Antje Maly-Samiralow: Das Prinzip Placebo
Rezensiert von Thomas Reinhardt, 15.01.2015

Antje Maly-Samiralow: Das Prinzip Placebo. Wie positive Erwartungen gesund machen. Droemer Knaur (München) 2014. 224 Seiten. ISBN 978-3-426-65750-8. D: 18,00 EUR, A: 18,50 EUR.
Thema und Entstehungshintergrund
„Das Prinzip Placebo“ ist ein populärwissenschaftliches Buch, das „Spannend, fundiert und für jedermann verständlich“ (Klappentext) sein will. Antje Maly Samiralow schrieb das Buch aus dem „schönen Gefühl, wenn die eigenen laienhaften Ahnungen und Vorstellungen, die man über Jahre gehegt hat, plötzlich wissenschaftlich erklärbar werden“. Biografisches stellt sie gerne ihren Ausführungen voran in denen sie die Zusammenhänge der Beeinflussbarkeit von Körper und Psyche durch mentale Kräfte untersucht. „Placebo“ bedeutet „Ich werde gefallen“ und wird oft mit sogenannten „Scheinmedikamenten“ gleichgesetzt, denen ohne einen pharmakologischen Gehalt zu besitzen eine ebensolche Wirkung zugeschrieben oder beobachtet wird.
Antje Maly Samiralow legt mit dem Buch ein starkes Plädoyer zur Bedeutung und zur notwendigen Sorgfalt der ärztlichen Kommunikation vor, besonders auch zur Verhinderung von „Nocebo-Effekten“, die krankmachend und todbringend sein können.
Autorin
Die 1967 geborene und in der DDR aufgewachsene Journalistin Antje Maly Samiralow hat in München BWL studiert und arbeitet seit über zehn Jahren vorwiegend für den Bayrischen Rundfunk im Bereich Wissenschaft und Medizin. Zusammen mit Wolfgang Maly, schrieb sie an dessen Buch „Die Maly-Meditation – Wie Zuwendung heilen kann“, das ebenfalls bei Knaur erschienen ist.
Aufbau
Einleitung, zwölf Hauptkapitel, Literaturempfehlungen und Dank finden auf insgesamt 253 Seiten Platz. Zahlreiche Studien werden zur Argumentation herangeführt. Die Quellenangaben sind, wie es sich gehört für ein Buch, das eine Mischung aus leicht verständlicher Wissenschaftlichkeit und Ratgeberliteratur ist, in den Text eingeflochten und von daher nicht immer leicht zu prüfen. Bei Prüfung wurde jedoch das gefunden, was die Autorin beschreibt. Der rote Faden ist manchmal zu suchen. Insbesondere in den ersten Kapiteln wiederholen sich die Gedankengänge ohne wirklich eine Entwicklung, eine aufbauende Zielsetzung zu verfolgen. Auf Seite 43 folgt endlich die Definition von „Nocebo“ und „Placebo“. Diese Phänomene werden transkulturell und historisch angesprochen. Deutlich nachgegangen wird ihnen in deutschsprachigen und westlichen Gesundheitssystemen. Antje Maly Samiralow beschreibt die Bedeutung von Vertrauen für die Interaktion zwischen Patient und Arzt/Ärztin oder Pflegeperson und zeigt Wege auf, wie positive Erwartungen an einen Behandlungserfolg individuell erlernt werden können.
Inhalt
Antje Maly Samiralow nähert sich dem Thema behutsam und flechtet, wie bereits erwähnt, häufig persönliche Erlebnisse in den Text ein. Manchmal spricht sie die Leserin oder den Leser direkt an mit Sätzen wie: „Die Autosuggestionen kommen auch noch dran; versprochen!“ Ausgehend von Patientenberichten illustriert sie, wie Prognosen verschlechtert werden können, wenn sie geradewegs krankmachend kommuniziert werden. Auch der Bedeutung falscher schlechter Prognosen widmet sich die Autorin. Sie unterlegt diesen Gedankengang mit vielen Beispielen, auch eigenen, und lässt dann Patienten und Patientinnen selber berichten, die zum Teil mit ihrem vollen Namen unterschreiben. Spannend zu lesen ist das Unterkapitel „Warum Angehörige und Freunde Hoffnung zerstören“. So beziehe sich die harmlose Frage „Wie geht es dir“ bei chronisch Kranken (z.B. an HIV oder an Krebs Erkrankten) oftmals nicht mehr auf das alltägliche Leben sondern ziele ausschliesslich in Richtung Erkrankung. Allerdings widerspricht sich Antje Maly Samiralow auf der folgenden Seite 25 selber mit der Bemerkung „-sprechen wir ruhig von einer Krebserkrankung“ als sie illustriert, wie sich das soziale Umfeld bei Schwerkranken zurückzieht. Sie zitiert Prof. F. Porzsolt, der frühere Leiter des Tumorzentrums am Universitätsklinikum Ulm, der die Ärzteschaft vor konkreten Prognosen gegenüber den Patienten warnt. Die Gefahr selbsterfüllender Prophezeiungen wird eindrücklich auch im nächsten Kapitel „Der versprochene Tod – ein grausames Nocebo Phänomen“ nachgegangen und im Kapitel „Voodoo-Tod“ vertieft. Dort schildert sie einen Klassiker der Placebo-Berichte, nämlich die Schilderungen des Paters Merolla der im 17. Jahrhundert den Kongo bereist hat. Ausdrücklich geht Antje Maly Samiralow dem Placebo-Effekt bei der Schmerzbehandlung nach und schildert die Bedeutung der Selbstbeeinflussung zur Linderung um zu den Nocebo-Effekten auf Grund schlechter und unsorgfältiger Kommunikation des Medizinalpersonals zu gelangen. Die teilweise raffinierten Experimente der Turiner Forscher und Forscherinnen um Prof. F. Benedetti zeigen die evidenten Zusammenhänge von Angst und Schmerz, denen das Kapitel „Suggestionen – Die Macht der Worte“ gewidmet ist.
Die Seiten 60 – 123 enthalten, trotz etlicher vermeidbarer inhaltlicher Wiederholungen, sehr schöne und erschreckende Beispiele medizinischer Kommunikation und deren Folgen.
Von den zahlreichen Beispielen allerdings profitiert das Buch, davon kann es fast nicht genug geben, hier ein kleiner unkommentierter Ausschnitt klinischer Kommunikation:
- „Wir verkabeln Sie jetzt“
- „Verkleinern Sie mal den Totraum!“ – gemeint ist die Verkürzung des Beatmungsschlauchs.
- „Das wirkt todsicher“.
- „Ich hole noch was aus dem Giftschrank, dann können wir anfangen.“
Dass Patienten auch unter Narkose oft solche Informationen mitbekommen und darauf mit posttraumatischen Störungen (quasi nosokomial, also im Spital erworben) reagieren, unterstreicht die Bedeutung sorgfältiger Kommunikation auch während Operationen.
Die Autorin geht auch auf die zum Teil fatale Wirkung der Überinformation durch Beipackzettel oder Internet ein.
Diese Seiten sollten angehende Mediziner und Pflegepersonen lesen, damit sie abschätzen lernen, welche Bedeutung die vertrauensvolle Beziehung für die Behandlung hat. Die Autorin gibt dann auch den Hinweis auf den Unterricht, wie er z.B. an der Ludwig Maximilian Universität München durch K.Meissner den Medizinstudenten erteilt wird.
Die Bedeutung des Placebo-Effekts für den Therapieerfolg wird dann unter verschiedenen Krankheitsaspekten weiter vertieft. So untersuchten J. Ronel und Dr. K.Meissmer die Wirkung von Scheinmedikamenten auf die Durchblutung von Herzkranzarterien unterstützt durch hypnotherapeutische Suggestionen.
Im Kapitel „Geht es auch ohne Placebos“ wird die Meta-Analyse von A.Hróbjartsson, P.Gøtzsche, L.T.Krogsbøll zitiert, deren Resultat ist, dass der Placebo-Effekt bei vielen Erkrankungen gar nicht so gross ist, wie gedacht. Bei Schmerzen, Phobien und Asthma ergab diese Metastudie einen Vorteil von Placebo gegenüber der Nichtbehandlung. Bei Depressionen spielen Spontanverbesserungen eine Rolle. Das heisst, in der Praxis darf die Wirkung von Placebo nicht überschätzt werden. Vielmehr gilt es die körpereigenen Selbstheilungsmechanismen zu fördern.
Ausführlich geht Antje Maly Samiralow den kognitiven und biochemischen Mechanismen bei der Wahrnehmung von Schmerzen nach und hebt hervor, dass das Leben in der „Sippe“ schmerzreduzierend wirken kann. Das wir unser erlerntes Schmerzempfinden auch umlernen können ist ein wichtiger Hinweis und Wege dazu werden aufgezeigt. W.Zieglgänsberger, Schmerzforscher und Pharmakologe, weist mit schönen Beispielen auf die segensreiche Wirkung von Schmerzmitteln hin, die im Rahmen einer Schmerztherapie eingenommen den Teufelskreis aus Angst und Schmerzerleben verhindern können.
Schliesslich finden sich im Kapitel „Die Psychologie des Placebo-Effekts“ auch Versuche von R.Ader, dem Begründer der Psychoimmunologie, an Ratten, die zeigen, dass Antworten des Immunsystems in Form von Bildung von Antikörpern durchaus „gelernt“ sprich konditioniert werden können.
Bedeutsam für das Verständnis ist auch der „Budenzauber“ mit dem ein Medikament oder ein Placebo gegeben wird. Diesem wird noch einmal ausführlich im Kapitel „Was nichts kostet, ist nichts wert“ nachgegangen. Dort finden sich auch Belege der Änderung von „Placebo-Werten“ im Laufe der Zeiten. So wird geschildert, wie 1908 eine Frau in Sachsen einen Scharfrichter bittet, ihr etwas Blut einer soeben hingerichteten Frau zu überlassen, da sie mit diesem Blut einer jungen Epileptikerin helfen möchte.
Abschliessend gibt Antje Maly Samiralow Hinweise dafür, wie man sich einen eigenen Placebo-Effekt schaffen kann und betont die Wirkung und Bedeutung von Entspannung, Meditation, Yoga, Ritualen und Imaginationen. Auch die Art und Weise, wie man ein Medikament einnimmt, beispielsweise auf dem Silbertablett kann eine Wirkung entfalten.
Zu allerletzt stellt die Autorin die Frage „Wie viel Placebo ist zulässig?“ und gibt eine differenzierte Antwort, die sich einerseits auf Studien von K.Linde und auf Empfehlungen des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesärztekammer stützt. Der Beirat hält unter folgenden Voraussetzungen Placebos in der klinischen Praxis für vertretbar:
- Es ist keine geprüfte (Pharmako-) Therapie vorhanden
- Es handelt sich um relativ geringe Beschwerden
- Es liegt der ausdrückliche Wunsch der Patienten nach einer Behandlung vor
- Es besteht bei dieser Erkrankung Aussicht auf Erfolg durch eine Placebo Behandlung.
Das Buch endet mit dem Apell an die Mediziner, ihren Patientinnen und Patienten zuzuhören und zu erklären, weshalb die vorgeschlagene Therapie die richtige ist.
Diskussion
Das Buch ist für Laien geschrieben und manchmal wird dieser Ansatz überstrapaziert. Wohl als witzig gemeinte Einschübe, wie auf Seite 124, als die Autorin das Männchen auf dem Cover, welches eine Pille den Berg hochrollt, beschreibt und hinzufügt: „Ich habe nicht als Modell gestanden; so viel vorweg.“ sind meist überflüssig. Teilweise entsteht der Eindruck, dass die Autorin auch gegen ihre eigene Angst vor Krankheit anschreibt, wenn sie eine ihrer offenbar zahlreichen Konsultationen bei Ärzten ausmalt. Sie fällt nicht ins Spekulative und bemüht sich ihre Gedanken mit Studien zu unterlegen und betont diese Haltung auch im Dankeswort am Ende des Buches mit folgender Bemerkung an K.Meissner: „und mir auf die Finger geklopft hat, wenn ich den klinisch reinen Pfad vorliegender Daten verlassen und in die Niederungen der Spekulationen und Vermutungen absteigen wollte.“
Ein klarerer und inhaltlich gestraffterer Aufbau insbesondere im ersten Teil hätte dem Buch gut getan. Die vielen Beispiele insbesondere zur Kommunikation sind für alle lesenswert und sollten in den entsprechenden Schulungen für Medizinalpersonal benutzt werden. Grafisch hätte das Buch durch eine teilweise Trennung der Studienberichte vom eigentlichen Gedankengang gewonnen. Vor lauter ähnlicher Studien, die jedoch zum Teil zeitlich und methodisch völlig auseinanderliegen wird der Text stellenweise langatmig.
Fazit
Antje Maly Samiralow hat mit ihrem Buch zu Placebo, das in der Werbung des Knaur Verlags als erstes populärwissenschaftliches Fachbuch zum Thema bezeichnet wird, viele wichtige Erkenntnisse zusammengetragen. Insbesondere die herausragende Bedeutung der Zuversicht für die (Selbst-)heilungsprozesse wird nach der Lektüre in Erinnerung bleiben. Die Bedeutung des Zuhörens, der sorgfältigen Kommunikation und der vertrauensvollen Gestaltung der therapeutischen Beziehung für die Gesundung stellt die Autorin sehr überzeugend dar.
Von daher ist dem Buch zu wünschen, dass es nicht nur in der Ratgeberecke stehen bleibt, sondern von dort seinen Weg in die klinische Praxis findet und von vielen angehenden Profis gelesen wird. Um Patienten und Patientinnen zu behandeln, braucht es nicht nur Fachwissen sondern ebenso wichtig sind die menschlichen Kompetenzen zur Gestaltung der Interaktion.
Rezension von
Thomas Reinhardt
Diplomierter Berater für Organisationsentwicklung. Arbeitet als interner Coach im Universitätsspital Basel und freiberuflich in den Bereichen Organisationsentwicklung, Gesundheitsmanagement, Konfliktmoderation, Coaching für Führungsverantwortliche, Teamentwicklung und Supervision. Schwerpunkte: Gesundheit und Führung, Change Management, Leadership, Kommunikation, Psychohygiene und Glück.
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