Julian Nida-Rümelin: Der Akademisierungswahn
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 07.11.2014
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Julian Nida-Rümelin: Der Akademisierungswahn. Zur Krise beruflicher und akademischer Bildung. Edition Körber (Hamburg) 2014. 130 Seiten. ISBN 978-3-89684-161-2. D: 14,00 EUR, A: 14,40 EUR, CH: 20,90 sFr.
Jeden Menschen nach seinen Interessen und Begabungen bilden
Die klassische Frage, wie bei der Lernentwicklung der (jungen) Menschen das Verhältnis von naturgegebener Anlage und den menschlichen Einwirkungen durch Umwelteinflüsse und veranstalteten Lehr- und Lernvorgängen zu sehen sei (Heinrich Roth, Hrsg., Begabung und Lernen, Deutscher Bildungsrat. Gutachten und Studien der Bildungskommission, Bd. 4, 1969), ist aktuell wie eh und je. Das Menschenrecht auf Bildung wird in der „globalen Ethik“, der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, mit dem fundamentalen Postulat von der Würde des Menschen, und in Artikel 26 der Menschenrechtsdeklaration formuliert (Deutsche UNESCO-Kommission, Menschenrechte. Internationale Dokumente, Bonn 1981, S. 48ff). Im Diskurs über Bildungsanspruch, -erwartung und -gerechtigkeit gibt es immer wieder Schübe und Bremsklötze. Dabei werden Fragen nach Status, Anerkennung, ökonomischer Wertigkeit und Leistung in je unterschiedlicher, gesellschaftspolitischer und ideologischer Weise gestellt (Ingo Kramer, Herausforderung Bildungsgerechtigkeit. Zum fairen Umgang mit dem Leistungsprinzip, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/11185.php).
Entstehungshintergrund und Autor
Dass in der deutschen Bildungspolitik Mängel vorherrschen, scheinbare Traditionen falsch interpretiert werden und der Verwertungs- und nicht der Werte-Aspekt bei der Vermittlung von Bildung im Vordergrund stehen, ist eine Tautologie und bedarf (eigentlich) keiner Begründung. Weil aber der Anspruch, eine gerechte und humane Bildung zu verwirklichen, weder aufgegeben werden kann, noch Utopie bleiben soll, werden Alternativen zu den überkommenen Bildungskonzepten und Irrwegen in der Bildungslandschaft diskutiert ( Julian Nida-Rümelin, Philosophie einer humanen Bildung, 2013, https://www.socialnet.de/rezensionen/14556.php). In der Gesellschafts- und Institutionenkritik, in der Theorie der Bildungswissenschaften, und in der Praxis der Arbeitswirklichkeit wird die Entwicklung und Auseinanderdriftung von berufspraktischer und akademischer Bildung mittlerweile als revisionsbedürftig betrachtet. Der Drang zu „weiße-Kragen“-Karrieren und die Abwendung von „Blaumann“-Tätigkeiten hat zu einer gesellschaftsschädlichen, ökonomisch unsinnigen und zudem menschenunwürdigen Entwicklung geführt.
Der Philosoph Julian Nida-Rümelin mischt sich immer wieder in gesellschaftspolitische Entwicklungen ein, als Analyst, Essayist und Mahner. Es genügt ihm nicht, als Denker aus der Studierstube heraus zu wirken; vielmehr engagiert er sich praktisch, lebensweltlich und zivilgesellschaftlich. Er erkennt bei der Betrachtung der bildungsgesellschaftlichen Entwicklung, „dass wir uns auf einem gefährlichen Weg befinden, der am Ende sowohl die akademische als auch die berufliche Bildung beschädigen könnte“. Dabei setzt er nicht auf Konfrontation und Negativismus, sondern auf Kooperation und positives Denken und Handeln: „Eine Korrektur des aktuellen Trends im Bildungswesen wird nur in enger Kooperation zwischen Theorie und Praxis möglich sein“. Seine durchaus umstrittene und kritikwürdige These, dass sich unsere Gesellschaft in einem „Akademisierungswahn“ befände, ist es wert, zur Kenntnis genommen zu werden und sich damit auseinander zu setzen; und zwar Theoretiker und Praktiker, Akademiker und Handwerker, Eltern und Lehrkräfte, Politiker und Schüler…
Aufbau und Inhalt
In der Einleitung bekennt sich Nida-Rümelin zum Pragmatismus, zu einem allerdings, bei dem das Denken im Vordergrund steht und dem ein „business as usual“ nicht nur ein Gräuel, sondern auch eine menschenunwürdige Einstellung ist: „Das Stellhölzchen muss neu eingerichtet werden, um den gewaltigen Strom einer Reformdynamik auf Humanität, Autonomie und Inklusion zu leiten“. Er begründet seine These mit drei Argumenten, die er in seinem Essay ausdifferenziert:
- Es ist falsch, Jugendlichen zu suggerieren, dass sie auf ihrem Bildungsweg gescheitert sind, wenn sie nicht die Hochschulreife erreichen und dann ein Studium aufnehmen!
- Es ist falsch, immer mehr Berufsausbildungsgänge zu Hochschulstudiengängen umzubilden!
- Es ist falsch zu ignorieren, dass durch die demographische Entwicklung die Jahrgangsstärken in den kommenden Jahrzehnten sinken werden und ein weiteres Anwachsen der Studierendenquoten zwangsläufig zu einer Reduzierung der nichtakademischen Berufsausbildung im dualen System und damit zum Arbeitskräftemangel im produzierenden Sektor führen muss.
Deshalb plädiert Nida-Rümelin für eine neue Reformperspektive, „die Humanisierung und Leistungsanspruch, Differenzierung und gleiche Anerkennung, Globalisierung und Vielfalt verbindet“.
Danach gliedert der Autor seinen Zwischenruf in drei Kapitel.
Im ersten Teil geht es um „Grundlegung“, also um Argumente, wie das Dilemma entstanden ist, begründet wird, sich fortsetzt und damit stabilisiert, anstatt die Situation zu verändern. Der Philosoph geht natürlich philosophisch an das Problem heran, wie er dies bereits mit dem einleuchtenden Beispiel des „Gefangenendilemmas“ in seiner „Philosophie einer humanen Bildung“ getan hat. Dabei kratzt er, wenn auch vorsichtig (und wohl auch zu zaghaft) am „humanistischen Bildungsideal“, das uns z. B. das Dreigliedrige Schulsystem beschert hat. Deshalb wirkt auch seine Forderung nach Differenzierung, der Zusammenschau von Praxis und Theorie, Handwerk, Lebenswelt und Wissenschaft eher „akademisch“, denn verändernd!
Im zweiten Kapitel nimmt der Autor Stellung zur „Krise beruflicher Bildung“. Wiederum als Philosoph findet er in der antiken Philosophie bereits das, was heute als „Work-Life-Balance“ bezeichnet wird, nämlich danach zu streben, individuell und beruflich ein gutes, gelingendes Leben im Gleichgewicht zu erlangen. Der scheinbare Widerspruch, zu einer „Verwissenschaftlichung beruflicher Bildung“ zu kommen, ist freilich keine neue Entdeckung; denn Bildung muss wissenschaftlich, also „auf begründete Weise und allgemein nachvollziehbar zustande gekommen (sein) und ihrer Vermehrung, Erweiterung und Korrektur offenstehen“ (Martin Gessmann, Philosophisches Wörterbuch, 23. Vollständig neu bearbeitete Auflage, Stuttgart 2009, S. 772). Richtig ist, dass sich in der Mentalität und im Modernisierungseifer der Gesellschaft ein Perspektivenwechsel vollziehen muss, hin nämlich zu einer gleichwertigen Anerkennung von theoretischer und praktischer Arbeit. Als Maßstab sollte dabei „ehrliche Arbeit“ (Norbert Blüm) dienen und die Ambivalenz des Arbeitsbegriffs zur Kenntnis genommen werden ( Andrea Komlosy, Arbeit. Eine globalhistorische Perspektive. 13. bis 21. Jahrhundert, 2014, www.socialnet.de/rezensionen/17372.php). Das duale Bildungs- und Ausbildungssystem in Deutschland hat im internationalen Vergleich einen guten Klang. Die Mängel und Defizite allerdings, wie etwa die behindernde Lehrplan- und Regelungsvielfalt, die sich aus der föderativen Struktur und der Kulturhoheit der Länder ergeben, und die unverständliche Tendenz, dass die Wirtschaft vornehmlich aus ökonomischen und gewinnkalkulatorischen Gründen sich immer mehr aus dem Ausbildungsauftrag zurückziehen, verringern die im dualen System möglichen Entwicklungen.
Das dritte Kapitel befasst sich mit der „Krise akademischer Bildung“. Der Philosoph rekurriert dabei auf das humanistische Bildungsideal als Grundlage einer akademischen Bildung. Seine Definition freilich – „Akademisch gebildet ist, wer ein wissenschaftliches Studium absolviert hat, dessen Kriterien die Einheit von Forschung und Lehre ist“ – lässt sich nur schwerlich als Argument für eine Gleichwertigkeit von akademischer und nicht-akademischer Bildung anführen; es besteht vielmehr die Gefahr, dadurch die Spaltung und dichotome (Un-)Wertschätzung von Arbeit noch zu vergrößern. Die berechtigte Kritik an den durch den europäischen Bologna-Prozess in Gang gesetzten Modularisierungen der Universitäts- und Hochschulbildung, und die kaum erkennbare Realisierung, zu einem gemeinsamen europäischen Bildungsraum zu kommen, braucht eine Vision, um Veränderungen und Fortschritt zu bewirken. Eine solche „Bildungs- und Arbeitsmarktutopie“ bringt der Autor in fünf Forderungen, die der Rezensent stichwortartig und programmatisch zusammenfasst:
- Bildungssysteme selektieren nicht, sondern sind Angebote, um den individuellen Bildungs-, Berufs- und Lebensweg im Sinne eines „guten, gelingenden Lebens“ zu gestalten!
- Jeder Mensch soll das Eigene finden und die jeweiligen Bildungsangebote als Hilfe bei dieser Suche begreifen!
- Staatliche Bildungsangebote sind auf eine inklusive Gesellschaft gerichtet!
- Eine neue Arbeitsmarktkultur muss auf Gleichberechtigung und Motivation aller Beteiligten gründen!
- Arbeit als Menschenwert erfordert gleichen Respekt und gleichwertige Anerkennung von unterschiedlichen Bildungswegen!
Diskussion und Fazit
Julian Nida-Rümelin beschließt seine philosophische Philippika gegen den „Akademisierungswahn“ mit sieben Thesen, in denen er seine Argumentationen und Kritiken zusammen fasst. Er plädiert für eine Stärkung und den Ausbau des dualen Bildungssystems, wobei er insbesondere die berufliche Bildung hervorhebt; er sieht im weiteren Ausbau der Akademisierung nicht nur den Bestand und die Weiterentwicklung der beruflichen Bildung, sondern auch die akademische Bildung in Gefahr; er warnt vor der bildungsökonomischen Begründung für eine möglichst starke Erhöhung der Akademikerquote; er erkennt in einer erwarteten und fortschreitenden Flexibilisierung des Arbeitsmarktes keine überzeugende Begründung für eine möglichst hohe Akademikerquote; er argumentiert gegen die Prognose einer Entwertung von Fachkompetenzen und dem daraus folgendem Plädoyer für eine Umsteuerung auf eine unspezifische Kompetenzorientierung des Bildungswesens und sieht darin weniger eine empirisch belegbare Notwendigkeit, sondern eine eher neoliberale und im Kern anarchistische Marktideologie; er sieht keinen Bedarf, die Bildungssysteme zu homogenisieren.
Die Ambivalenz wird deutlich: Ohne Zweifel ist die Entwicklung hin zu einer Akademisierung und damit Scheren-Entwicklung vom Wert der Arbeit zu kritisieren; und es bedürfte eines wirklichen Perspektivenwechsels, die traditionelle und disgruente Entwicklung der Wertigkeit von theoretischer und praktischer Arbeit und Berufsausübung aufzuheben; doch es sind nur allzu halblaute und nicht konsequente Forderungen, wenn Nida-Rümelin z. B. in seinem Beitrag „Der nächste Bildungsnotstand“, den er in der Süddeutschen Zeitung vom 17. Mai 2010 veröffentlicht hat, und der im Anhang abgedruckt wird (neben weiteren Beiträgen aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 16. August 2013. „Bildungspolitik auf Abwegen“ – und einem Interviewtext – „Wir sollten den Akademisierungswahn stoppen“ – in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung vom 1. September 2013), fordert: „Wir sollten den Begriff der ‚sozialen Selektivität‘ einmotten“. Denn: Seine Argumente, so anerkennenswert sie auch sind, kommen viel zu „brav“ und „anpassungsorientiert“ daher und können leider den Eindruck nicht verwischen, dass sie einen Bogen um die notwendige Herausforderung machen, wie ein humanes und gerechtes Arbeitssystem aussehen müsste, soll der „Wert der Arbeit“ nicht von Statussymbolen, sondern von demokratischen, gesellschaftsrelevanten und -förderlichen Prämissen bestimmt werden!
Trotzdem: Auch wenn der Autor diese wichtigen und humanen Aspekte in seinem Essay eher außer Acht lässt, es ist verdienstvoll, den Finger in eine Wunde zu legen. Die Salbe zur Heilung der gesellschaftlichen Schwärung muss freilich mit den Bestandteilen „gesellschaftliche, demokratische, lokale und globale Gerechtigkeit“ aufgefüllt werden!
Als Replik sei dem Rezensenten erlaubt: In der Hildesheimer Tageszeitung vom 25. 10. 2014 ist ein Aufmacher zu lesen: „Ausbildung liegt voll im Trend“. Der Autor Oliver Carstens berichtet über die „vierte Nacht der Bewerber für den passenden Beruf“ und schreibt, dass sich „mehrere tausend Jugendliche informieren“ über Ausbildungsangebote von rund 80 Firmen und Institutionen: „Dass sich immer mehr junge Menschen für ein Studium entscheiden, anstatt den Weg in eine Berufsausbildung zu gehen, war gestern…“. Ob dies ein Anzeichen für eine Trendwende ist? Ich gehe davon aus, dass dies Julian Nida-Rümelin freuen würde!
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 07.11.2014 zu:
Julian Nida-Rümelin: Der Akademisierungswahn. Zur Krise beruflicher und akademischer Bildung. Edition Körber
(Hamburg) 2014.
ISBN 978-3-89684-161-2.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/17603.php, Datum des Zugriffs 23.01.2025.
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