Franz Josef Wetz: Rebellion der Selbstachtung
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 31.10.2014

Franz Josef Wetz: Rebellion der Selbstachtung. Gegen Demütigung. Alibri Verlag (Aschaffenburg) 2014. 196 Seiten. ISBN 978-3-86569-177-4. D: 17,00 EUR, A: 17,50 EUR, CH: 24,50 sFr.
Selbstachtung ist die Kunst des aufrechten Gangs
Zur Selbstachtung gehören immer zwei: Ich und Du! Damit ist schon ausgedrückt, dass die Eigenschaft, die eigene Menschenwürde zu erkennen, zu haben und in Anspruch zu nehmen, immer verbunden sein muss mit der Haltung, die andere Individuen und Gesellschaften mir entgegen bringen und ermöglichen. Alle Philosophen haben zu allen Zeiten das „Selbst“ als einen Wert an sich definiert. Seit der Frage Platons, was etwas in Wahrheit und Wirklichkeit ist (tí poté estín), wird die Suche nach der eigenen Identität und dem Sosein des Menschen in immer neuen Variationen und Denkkonstrukten bedacht und benannt. Selbstachtung hat also etwas zu tun mit dem individuellen Selbst- und Lebenswert und den kulturellen Identitäten der Menschen insgesamt, und dem Selbstbewusstsein, das stetig und mühsam entwickelt, erarbeitet und verteidigt werden muss. Im philosophischen und wissenschaftlichen Denken hat Selbstachtung selbst referentielle und selbst steuernde Bedeutung, die die Selbst- und Fremdbeobachtung bedingt. Mit der in der Präambel der von den Vereinten Nationen am 10. Dezember 1948 proklamierten „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ wird ein Eckpfeiler der Selbstachtung, Menschenwürde, gesetzt: „Die Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnenden Würde und ihrer gleichen und unveräußerlichen Rechte bildet die Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt“.
Über die Menschenwürde allerdings gibt es, was nicht zuletzt der mittlerweile 66jährige Kampf um die Anerkennung der Menschenrechtsdeklaration für alle Individuen und Völker der Erde zum Ausdruck bringt, eine andauernde, ideelle und ideologisch Auseinandersetzung. Sie zeigt sich vor allem in der Kontroverse, dass mittlerweile spezifische Deklarationen, wie z. B. die von den Mitgliedsstaaten der Organisation der Islamischen Konferenz 1990 ratifizierte „Kairoer Erklärung der Menschenrechte im Islam“, oder die bereits 1981 von den Staats- und Regierungschefs der Organisation der Afrikanischen Einheit (OAU) beschlossene „Afrikanische Charta der Menschenrechte und der Rechte der Völker“, vorliegen (vgl. dazu auch: www.socialnet.de/materialien/46.php). So ist es nur konsequent, der Frage nach der Entstehung der Menschenrechte nicht nur historisch und kulturell, sondern genealogisch nachzugehen (Hans Joas, Die Sakralität der Person. Eine neue Genealogie der Menschenrechte, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/12425.php).
Entstehungshintergrund und Autor
Es ist hilfreich, will man sich des eigenen Selbstwertgefühls versichern, der biologischen, anthropologischen und gesellschaftlichen wie persönlichen Voraussetzungen für Selbstachtung bewusst zu werden. Denn falsch verstandene, ideologisch gesetzte und historisch entstandene Formen von (so genannter) Selbstachtung können leicht (und sogar selbstverständlich und nicht problematisiert) zu negativen Ausprägungen, wie Egoismus, Überheblichkeit, Selbstüberschätzung und Höherwertigkeitsvorstellungen gerinnen. Da ist es gut, sich der philosophischen Bedeutung des Menschenwerts „Achtung“ bewusst zu werden und zu fragen, wie Selbstachtung von verwandten Begriffen unterschieden werden kann, wie sich die Eigenschaft in der menschlichen Natur ausprägt und sich rechtlich und moralisch darstellt, und welche Maßnahmen zu ergreifen sind, wenn sich die Fähigkeit zur Selbstachtung durch negative Entwicklungen entweder nicht entfalten kann, oder ge- und zerstört wird. Am besten beginnt man dabei mit den individuellen, alltäglichen Erfahrungen, und greift aus auf die lokalen und globalen gesellschaftlichen und politischen Bedingungen in der Welt. Weil der grundsätzlich selbstverständlich erscheinende kategorische Imperativ – dass, wie es im Volksmund heißt, was du nicht willst, dass man dir tu´, das füg´ auch keinen andern zu – nicht selbstverständlich ist, sondern in der Familie, Schule, Beruf und Alltagsleben erworben werden muss, bedarf es der Bildung zur Selbstachtung.
Der an der Pädagogischen Hochschule in Schwäbisch-Gmünd lehrende Philosoph und Ethiker Franz Josef Wetz, geht mit seinem Buch „Rebellion der Selbstachtung“ die Thematik praktisch-pädagogisch und didaktisch an. In einer Zeitanalyse nimmt er sich vier aktuelle Krisensituationen als „Leiden der Gegenwart“ vor: Den islamistischen Terror, die globalen Aufstände gegen Entmündigung und Staatswillkür, den überreizten und ausgreifenden Individualismus in den westlichen Kulturen, und die Gleichgewichtsstörungen im Work-Life-Balance.
Aufbau und Inhalt
Franz Josef Wetz gliedert seine Analyse über „Selbstachtung“ in elf Themenbereiche.
Mit dem Stichwort „Kampf um Respekt“ setzt er sich mit dem Lebenskunst-Wert auseinander und zeigt auf, wie sich Individuen und Gesellschaften lokal und global, kollektiv, kooperativ, kontrovers und ideologisch meist aus verletzter Selbstachtungswahrnehmung und -erfahrung für deren Durchsetzung einsetzen. Weil Selbstachtung ein zerbrechliches und verletzliches Gut ist, bedarf es der intensiven, alltäglichen und anthropologischen Auseinandersetzung des vielfach „überforderten Bürgers“. Unverzichtbar ist dabei die Frage nach der Bedeutung des Einzelnen in der Gesellschaft und den Herausforderungen, ein gutes, gelingendes Leben führen zu können. Es sind Auseinandersetzungen um das Selbstwertgefühl und die Verunsicherungen und Kränkungen, die sich im philosophischen Diskurs ergeben.
Mit den Stichworten „Menschenwürde und Selbstachtung“ befasst sich der Autor mit den (scheinbaren) Widersprüchen und Imponderabilien, die diese Wertvorstellungen beinhalten. Dabei geht es um die Kontroversen, ob die Selbstwertschätzung mit dem Selbsterhaltungsstreben kongruent ist, bzw. welche Auswirkungen die dauernde Gefährdung der Selbstachtung für die menschliche Identität haben. Da ist der Fingerzeig hilfreich, wie sich in diesem Prozess „Sieger, Angeber und Narzissten“ verhalten; ebenso wie „Verlierer, Selbstzweifler und Pessimisten“ (gemacht) werden. Besonders in diesem Teil sind die zahlreichen, historischen und aktuellen Beispiele für gefährdete Selbstachtung für den Erziehungs- und Bildungsprozess bedeutsam. Die moralische Komponente, die sich in den empathischen Reaktionen wie Mitleid und Wohlwollen ausdrückt, führt allzu leicht zu Formen von „taktloser Barmherzigkeit“, die zu Entwürdigung und Beleidigung des Selbstwertgefühls führen können. Besonders im Zusammenhang mit den staatlich geregelten, wie auch privaten sozialen Hilfestellungen, kommt es darauf an, die sozialrechtlichen Bedingungen zu klären und sich bewusst zu machen: Abstands-, Beteiligungs- und Anspruchsrechte gilt es zu unterscheiden: „Eine stabile Selbstachtung bedarf sozialer Gewährleistungen“.
Gibt es im menschlichen Zusammenleben eine Werteskala, die sich in den moralischen und existentiellen Daseinsbedingungen als „Gut und Böse“ zeigen? Mit den Bewertungen „Falscher Stolz und Selbsterniedrigung“ thematisiert der Autor scheinbar ausschließliche Eigenschaften. Mit der Frage „Wem gebührt Selbstachtung?“ verweist er auf die Grad- und Grenzlinien, wie der Wert sich in konkreten Situationen gehandhabt und wahrgenommen wird; etwa beim „Sensationsschauen“, beim Slumtourismus, bei den Auseinandersetzungen zum Tragen des Kopftuchs, oder bei den Einschätzungen und Haltungen zu terroristischen und ideologischen Einschätzungen.
Mit dem Schlagwort „Deportation in die Demütigung“ setzt sich Wetz mit den Situationen auseinander, bei denen Menschen die Selbstachtung genommen wird, mit ideologischen, weltanschaulichen und scheinbar rechtlichen Begründungen.
Fazit
Das Bild vom aufrechten Gang ist ein gutes und passendes Zeichen für die Bedeutung, die Selbstachtung im individuellen und kollektiven Leben der Menschen hat. Auf die Symbolik haben Philosophen wie Menschen wie du und ich immer wieder verwiesen. In der aristotelischen Lehre wird dem anthrôpos, dem Menschen, wegen seiner aufrechten Körperhaltung eine Mittelstellung zwischen Gott und Tier zugewiesen, weil er kraft seiner Vernunft in der Lage ist, wissenschaftliche Erkenntnisse zu entwickeln, die Fähigkeit zur Bildung von Allgemeinurteilen besitzt, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden vermag, ein sittliches, auf die Zukunft gerichtetes Verhalten leben kann und in Gemeinschaft mit anderen Menschen existiert (Otfried Höffe, Aristoteles-Lexikon, Stuttgart 2005, S. 47ff). Vom Gewerkschaftsführer Markus Schleicher ist das Bekenntnis überliefert, er habe sich niemals vor einem anderen Menschen gebückt; und der Philosoph Immanuel Kant attestierte, dass „das Bücken und Schmiegen vor einem Menschen … in jedem Falle eines Menschen unwürdig sei“. Wie die schwierige Tugend „Selbstachtung“ gelebt werden kann, vermittelt der Autor in anschaulichen, historischen und Alltagsbeispielen!
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Es gibt 1613 Rezensionen von Jos Schnurer.
Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 31.10.2014 zu:
Franz Josef Wetz: Rebellion der Selbstachtung. Gegen Demütigung. Alibri Verlag
(Aschaffenburg) 2014.
ISBN 978-3-86569-177-4.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/17571.php, Datum des Zugriffs 29.09.2023.
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