Michael Lichtblau, Daniel Blömer et al. (Hrsg.): Forschung zu inklusiver Bildung
Rezensiert von Prof. Dr. Angelika Henschel, Franziska Schmiedel, 27.02.2015

Michael Lichtblau, Daniel Blömer, Ann-Kathrin Jüttner, Katja Koch, Michael Krüger et al. (Hrsg.): Forschung zu inklusiver Bildung. Gemeinsam anders lehren und lernen. Julius Klinkhardt Verlagsbuchhandlung (Bad Heilbrunn) 2014. 361 Seiten. ISBN 978-3-7815-1986-2. D: 24,90 EUR, A: 25,60 EUR, CH: 35,50 sFr.
Thema
Ziel des vorliegenden Bandes ist die Sammlung aktueller Ergebnisse empirischer Schul- und Unterrichtsforschung zum Thema „Inklusive Bildung“ anhand von Beiträgen aus Forschungsprojekten zu unterschiedlichen Schwerpunkten unter Berücksichtigung verschiedener methodischer Designs, qualitativer sowie quantitativer Daten.
HerausgeberInnen
Dr. Michael Lichtblau und Prof. Dr. Rolf Werning sind am Institut für Sonderpädagogik der Leibniz Universität Hannover in der Abteilung Pädagogik bei Lernbeeinträchtigungen in Forschung und Lehre beschäftigt.
Dr. Daniel Blömer, Prof. Dr. Katja Koch sowie Michaela Krüger sind tätig am Institut für Erziehungswissenschaft an der TU Braunschweig in der Abteilung Schulpädagogik und allgemeine Didaktik.
Ann-Kathrin Jüttner ist derzeit Projektmitarbeiterin im DialogWerk Braunschweig und beschäftigt sich dort hauptsächlich mit der Durchführung von Teamqualifikationen zu Themen wie Elternbildung und Kooperation von Kindertageseinrichtungen und Schule.
Entstehungshintergrund
Vorliegender Sammelband entstand im Rahmen der ersten gemeinsamen Jahrestagung der Kommission Grundschulforschung und Pädagogik der Primarstufe und der Sektion Sonderpädagogik in der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft (DGfE) zum Thema „Gemeinsam anders lehren und lernen – Wege in die inklusive Bildung“.
Aufbau
Nach dem Vorwort durch die HerausgeberInnen und zwei einleitenden Beiträgen anderer AutorInnen ist der Sammelband in folgende Bereiche gegliedert:
- Professionsverständnis
- Professionalisierung
- Schulentwicklung
- Unterricht und Didaktik
- Schülerperspektive
Inhalt
Der erste der beiden einleitenden Artikel widmet sich internationalen Perspektiven der Ausbildung von Lehrkräften und bezieht sich dabei neben Handlungsempfehlungen der European Agency for Development in Special Needs Education auf verschiedene Ausbildungsmodelle. Während das weit verbreitete „additional model“ vorsieht, dass einige wenige bzw. freiwillige Zusatzveranstaltungen zur Aneignung eines speziellen Repertoires an Wissen, Fähigkeiten und Materialien für den Unterricht von Kindern mit speziellen Bedürfnissen angeboten werden und eher kritisch hinterfragt wird, setzt das „content-infused model“ bei einer grundlegenden Ausbildung zu inklusiver Bildung aller SchülerInnen an und wird positiv hervorgehoben. Der Autorin Petra Engelbrecht geht es folglich bei der Ausbildung von Lehrkräften zukünftig um eine Neuorientierung der Raster an Werten, Einstellungen und Handlungsoptionen in einem gerechten und partizipativen Lernumfeld.
Fabian Dietrich und Martin Heinrich diskutieren im zweiten einleitenden Artikel die Frage danach, ob Inklusion gesteuert werden kann und orientieren sich dabei an der „Educational-Governance-Forschung“. Plausibilisiert werden dabei sowohl die Steuerbarkeit als auch die Unmöglichkeit einer Steuerbarkeit des Verhältnisses von Bildungsadministration und schulischer Praxis basierend auf der analytischen Perspektive von Kategorien des Governance-Begriffes einerseits und der Darstellung der Rollenverständnisse von IntegrationshelferInnen und FörderpädagogInnen in der schulischen Inklusion andererseits.
Der erste Bereich des Hauptteils befasst sich mit dem Professionsverständnis. Schwerpunktmäßig behandeln die Beiträge die Relevanz der Einstellungs- und Verhaltensmerkmale sowie Rollenkonstellationen von Grund- und Förderschullehrkräften (bzw. -pädagogInnen) als Voraussetzung für inklusive Unterrichts- und Schulentwicklungssettings.
Dabei spielen im Beitrag von Frank Hellmich und Gamze Görel insbesondere Vorerfahrungen mit dem Themenkomplex „Inklusion“ in der Aus-, Fort- und Weiterbildung von Lehrkräften diesbezüglich eine fördernde Rolle, während sich Ute Geiling und Toni Simon dem Zuständigkeits- und Zufriedenheitserleben von Grund- und SonderschullehrerInnen zuwenden und diese anhand von FLEX Brandenburg erheben und zum Ergebnis kommen, dass dieses Modell Anreize bietet, um „inklusionsorientiert anders zu lehren und zu lernen“.
Die Auswertung der Untersuchung von Saskia Opalinski zeigt, dass finnische Lehrkräfte eine deutlich positivere Einstellung gegenüber schulischer Inklusion vorweisen als thüringische Lehrkräfte, insbesondere wenn es um die Rahmenbedingungen geht. Dabei wird die Wichtigkeit von Einstellungen, Haltungen und Kenntnissen für Erfolg bzw. Misserfolg von inklusiven Settings in der Schule betont. In diesem Zusammenhang findet auch das Professionsverständnis der Sonderpädagogik und die Abgrenzung von „Spezialisten“ und „Generalisten“ im Beitrag von Dagmar Hänsel und Susanne Miller Berücksichtigung. Dabei werden die sonderpädagogischen Aufgaben u.a. in den Bereichen Diagnostik, individuelle Förderplanung und Beratung charakterisiert und ein Umdenken von Inklusion aus einer allgemeineren Perspektive heraus gefordert.
Der letzte Beitrag von Jürgen Budde, Susanne Offen und Benjamin Heynoldt befasst sich mit Inklusionsverständnissen von AkteurInnen einer kommunalen Bildungslandschaft anhand von Elementen der „photo elicitation“ und einer Gruppendiskussion und charakterisiert drei verschiedene Verständnisse von Inklusion, die durch die Begirffe „Besonderung“, „Gemeinschaft“ und „Willkommenskultur“ beschrieben werden können.
Der zweite Bereich des Hauptteils widmet sich empirischen Forschungsprojekten zum Thema Professionalisierung und setzt einige Ansatzpunkte aus dem ersten Teil fort. Vera Moser, Lea Schäfer und Andreas Knopp bspw. widmen sich der Frage nach berufsspezifischen Kompetenz- und Aufgabenbereichen von Sonder- und anderen Lehrkräften, die sie anhand einer schriftlichen Befragung erhoben und mit bisherigen Forschungskenntnissen verglichen haben wobei sie festestellen, dass sich diese Ergebnisse teilweise bestätigen lassen.
Silke Trumpa wertet in ihrem Beitrag drei Interviews von Grundschullehrkräften zum Thema „gelungener gemeinsamer Unterricht“ aus. Alle drei Lehrkräfte kategorisieren die SchülerInnen anhand von zwei Gruppen, wobei diese abhängig sind von der Grundhaltung und den Vorerfahrungen der einzelnen Befragten. Eine Weiterentwicklung der Unterrichtskonzepte ist bisher nicht gegeben, sodass es Entwicklungsaufgaben gibt, die zukünftig bei der LehrerInnenprofessionalisierung Beachtung finden müssen.
Die Frage danach, wie der Professionalisierungsprozess gestaltet sein müsste, um eine mögliche inklusive Mathematikdidaktik zu entwickeln und umzusetzen, stellt sich Natascha Korff in ihrem Beitrag und stellt fest, dass in erster Linie gruppenbezogenes Denken und segregierende Strukturen überwunden werden müssen. An diese Überlegung knüpft die Untersuchung zu Lernerfahrungen in heterogegen Gruppen an, welche von Dorothee Meyer vorgestellt wird. Grundlage sind an der Leibniz Universität Hannover stattfindende Seminare im Bachelorstudiengang Sonderpädagogik, die Gruppenarbeitsprozesse von Studierenden und Personen mit (geistiger) Behinderung vorsehen. Die mittels Interaktionsanalysen gewonnen Daten zeigen die Bedeutung von Erfahrungslernen, insbesondere in Bezug zum Theorie-Praxis-Transfer.
Im dritten Teil werden aktuelle Forschungsschwerpunkte und -ergebnisse zum Thema Schulentwicklung dargestellt. Zunächst geht es im Beitrag von Heike de Broer und Anke Spies um schulische Kooperationskontexte im Hinblick auf Inklusion. Anhand zweier Beispiele kann verdeutlicht werden, dass es notwendig ist, gemeinsame Konzepte, symmetrische Arbeitsbeziehungen und gleichzeitig verbindliche Strukturen herzustellen.
Ein mögliches Schulentwicklungskonzept, das der Schwerpunktschulen in Rheinland-Pfalz, wird im Hinblick auf Bedingungen und Gelingensfaktoren für inklusive Bildung evaluiert und Ergebnisse im Beitrag von Désirée Laubenstein, Christian Lindmeiser, Stefan Belting und Kirsten Seutter-Guthöhrlein dargestellt, die verdeutlichen, dass sich Schulkultur und -konzepte ändern müssen.
Ein weiteres Konzept ist das der Ganztagsschule, die im Zuge des letzten Beitrags aus diesem Kapitel von Matthea Wagener der Frage nachgeht, ob Ganztagsangebote beim Übergang auf eine weiterführende Schule unterstützend für benachteiligte Kinder wirken, wobei ambivalente Ergebnisse basierend auf verschiedenen Interviews zu verzeichnen sind.
Neben den bisherigen theoretischen und empirischen Überlegungen bezüglich des gemeinsamen Unterrichts an Grundschulen, widmet sich der erste Artikel von Katrin Liebers, Christin Seifert und Stefan Kolke des Kapitels Unterricht und Didaktik der Gestaltung gemeinsamen Unterrichts in Oberschulen in Sachsen, wobei die Darstellung erster Ergebnisse der Evaluation lernzieldifferenzierter Beschulung im Vordergrund liegt.
Im anschließenden Beitrag von Sabine Martschinke, Bärbel Knopp und Christian Elting wird, bezogen auf das Projekt IKON, welches sich schwertpunktmäßig mit der Erforschung gemeinsamen Unterrichts von Kindern mit und ohne den Förderschwerpunkt geistige Entwicklung beschäftigt, die Rollenverteilung von Sonder- und Grundschulehrkraft in diesem Setting dargelegt.
Auch wird dieser Aspekt im Artikel von Elke Inckemann und Wolfgang Dworschak zum Thema gemeinsamer Unterricht in festen LehrerInnentandems berücksichtigt, neben der Frage nach der Gestaltung des Unterrichts, welche anhand von Unterrichtstagebüchern erhoben wurde und die je nach Zusammensetzung der Klasse variiert.
Als konkrete Form gemeinsamen Unterrichts wird im Artikel von Tanja Sturm diskutiert, inwiefern Differenz in unterschiedlichen Unterrichtspraktiken am Beispiel der Freiarbeit reproduziert wird, wobei sie zum Ergebnis kommt, dass dies abhängig ist von den Vorstellungen guten Unterrichts und den Erwartungen an die SchülerInnenrolle seitens der Lehrkräfte.
Unterrichtspraxis im konkreten Fach widmet sich anschließend René Schroeder, der vorliegende didaktische Konzeptionen inklusiven (Sach-)Unterrichts vergleicht und die Frage nach bestimmten Arbeits- und Organisationsformen im Verhältnis zur Kompetenzorientierung und inhaltlichen Tiefe aufwirft.
Die Frage welcher besondere Bildungsbedarf sich in Reformphasen bezüglich Fördersituationen für multiprofessionelle Klassenteams ergibt, stellt sich Patrik Widmer-Wolf und rekonstruiert dies anhand von Gruppendiskussionen. Die Abhängigkeit von SchülerInnenverhalten mit der habitualisierten schulischen Praxis spielt dabei ebenso eine Rolle wie die verschiedenen Typen von Klassenteams in unterschiedlichen (institutionellen) Erfahrungszusammenhängen.
Im letzten Kapitel des Sammelbandes geht es abschließend um die Schülerperspektive. Im ersten der beiden Artikel stellt Marie-Therese Langer Ergebnisse zur Leistungsentwicklung von SchülerInnen mit dem Förderschwerpunkt Lernen in Abhängigkeit von der Verweildauer an der Grundschule und dem Wechsel an die Förderschule dar und postuliert „Je länger an der Grundschule, desto besser!“.
Der letzte Artikel des Bandes von Britta Gebhard und Anne Schröter diskutiert erste Ergebnisse des Pilotprojektes einer Förderschule für körperliche und motorische Entwicklung und ihres Konzeptes zur schulischen Inklusion, bezogen auf den Vergleich von Schulleistungen in Lesen und Rechnen von Kindern mit und ohne sonderpädagogischen Förderbedarf. Erste Erhebungen diesbezüglich konnten zeigen, dass die Befürchtungen der Erziehungsberechtigten, dass sich die Schulleistungen im Vergleich zur Grundschule schlechter entwickeln würden, sich nicht zu bewahrheiten scheinen.
Diskussion
Bemerkenswert zeitnah nach der initiierenden Jahrestagung erschien dieser Band, sodass die vorgestellten Beiträge und Forschungsergebnisse äußerst aktuell sind, wenngleich bezüglich unterschiedlicher Erhebungs- und Projektphasen. Zwar deckt der Sammelband eine Vielzahl inhaltlich abgrenzbarer Teilbereiche aktueller Forschungsdiskurse zu inklusiver Bildung ab, die inhaltliche Zuordnung der einzelnen Artikel zu den Kapiteln allerdings erscheint nicht immer einwandfrei nachvollziehbar, was unter Berücksichtigung der Tatsache, dass Sammelbänder den Lesenden auch dazu dienen, selektiert Beiträge zu bestimmten (Forschungs-)Bereichen zu erfassen, nicht zweckdienlich ist. So taucht bspw. die Frage nach dem Rollenverständnis bzw. der Aufgabenverteilung von Grund- und Sonderschullehrkräften als Querschnittsthema in vielen Beiträgen entlang aller Kapitel auf.
Beachtlich ist die inhaltliche und empirische Bandbreite der Artikel. Neben der Anwendung der verschiedensten qualitativen und quantitativen Methoden und der jeweiligen Untersuchungsphase, unterscheiden sich die vorgestellten Projekte insbesondere durch die Anzahl und den Hintergrund der Erhebungsteilnehmenden, die -zeitpunkte, aber auch -orte. Ob sich diese Bandbreite als vor- oder nachteilig erweist, bleibt vom Lesenden selbst zu entscheiden.
Die Beiträge stellen aktuelle Forschungsergebnisse aus Deutschland dar und verdeutlichen zudem einerseits Forschungsdesiderata, andererseits das Bestreben von ExpertInnen aus Forschung und Praxis inklusive Reformationsprozesse weiter voranzubringen und langfristig Vor- und Nachteile inklusiver Unterrichtssettings zu identifizieren und daraus Konsequenzen für die gemeinsame Beschulung zu ziehen.
Fazit
Der Sammelband eignet sich gut, um einen Überblick über aktuelle (häufig regional bezogene) Forschungsergebnisse und -tendenzen inklusiver Bildung in Deutschland zu erhalten und regt dazu an, sich mit den vorgestellten Projekten weiter zu beschäftigen bzw. Schwerpunkte für die eigene Forschung zu setzen.
Rezension von
Prof. Dr. Angelika Henschel
Professorin für Sozialpädagogik, insb. Genderforschung, Jugendhilfe und Inklusion an der Leuphana Universität Lüneburg
Website
Mailformular
Franziska Schmiedel
B.A. Soziologie, M.A. Bildungswissenschaft. Doktorandin am Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik an der Leuphana Universität Lüneburg mit dem Schwerpunkt Inklusion im Kontext Übergang Schule/Beruf
Es gibt 1 Rezension von Angelika Henschel.
Es gibt 2 Rezensionen von Franziska Schmiedel.