Johanna Müller-Ebert: Wie Neues gelingt
Rezensiert von Prof. Dr. Dr. Hans-Peter Heekerens, 10.10.2014
Johanna Müller-Ebert: Wie Neues gelingt. Die vier Schritte zur Veränderungskompetenz. Kösel-Verlag (München) 2014. 239 Seiten. ISBN 978-3-466-30974-0. D: 19,99 EUR, A: 20,60 EUR, CH: 28,50 sFr.
Thema
Das Buch ist eines, das das Neu-Anfangen behandelt. Und wir fangen immer wieder neu an. Selbst im Moment der Geburt sind wir ja kein unbeschriebenes Blatt, sondern tragen Geschichte in uns – in Gestalt angeborener, und das heißt vererbter, in der Schwangerschaft erworbener und beim Geburtsakt hinterlassener Spuren. Was wir mit diesem Erbe anfangen ist daher immer Neu-Anfang. Der Mensch ist – sowohl im Verhältnis zu sich selbst wie in dem zum Anderen – zum Neu-Anfang „verdammt“. Aber wir sind darauf von Natur wie Gesellschaft schlecht vorbereitet. Gut, dass es nicht nur bei der Geburt eine Hebamme gibt, sondern wir bei allen Neu-Anfängen auf Hebammen-Kunst vertrauen dürfen – sei sie nun von Menschen erbracht oder Büchern wie dem vorliegenden geleistet.
Entstehungshintergrund
Das Buch kann man als Fortsetzung und Fortentwicklung des von der Autorin verfassten und 2007 (und 2014 in 5. Auflage!) im selben Verlag erschienenen Buches „Trennungskompetenz in allen Lebenslagen. Vom Loslassen, Aufhören und neu Anfangen“ (vgl. meine Rezension) ansehen. Natürlich war auch jenes Buch vom Aufhören eines übers Neu-Anfangen. Aufhören und (neu) Anfangen sind Vorder- und Rückseite derselben Medaille. Wir können nur (wieder) gut (neu) anfangen, wenn wir zuvor gut aufgehört haben.
Autorin
Die Autorin ist Diplom-Psychologin, Coach, Dozentin, Psychologische Psychotherapeutin und Wissenschaftlerin, die einer breiteren Öffentlichkeit bekannt wurde, als sie 2001 mit ihrem ersten Buch „Trennungskompetenz. Die Kunst, Psychotherapien zu beenden“ (Stuttgart: Klett-Cotta) eindrücklich vor Augen geführt hat, wie wenig professionell (wir) „Beziehungsarbeiter(innen)“ das Beenden einer Beratung oder Therapie gestalten. Mit jenem Buch hat sich die Autorin als moderne Schülerin des Freud-Schülers und Freud-Dissidenten Otto Rank (Lieberman, 2014; vgl. meine Rezension) erwiesen, und wer Rank kennt, wird im vorliegenden Buch übers Neu-Anfangen so viel “Rank“ entdecken, wie schon im Trennungs-Buch zu finden war.
Ihr Interview in der Oktober 2014 – Ausgabe von „Psychologie heute“ trägt die Überschrift „Die entscheidende Frage ist, wer will ich sein?“ (Müller-Ebert, 2014a); das ist Rank pur. Und diese Überschrift zeigt deutlicher als die des vorliegenden Buches, worum es in ihm wirklich geht. Nicht um einen (Neu-)Anfang ohne Ziel, nicht um eine (Ver-)Änderung ohne Absicht, sondern um Schritte zur Selbst-Verwirklichung. Das ist ein Wort, das mancher und manchem altmodisch erscheint, hatte es seine hohe Zeit doch im links-alternativen Milieu der 1970er und frühen 1980er (Reichard, 2014; vgl. meine Rezension). Aber es scheint mir nach wie vor das klarste Wort dafür, worin Grund und Ziel aller Selbst-Änderung zu suchen sind.
Aufbau und Inhalt
Den Kern des Buches bieten vier Teile, die gleich noch zur Sprache kommen werden. Ihm voran steht ein detailliertes Inhaltsverzeichnis und ihm folgen ein Notfallkoffer für die Reise durch Veränderungen (viel Kluges!), Nachwort und Dank (mit Blicken auf eine „Schulen„-übergreifend denkende und integrativ handelnde Psychotherapeutin), Anmerkungen (inkl. Quellennachweis) sowie Zum Nachschlagen und Weiterlesen (Literaturempfehlungen)
Teil 1: Verändern im Alltag – Einführung und Grundlagen führt die Leser(innen) in anschaulicher, unterhaltsamer und kenntnisreicher Weise in die (alltägliche) Welt der Veränderung und deren Notwenigkeit ein.
Anschließend werden im 2. Teil: Einige Überlegungen aus Psychologie, Psychotherapie und Hirnforschung zu Veränderungskompetenz dargeboten. Wer tiefer einsteigen möchte, kann dies in zwei Exkursen am Ende tun: in einem ersten zu „Identifikation, Identität, Introjektion und Verändern“ und einem zweiten über „Einige Gedanken aus der Hirnforschung zu neurologisch-psychologischen Theorien des Veränderungshandelns“.
Im 3. Teil: Damit Verändern nicht zum Kraftakt wird: Das 4-Schritte-Modell zur Veränderungskompetenz kommen wir mit dem von der Autorin entwickelten 4-Schritte-Modell (Kurzdarstellung: Müller-Ebert, 2014b) zum Herzstück des Buches. Diese vier Schritte sind folgendermaßen benannt (und beinhalten im Wesentlichen):
- Verändern beginnt von innen (Das heißt zunächst einmal, dass Verändern im hier gemeinten Sinne keine von außen, von Umständen oder Dritten vorgeschlagene, auferlegte oder gar aufgezwungene Änderung ist. Und zum anderen ist gemeint: Es gilt, den inneren Anzeichen dafür, dass eine Veränderung ansteht, Aufmerksamkeit zu widmen und Wertschätzung zukommen zu lassen.)
- “Eile mit Weile“ (Es ist die Zeit des Planens. Nicht nur des Durchspielens im eigenen Kopf, sondern auch im Gespräch mit bedeutsamen Dritten. Überstürztes Handeln ist töricht, aber Verharren gefährlich. Zumindest in Hirn und Herz muss Zukunft vorweg gedacht und -gefühlt werden.
- “Die Würfel sind gefallen, jetzt leg den Schalter um“ (Jetzt kommt das dritte „H“, die Hand, das Handeln ins Spiel. Nicht ohne die beiden andern „Hs“, sondern zusammen mit ihnen!)
- “Ich habe es gemacht!“ – Verarbeiten, sichern und Wurzeln schlagen (Die Erlebnispädagogik, der ich die Redeweise von den drei „Hs“ entlehnt habe, sieht als nächste und zwingende Phase nach der „Äktschn“ (Aktion) die „Refläktschen“ (Reflexion) vor. Gemeint ist dort wie hier, dass die Erfahrung der gelungenen Veränderung in Herz und Hirn verankert sein will und die Hand sich neue Gestaltungsfelder schafft.)
Der Darstellung der vorgenannten vier Schritte nachgeschaltet ist eine Kleine Typologie weniger gelingender Veränderungsprozesse; in dieser Buchpassage werden für jeden Schritt gesondert beispielhaft Verhalten und Gedanken dargestellt, die einer Änderung im Wege stehen (können).
Teil 4: „Und plötzlich tritt der Schluss ein“ (Karl Valentin) enthält viele Anregungen zum Nach-Denken über Verändern, Veränderungsschritte, Veränderungsstufen – und bewusst eingelegte oder sich unbewusst einstellende Zeiten des Nachsinnens darüber.
Diskussion
Das vorliegende Buch gehört zu jenen „Psycho-Ratgebern“, um die man früher, wollte man (weiterhin) als seriöser Klinischer Psychologe und ernst zu nehmender Wissenschaftler gelten, einen großen Bogen machen musste. Die Zeiten haben sich geändert, seit die Wirksamkeit solcher Ratgeber ernst genommen wird (Stichwort „Bibliotherapie“) und die Ratgeber zunehmend mehr von ausgebildeten Psychotherapeut(inn)en und ausgewiesenen Wissenschaftler(inne)n geschrieben werden. Ein solches Buch haben wir hier vor uns. Und es behandelt ein Thema von hoher Allgemeingültigkeit und breitem Interesse.
Das Buch ist fachlich fundiert und einem eingängigen Stil geschrieben, der Fach-Chinesisch weitgehend vermeidet. Mitunter finden sich Fachbegriffe, deren Verwendung sinnvoll ist und unumgänglich scheint; man nehme beispielhaft den Exkurs „Identifikation, Identität, Introjektion und Verändern“ (S. 88 – 92). Aber dann gibt es auch Stellen, an denen Fremdwortgebrauch nicht zuletzt wegen ständiger Wiederholung störend wirkt. So wird im Kapitel „Kleine Typologie weniger gelingender Veränderungsprozesse“ (S. 211 – 217) jeder Veränderungsschritt unter der Überschrift „Dysfunktionale Strategien …“ betrachtet. Ob man da nicht im zweiten, dritten und vierten Fall von „hinderlichen“, „ungeeigneten“, „störenden“ und „einschränkenden“ Strategien sprechen könnte? Aber möglichweise hat die Autorin „dysfunktional“ vorgezogen, weil es ihr weniger wertend und einschränkend erschien.
Manches gilt es sachlich richtig zu stellen. So kann und muss ich als Wahl-Münchener sagen, dass der Titel des 4. Teils mit „Und plötzlich tritt der Schluss ein“ Karl Valentin nur unvollständig wieder gibt. Vollständig heißt es: „Und plötzlich tritt am Ende der Schluss ein„; so viel Valentin muss sein. Mitunter fragt man sich, ob etwas nicht mit anderen Worten zutreffender beschrieben wäre. So lautet die Überschrift des 3. Teils „Damit Verändern nicht zum Kraftakt wird: Das 4-Schritte-Modell zur Veränderungskompetenz“. Was darunter angeboten wird, wäre aber besser mit der Überschrift „Damit Verändern nicht zum Kraftakt wird: Das 4-Schritte-Modell der Veränderungskompetenz“ beschrieben.
Schließlich gibt es fachlich-disziplinäre Meinungsunterschiede zwischen der Autorin und mir. So beim Exkurs „Einige Gedanken aus der Hirnforschung zu neurologisch-psychologischen Theorien des Veränderungshandelns“. Ich bin weitaus skeptischer, was als „gesicherte Ergebnisse“ der Hirnforschung anzusehen ist. Das spätestens seit dem uns als „gesichertes Ergebnis“ der Hirnforschung gepredigt wird, so etwas wie „freier Wille“ sei eine bloße Illusion. Wäre dem so, die Autorin müsste ihr Buch einstampfen lassen, denn es setzt jenen „von der Hirnforschung als Illusion erwiesenen“ freien Willen voraus (so wie das vor ihr Rank und ihm zuvor Friedrich Nietzsche und davor etc. getan haben). Ich halte – und darin unterscheide ich mich nicht von der Autorin – die PSI-Theorie von Julius Kuhl (nicht verwechseln mit der von Dietrich Dörner) für sehr ansprechend, aber sie kommt nach meinem Dafürhalten auch ohne „neuronalen Fundierung“, an der ich im Unterschied zur Autorin so meine Zweifel habe, aus. Was die so genannten „Beweise“ der Hirnforschung insgesamt anbelangt: die von der Hirnforschung präsentierten (beispielsweise durch moderne bildgebende Verfahren erzeugten) Artefakte bedürfen, um ihre Bedeutung zu erkennen und ihre Bedeutsamkeit zu würdigen, gründlicher und fundierter Interpretation (Prinz, 2013; vgl. www.socialnet.de/rezensionen/15341.php).
Fazit
Wem kann man das Buch empfehlen? Jeder und jedem. Denn Trennen, Neu-Anfangen und Sich-Verändern sind täglich sich stellende Herausforderungen, auch wenn wir dies nicht wahrhaben wollen. Solchem Nicht-wahr-haben-Wollen liegt oft ein Nicht-wahr-haben-Können zu Grunde: Es wäre für das Ich zu bedrohlich, müsste es vollends realisieren, dass ihm die Kräfte zu einem wirklichen Neuanfang fehlen. Wo hier Psychotherapie notwendig ist und wo ein kluger Ratgeber wie der vorliegende ausreicht, kann man (und frau) nur im Einzelfalle entscheiden.
Aber das Buch ist ja nicht nur als „Selbst-Hilfe„-Buch geeignet, es bietet sich auch als „Fremd-Hilfe„-Buch all jenen professionellen Berater(inne)n und Beziehungsarbeiter(innen) an, die außerhalb des Geländes, das hierzulande mit „Psychotherapie“ markiert ist, Menschen beim Sich-Verändern und Neu-Anfangen hilfreich zur Seite stehen (oder besser: gehen). Auf S. 4 des Buches findet sich gleichsam als Widmung „Für alle Mutigen auf dem Weg zur Veränderung“. Aus Abstand betrachtet, müsste die Widmung heißen: Für all jene Mutigen auf dem Weg zur Veränderung, die ein Selbsthilfe-Buch zur Ressource machen können. Soziale Arbeit könnte und müsste da helfend eingreifen, wo zumindest eine der beiden Bedingungen nicht gegeben: wo es (noch) an Mut fehlt und/oder wo es an der Kompetenz mangelt, sich Selbsthilfe-Bücher zur Hilfe zu machen.
Ergänzende Literaturnachweise
- Müller-Ebert, J. (2014a). „Die entscheidende Frage ist, wer will ich sein?“ Psychologie heute – Interview mit Johanna Müller Ebert. Psychologie heute, H. 10/2014, S. 20 – 24.
- Müller-Ebert, J. (2014b). Vier Schritte führen zum Ziel. Was es bei Veränderungsprozessen zu beachten und zu bewältigen gilt. Psychologie heute, H. 10/2014, S. 25 – 27.
Rezension von
Prof. Dr. Dr. Hans-Peter Heekerens
Hochschullehrer i.R. für Sozialarbeit/Sozialpädagogik und Pädagogik an der Hochschule München
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Zitiervorschlag
Hans-Peter Heekerens. Rezension vom 10.10.2014 zu:
Johanna Müller-Ebert: Wie Neues gelingt. Die vier Schritte zur Veränderungskompetenz. Kösel-Verlag
(München) 2014.
ISBN 978-3-466-30974-0.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/17577.php, Datum des Zugriffs 09.11.2024.
Urheberrecht
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