet sie einige fachliche Implikationen des Settings an, darunter den Umgang mit Hilfe und Kontrolle und möglichen Grenzüberschreitungen, Rollenunsicherheiten auf beiden Seiten der Hilfebeziehung aber auch Vorteile im Rahmen lebensweltorientierter Hilfeangebote (S. 12 ff.).
Susanne Gerull legt anschließend den Forschungsstand zu Hausbesuchen dar. Dabei geht sie zunächst auf die Geschichte des Hausbesuchs ein, die eng verknüpft ist mit der Geschichte der Armenfürsorge. Sie erläutert die rechtlichen Grundlagen wie die Unverletzlichkeit der Wohnung laut Art. 13 GG und die Regelungen zum Datenschutz, die bei Hausbesuchen eine besondere Bedeutung bekommen, da Besuchte weniger Kontrolle darüber haben, welche Informationen die Fachkräfte aufnehmen. In ihren weiteren Ausführungen stellt die Autorin die fachlichen und methodischen Überlegungen der aktuellen theoretischen Auseinandersetzung dar und legt hier Schwerpunkte auf Anlässe und Ziele, Dilemmata und Paradoxien, fachliche Standards und Wirksamkeit von Hausbesuchen.
Um arbeitsfeldübergreifende methodische Standards für gelingende Hausbesuche in der Sozialen Arbeit zu generieren, führte die Autorin nach einer umfassenden Literaturrecherche 19 problemzentrierte Interviews mit Fachkräften, die Hausbesuche durchführen und Adressat_innen, die Hausbesuche erlebt haben. Fachkräfte und Adressat_innen entstammen unterschiedlichen Handlungsfeldern Sozialer Arbeit, darunter Bewährungshilfe, Wohnungslosenhilfe, Schulsozialarbeit, Jugendamt und Hilfen zur Erziehung, gesetzliche Betreuung und Eingliederungshilfe nach § 53 SGB XII.
Die Auswertungskapitel fokussieren „Anlässe, Ziele und Abläufe von Hausbesuchen“ (S. 67 ff.) und „erfolgreiche und problematische Hausbesuche“ (S. 101 ff.). Die von den Befragten geschilderten Hausbesuche unterteilt die Autorin in Hausbesuche als fester Konzeptbestandteil der Arbeit, Hausbesuche nach Hinweisen Dritter, Hausbesuche zur Kontaktaufnahme, Hausbesuche auf Wunsch von Klient_innen und sonstige Anlässe. Sie betont den Einfluss der durchführenden Institution auf den Hausbesuch, da damit unterschiedliche Aufträge und Befugnisse verknüpft sein könnten. Die Befragten schildern, dass Hausbesuche, mit Ausnahme des Kinderschutzes, in der Regel angekündigt durchgeführt werden und unangekündigte Hausbesuche Reaktionen auf mangelnde Kooperationen sind. Bezüglich der Vorbereitung berichten die Befragten unterschiedliches, einige nehmen sehr konkrete Planungen vor, andere führen Hausbesuche ganz ohne Vorbereitungen durch und begründen dies mit der Unsicherheit, wie sich die Situation vor Ort gestaltet. Die befragten Klient_innen erzählen zum Teil von Orientierungslosigkeit innerhalb der eigenen Rolle beispielsweise bezüglich der Gesprächsführung, zugleich haben sie das Gefühl bei einem Hausbesuch nicht so sehr unter Druck zu stehen wie bei einem Gespräch in den Räumen einer Behörde. Ein Teil der Befragten Fachkräfte wägt die Implikationen des aufsuchenden Settings bewusst ab: So könne mit einer Einladung ins Amt deutlicher ein offizieller Rahmen gestaltet werden, während Hausbesuche eher der Beziehungsgestaltung oder dem Aufdecken von Ressourcen dienten. Vor allem im Kontext der Jugendhilfe, stellt Susanne Gerull fest, würden Hausbesuche von Klient_innen unterschiedlich wahrgenommen, je nachdem ob beispielsweise die Familienhelfer_innen oder die Fachkräfte aus dem Jugendamt ihn durchführten. Die Autorin führt dies mit Blick auf das Wächteramt auf unterschiedliche Aufträge und Befugnisse zurück. Die Nachbereitung des Hausbesuchs nehme in der Praxis wenig Platz ein – viele Fachkräfte dokumentierten im Anschluss den Hausbesuch unterschiedlich ausführlich, eine Reflexion des eigenen Handelns finde kaum statt. Im Vordergrund stehe die Besprechung des Falls.
Nicht alle Befragten halten Hausbesuche für wirkungsvoll, die meisten Fachkräfte schätzen das Vorgehen jedoch positiv für die Beziehungsgestaltung ein. Entsprechend sei es der Autorin zufolge für viele der befragten Fachkräfte ein Gradmesser für den Erfolg eines Hausbesuchs, wenn die besuchten Klient_innen sich öffnen oder gemeinsame Absprachen getroffen werden können. Als Strategien für erfolgreiche Hausbesuche nennen die Fachkräfte grundlegende Kompetenzen der Gesprächsführung oder persönliche Kompetenzen wie Empathie und Offenheit, das Einnehmen einer Gastrolle im fremden Haushalt ist für einige Fachkräfte bedeutsam. Spezielle Strategien, schließt die Autorin, würden von den Fachkräften nicht genannt.
Sowohl KlientInnen als auch Fachkräfte berichten jedoch auch von problematischen Aspekten bei Hausbesuchen, die die Autorin kategorisiert in „Hilfe und Kontrolle“, „Nähe und Distanz“, „Macht und Ohnmacht“, „Innenwelt und Schutzraum“, „Vertrauen und Fremdheit“, „Rollenwechsel“ und „Grenzüberschreitungen“. Klient_innen würden den Kontrollauftrag der Fachkräfte sehr sensibel wahrnehmen und Angst vor eventuellen Konsequenzen äußern, während Fachkräfte unterschiedliche Strategien des Umgangs verfolgten, die sich zwischen den Polen Transparenz und Verstecken bewegten. Im häuslichen Umfeld spielt in den Beschreibungen der Befragten zum Teil mangelnde Distanz eine Rolle, bis hin zu klaren Grenzüberschreitungen auf beiden Seiten, die auch beide Seiten als kränkend schildern.
Die Autorin kommt zu dem Ergebnis, dass kein methodisches Konzept, Verfahrensrichtlinien oder Standards für Hausbesuche identifiziert werden könnten. Die von den Fachkräften beschriebenen Strategien hätten allgemeine Gültigkeit für Beratungs- und Hilfekontexte in der Sozialen Arbeit. Umfassende Entscheidungen im Einzelfall über Hausbesuche oder alternative Vorgehensweisen seien von den Befragten nicht geschildert worden, was die Autorin schließen lässt, dass Hausbesuche als traditionelles Verfahren ohne Begründungs- und Reflexionsbedarf verstanden würden. Diese Ergebnisse benennt Susanne Gerull als besonders problematisch, da „das Instrument Hausbesuche die klassischen Paradoxien und Ambivalenzen der Sozialen Arbeit noch potenziert bzw. wie in einem Brennglas bündelt“ (S. 155). So verstärkten sich die Herausforderungen im Umgang mit Hilfe und Kontrolle und das Setting erfordere aufgrund der Nähe mehr Abgrenzungsfähigkeit und Rollenklarheit von Fachkräften. Der mit Hausbesuchen verbundene Rollenwechsel von Gast und Gastgeber_in könne für beide Seiten problematisch sein und verunsichern.
Die Studie schließt mit einer Struktur für eine Hausbesuchskonzeption, die die Autorin unterteilt in Planung (wie bspw. rechtliche Grundlagen, Entscheidung für/gegen Hausbesuch, Zielfestlegung, Vorbereitung), Durchführung (wie bspw. Reflexion der eigenen Rolle, Anwesende, Aktivitäten beim Hausbesuch) und Nachbereitung (wie bspw. die Reflexion des methodischen Vorgehens, Dokumentation und Evaluation).
Diskussion
Susanne Gerulls Studie ist einzuordnen in ein thematisches Feld, in dem noch viele empirische Lücken bestehen. Ihr Verdienst ist, eine erste gründliche Einordnung vorzunehmen und aufzudecken, welchen fachlichen und methodischen Fragen offen sind und einer Bearbeitung bedürfen. Zu einigen dieser Fragen liefert die Studie von Susanne Gerull erste wichtige Erkenntnisse – bisher nur theoretisch diskutierte Aspekte wie besondere Herausforderungen des Settings nehmen auch in den Erzählungen der Befragten Platz ein. Die methodische Anlage der Studie und die Interviewleitfäden im Anhang des Buches lassen jedoch vermuten, dass ein Verständnis von Handlungsstrategien zugrunde liegt, das sich auf kognitiv beschreibbare Handlungsabläufe bezieht, weshalb implizite und möglicherweise im Berufsalltag erprobte Handlungsmuster in der Analyse und bei der Schlussfolgerung der Autorin keine Berücksichtigung fanden. Dass die Studie arbeitsfeldübergreifend angelegt ist klingt zunächst vielversprechend. Beispielsweise deutet sich an, dass Hausbesuche im Rahmen eines Angebots mit aufsuchender konzeptioneller Ausrichtung sich mit Blick auf die Herangehensweise der Fachkräfte, das methodische Vorgehen und die Wahrnehmung der Fachkräfte durch die Besuchten deutlich unterscheiden von Hausbesuchen, die beispielsweise im Rahmen des Schutzauftrags bei Kindeswohlgefährdung oder zur Vorbereitung eines Haftausgangs stattfinden. Eine explizite Analyse der Anforderungen und Strukturen der Arbeitsfelder und der Folgen für das Handeln bei Hausbesuchen nimmt die Autorin jedoch nicht vor. So bleibt auch die Struktur für eine Hausbesuchskonzeption zu wenig konkret um dem selbstgesetzten Ziel, ein Handlungsmodell für Hausbesuche in Anlehnung an das Passungsmodell von Maja Heiner zu entwickeln, gerecht zu werden.
Fazit
Die vorliegende Veröffentlichung bietet aufgrund des tiefgreifend recherchierten Theorieteils, der die deutschsprachigen und internationalen Erkenntnisse und Beiträge zu Hausbesuchen darlegt, eine gute Einführung die Thematik. Der darauf folgende empirische Teil bietet einen Einblick in die Wahrnehmung von Fachkräften und Adressat_innen, jedoch geht die daraus abgeleitete Konzeption für Durchführung von Hausbesuchen aufgrund der Breite der Studie nur punktuell über allgemeine Hinweise hinaus.
Rezension von
Svenja Lattwein
wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt „Hausbesuche im Kontext des Schutzauftrags bei Kindeswohlgefährdung“ am Arbeitsbereich Sozialpädagogik der FU Berlin
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