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Alcira Mariam Alizade: Weibliche Sinnlichkeit

Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 10.09.2014

Cover Alcira Mariam Alizade: Weibliche Sinnlichkeit ISBN 978-3-95558-067-4

Alcira Mariam Alizade: Weibliche Sinnlichkeit. Brandes & Apsel (Frankfurt) 2014. 240 Seiten. ISBN 978-3-95558-067-4. D: 29,90 EUR, A: 30,80 EUR, CH: 40,90 sFr.

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Thema

Die Sinnlichkeit benötigt das Transzendente, das Schöne und Sublime, um sich von der Animalität und Perversität lösen zu können. Ob es Sinn macht, wenn ein Mann als Rezensent ein Buch vorstellt, das in der Intention behauptet, dass „Männer die weibliche Sinnlichkeit nicht begreifen können“, wie der argentinische Psychoanalytiker R. Horacio Etchegoyen in seinem Vorwort zu einer Studie zu bedenken gibt? Vielleicht geht das bei einem „leidenschaftlich geschriebene(m) und Leidenschaft erweckende(m) Buch, das nicht nur den männlichen Lesern das ‚ewig Weibliche‘… näher bringt, sondern auch das Vertrauen von Frauen in ihre Weiblichkeit stärkt“. Und es mag die Herausforderung erleichtern, weil es sich dabei um kein Déjà-vue-Geflüster, auch um keine amouröse Phantasie unter der Gürtellinie, sondern um ein Buch handelt, bei dem die Autorin aus ihrer „klinischen Erfahrung einige der Variablen herauszulösen (versucht), die in der weiblichen Sinnlichkeit am Werk sind, in der Animalität des Körpers und seiner unermesslichen Spiritualität“ zu Wort kommen.

Autorin und Herausgeberin

Die Psychoanalytikerin und Lehranalytikerin der Argentinischen Psychoanalytischen Vereinigung und der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung, Alcira Mariam Alizade (1943 – 2013), Vizepräsidentin des 1998 gegründeten Komitees für Frauen und Psychoanalyse (COMMITTEE ON WOMEN AND PSYCHOANALYSIS, COWAP) hat 1992 in spanischer Sprache das Buch La sensualidad femenina vorgelegt. Die Frankfurter Psychologin und Psychotherapeutin Sibylle Drews gibt nun, gefördert durch die Sigmund-Freud-Stiftung, in der Reihe des Frankfurter Verlags für Psychoanalyse erstmals die Studie in deutscher Sprache heraus. Der Brandes & Apsel-Verlag setzt damit die Tradition zum aktuellen, psychoanalytischen Diskurs fort. Der Rezensent hat dazu bereits die Veröffentlichungen der Bostoner interdisziplinären, psycholanalytischen Forschergruppe (Daniel N. Stern / Nadia Bruschweiler-Stern / Karlen Lyons-Ruth / Alexander C. Morgan / Jeremy P. Nahum / Louis P. Sander, Veränderungsprozesse. Ein integratives Paradigma, 2012, www.socialnet.de/rezensionen/13911.php und Daniel N. Stern, Ausdrucksformen der Vitalität, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/11513.php) vorgestellt.

Aufbau und Inhalt

Das Buch „Weibliche Sinnlichkeit“ ist in acht Kapitel gegliedert.

Im ersten thematisiert Alcira Mariam Alizade das „sinnliche Empfinden des Körpers“. Sie stellt „die Komplexität des erogenen Erlebens in seiner engen Interaktion mit der sinnlichen Empfänglichkeit“ dar. An ausgewählten klinischen Fallbeispielen zeigt sie auf, dass jedes Individuum über einen eigenen Fundus an Sinnlichkeit verfügt, der auf die menschliche Triebwelt Einfluss nimmt und sich auf den sensorischen und repräsentativen Ebenen äußert.

Im zweiten Kapitel wird das „Haut-Ich“, als Vorstufe des „Ichs“, an den Körper-Auffassungen in der Psychoanalyse diskutiert. Es ist der „steinerne Kern“, der gewissermaßen als Stabilisator bei der psychischen Entwicklung und als „Öffnung für das Sein, der inneren Freiheit und dem Zugang zur Kreativität“ dient; aber auch bei Störungen und Fehlentwicklungen zum Schlüssel für therapeutische Praxis werden kann. „Der Affektkörper präsentiert sich uns mit seinen Konflikten, seinen Modi der Abwehr, seinen Verdrängungen, Verschiebungen, Umkehrungen und Transformationen“.

Im dritten Kapitel wendet sich die Autorin gegen die in der traditionellen Psychoanalyse festgelegte Auffassung, dass die „weibliche Orgasmen“ auf narzisstischen Mangelphantasien (des fehlenden Penis) reagierten. Dabei setzt sie sich mit der Freudschen Interpretation der weiblichen Sexualität auseinander. Sie widerspricht der Meinung, dass in der „Trauer über den Verlust der Libido“ die Ursachen zu suchen seien, dass es der Frau „nicht nur an der Kraft für das Erreichen sexueller Befriedigung mangelt, sondern die darüber hinaus schwach ist und kein Recht auf sie hat“. Vielmehr „bringt der weibliche Körper seine eigenen Phantasmen hervor“. In diesem Hauptkapitel fokussiert die Autorin die verschiedenen erotischen Formen und Praktiken der weiblichen Orgasmen, des Begehrens, der Lust, des Genusses, von Überschreitungen und Obszönitäten. Die „Erfüllung des Unerfüllbaren“ findet freilich nicht im unermesslich Unmöglichen, sondern nur in der Anerkennung des Anderen, des „menschliche(n) Wesen(s) an meiner Seite“ ihr Ziel.

Mit dem Begriff der „Jungfräulichkeit“ benennt Alcira Mariam Alizade ein weibliches Kulturgut, das es zu be- und hinterfragen gilt. Die Jungfräulichkeit als Unversehrtheit und „Autoerotik des Selbst“ zeigt sich in der personen- und körperbezogenen Interpretation als „Integrität des Selbst“, als „fleischlose Sinnlichkeit (und)… Erotik ohne Körper“. Sie äußerst sich in Stolz und Schmerz, in Sieg und Niederlage, als Traum und Trauer. In der Darstellung der klinischen, psychoanalytischen Praxis zeigen sich die Problemlagen und Lösungsansätze.

Die Auseinandersetzung mit dem (männlichen) Ödipuskomplex hat in der Psychoanalyse Tradition. Mit dem „Untergang des Ödipuskomplexes bei Frauen“ eröffnet die Autorin ein weiteres Kapitel der weiblichen Sinnlichkeit. Sie analysiert vier Lebensphasen und zeigt auf, dass sich in der „Zeit der Selbstvergewisserung“ eine Zerstörung des Ödipuskomplexes bei Frauen vollzieht. „Die Vagina, die Klitoris, der Anus, die Brüste, der Mund und der Körper in seiner Gesamtheit verbinden sich mit der Ausbreitung der weiblichen Erogenität“.

Im sechsten Kapitel setzt sich die Autorin mit „Treue – Untreue“ auseinander, einem komplexen wie konträren Wertepaar, das sich im Ideal der Treue, der Dyade Mutter – Kind darstellt und sich in Anspruch und Ausschluss äußert. Die Autorin zeigt mit der gängigen Gleichung – untreuer Mann, treue Frau – die Problembereiche auf und konterkariert sie mit der Gleichung – treuer Mann, untreue Frau. Mit Fallbeispielen aus der psychoanalytischen Praxis werden Probleme und Lösungsmöglichkeiten relevant.

Das siebte Kapitel widmet sich der „Leidenschaft und leidenschaftliche(n) Sinnlichkeit“. In der Darstellung der verschiedenen Typen von Leidenschaft – mystisch, psychopathologisch, amourös und Leidenschaft zum Wissen – kommt der Triebunterwerfung im Zusammenhang mit der klinischen, psychoanalytischen Erfahrung eine besondere Bedeutung zu. „Der leidenschaftliche Mensch sehnt sich nach demjenigen, dem die Leidenschaft gilt, ohne Gegenseitigkeit“. Weil aber Leidenschaft ein unvermeidbarer Bestandteil jeden Lebens darstellt, kommt es bei der Betrachtung der weiblichen Sinnlichkeit darauf an, zwischen „Hexe“ und „Heilige“ unterscheiden zu lernen und zu erkennen: „Die Heilige und die Hexe sind mögliche Extreme, die in der Bestimmung einer jeden Frau eine Rolle spielen“.

Im achten und letzten Kapitel der Studie geht es um „weiblichen Masochismus“, um die Frage also nach der Erotik und der Conditio humana. Zum Zugang zu den adäquaten wie den widersprüchlichen Facetten der menschlichen Eigenschaften wählt die Autorin zum einen die klinische, zum anderen die psychologische Perspektive. Lust, Verlust, Leiden, Schmerz… sind aus psychoanalytischer Sicht Formen von Perversion und Triebbewältigung; sie entwicklungspsychologisch und therapeutisch zu verstehen und in eine „Ordnung der Triebe“ zu bringen, bedarf es der Erfahrung in der Erziehung, wie in der psychoanalytischen Praxis.

Fazit

Es ist nicht angebracht, die anfangs gestellte Frage beantworten zu können; noch ist es sinnvoll, Antworten auf die Frage nach der weiblichen Sinnlichkeit erwarten zu wollen. Vielmehr wird in der Studie deutlich, dass Frauen damit begonnen haben, „im Rahmen des Sagbaren etwas über die Veränderungen in ihrer Sinnlichkeit zu berichten, die von der Kultur unterdrückt und religiösen Verboten belegt worden war“. Das Buch lässt sich, für Männer und Frauen, lesen als eine Aufklärung über Sinnlichkeit, speziell der weiblichen, die ohne eine adäquate, entwicklungsbedürftige männliche Sinnlichkeit nicht zu haben und zu verstehen ist.

Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Es gibt 1683 Rezensionen von Jos Schnurer.

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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 10.09.2014 zu: Alcira Mariam Alizade: Weibliche Sinnlichkeit. Brandes & Apsel (Frankfurt) 2014. ISBN 978-3-95558-067-4. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/17558.php, Datum des Zugriffs 15.01.2025.


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