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Michael Tomasello: Eine Naturgeschichte des menschlichen Denkens

Rezensiert von Prof. Dr. Dr. Hans-Peter Heekerens, 22.12.2014

Cover Michael Tomasello: Eine Naturgeschichte des menschlichen Denkens ISBN 978-3-518-58615-0

Michael Tomasello: Eine Naturgeschichte des menschlichen Denkens. Suhrkamp Verlag (Berlin) 2014. 252 Seiten. ISBN 978-3-518-58615-0. D: 32,00 EUR, A: 32,90 EUR, CH: 42,90 sFr.

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Entstehungshintergrund

Das vorliegende Buch ist die deutsche Übersetzung der in amerikanischem Englisch verfassten und 2014 (erstmals) bei Harvard University Press (Cambridge, MA) unter dem Titel „A Natural History of Human Thinking“ erschienenen Originalausgabe. Im Vorwort erklärt der Autor, das Buch sei „eine Fortsetzung von oder besser ein Prequel zu“ (S. 9) „Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens“, seinem 2002 (englisches Original 1999) ebenfalls bei Suhrkamp (damals noch in Frankfurt a. M.) erschienenen Buch.

Der Begriff „Prequel“ ist eine Wortneuschöpfung aus „pre-“ (vor) und sequel (Folge, Fortsetzung) und bezeichnet eine Erzählung, die im Zusammenhang mit einem zuvor erschienenen Werk steht, deren Handlung aber vor und nicht nach jener der im vorigen Werk erzählten angesiedelt ist. Obschon das zweite Buch, ist es keine „Fortsetzung“ des ersten; die aus dem ersten Werk bereits bekannte Handlung wird nicht fortgeführt wird, sondern ihr ein zusätzlicher Teil der Geschichte vorangestellt. Was es damit im vorliegenden Falle konkret auf sich hat, wird deutlich werden im nachfolgenden Abschnitt, wo auch die inhaltlichen Gründe, die zur Entstehung des Buches geführt haben, dargestellt sind.

Thema

Was das Thema des vorliegenden Buches ist, kann man sich in einer ersten Näherung verdeutlichen, hält man sich vor Augen, worin die Gemeinsamkeit der beiden genannten Bücher bzw. ihr Unterschied besteht, und man sich erinnert, welch große Folgen gerade die sprichwörtlichen „kleinen Unterschiede“ haben. In den Worten des Autors: „In jenem Buch lautete die Frage, was die menschliche Kognition so einzigartig macht, und die Antwort war: Kultur… Im vorliegenden Buch geht es um eine ähnliche Frage: Was macht das menschliche Denken einzigartig? Und die Antwort ist ebenfalls ähnlich: Das menschliche Denken ist grundsätzlich kooperativ. Aber diese etwas andere Frage und die etwas andere Antwort führen zu einem ganz anderen Buch.“ (S. 9)

Der Unterschied der Fragen und der Antworten spiegelt verschiedenen Kenntnisstand wieder, und an dieser Veränderung – wertend gesprochen: Verbesserung – war der Autor maßgeblich beteiligt. Wir dürfen heute annehmen, dass Menschenaffen viel mehr über andere als intentionale Akteure wissen, als man vor einem oder anderthalb Jahrzehnten geglaubt hatte. Damit verschiebt sich die Grenze zwischen Tier und Mensch in Richtung Mensch und die Frage nach dem Unterschied zwischen ihnen muss neu gestellt werden: „Gestützt auf umfangreiche Forschungen, über die hier berichtet wird, scheint der entscheidende Unterschied nun zu sein, daß (sic; das Buch ignoriert die Rechtschreibreform) Menschen andere nicht nur als intentionale Akteure verstehen, sondern ihre Köpfe auch mit anderen in Akten geteilter Intentionalität zusammenstecken…“ (S. 9)

Aber nicht nur die Grenze zwischen Mensch und Tier wird verschoben, sondern auch der Zeitpunkt, an dem der Mensch zum Mensch wurde. Der muss vorverlegt werden: „tatsächlich argumentieren wir dafür, daß moderne menschliche Kulturen durch einen früheren Evolutionsschritt ermöglicht wurden, bei dem Menschen ihr Auskommen fanden, indem sie sich mit anderen in relativ einfachen Akten gemeinschaftlicher Nahrungssuche koordinierten“ (S. 10) Durch die genannte Vorverlegung behandelt das vorliegende Buch denn auch einen früheren Entwicklungsabschnitt als das von 2002; und eben deshalb ist dieses ein Prequel zu jenem.

Ist nach dem Gesagten das wesentliche Anliegen des Buches und seine zentrale (Hypo-)These verstanden, kann man einen vertieften Blick wagen: „Um die Eigenart dieser Denkprozesse zu beschreiben – insbesondere um menschliches Denken vom Denken anderer Menschenaffen zu unterscheiden –, müssen wir seine Komponentenprozesse der kognitiven Repräsentation, des Schlußfolgerns und der Selbstbeobachtung charakterisieren. Die Hypothese geteilter Intentionalität behauptet, daß alle drei dieser Komponenten im Lauf der Evolution des Menschen in zwei entscheidenden Schritten umgewandelt wurden. In beiden Fällen war die Umwandlung Teil einer größeren Veränderung sozialer Interaktion und Organisation, bei der die Menschen gezwungen waren, kooperativere Lebensweisen anzunehmen.“ (S. 10)

Autor

Der in den USA gebürtige und dort in (Experimental-)Psychologie ausgebildete Michael Tomasello ist seit 1998 Co-Direktor am Leipziger Max Planck Institut (MPI) für Evolutionäre Anthropologie und seit 2001 Co-Direktor am Wolfgang Köhler Primaten Forschungs Zentrum, Leipzig. Dieses Zentrum ist ein Projekt des genannten MPI und arbeitet mit dem Zoo Leipzig zusammen. Die Forschung konzentriert sich hauptsächlich auf Verhalten und Kognition der vier Menschenaffenarten: Schimpanse, Gorilla, Orang-Utan und Bonobo, wobei das besondere Interesse der ontogenetischen Entwicklung der Kognition bei Schimpansen und Bonobos gilt.

Am 4. September 2014, einen guten Monat vor Erscheinen des vorliegenden Buches, erhielt der Autor als Erster den „Wiesbadener Helmuth Plessner Preis“, benannt nach dem in Wiesbaden geborenen jüdischstämmigen Philosophen und Soziologen. In der Presseerklärung der Stadt (www.wiesbaden.de/medien/rathausnachrichten) wird das Werk des Autors in einen größeren Rahmen gestellt: „Tomasello arbeitet mit differenzierten ontogenetischen Vergleichen zwischen den genetisch so nah verwandten Primatenjungen und Menschenkindern. Damit setzt er in neuer, experimenteller und interpretierender Weise die für die Philosophische Anthropologie Plessners einschlägige Forschungstradition kontrastiver Tier-/Mensch-Vergleiche fort. Er verfolgt experimentalsoziologisch die Differenz der Humanontogenese am Monopol der ‚Zeigegeste‘; unter den Primaten lassen sich ausschließlich zwei Menschenkinder untereinander etwas Drittes zeigen beziehungsweise zeigen selbst auf etwas. Diese starke Kopplung von Objektivität und Intersubjektivität ermöglicht in einer evolutionsgeschichtlichen Besonderung eine ‚geteilte Intentionalität‘, die menschliche Lebewesen vor allem durch Sprache zur Kommunikation zwecks Kooperation einsetzen. In der gegenwärtigen soziologischen und philosophischen Auseinandersetzung mit dem dominierenden Naturalismus ist wichtig, dass Tomasello lebendige Natur letztlich als Ermöglichungsstruktur der sozio-kulturellen Welt versteht – und nicht wie der Darwinismus als einen Determinismus und Reduktionismus.“

Aufbau und Inhalt

Das Buch enthält sechs Kapitel, denen ein Vorwort voran gestellt ist, in dem der Autor zum einen zum Buch hinführt mit Worten, die oben (unter „Thema“) auszugsweise referiert sind, und zum anderen Danksagungen an Personen und Institutionen ausspricht. Dem Schluss-Kapitel folgen die nach Kapiteln nummerierten Anmerkungen, die mit vier Seiten knapp ausfallen, die Literatur (Verzeichnis der benutzten Quellen) und ein kurz gehaltenes kombiniertes Personen- und Sach-Register.

Im 1. Kapitel Die Hypothese geteilter Intentionalität legt der Autor dar, welche neueren empirischen Befunde der evolutionären Anthropologie in Verbindung mit verschiedenen theoretischen Entwürfen und Modellvorstellungen zum Sozialen zur hier verfolgten Hypothese geführt haben. Ferner führt er aus, wie es denn zu den o.g. zwei entscheidenden Schritten in der Entwicklung des menschlichen Denkens kam. Seine These ist, dass die Frühmenschen – und eben dadurch entwickelten sie sich von den nächstverwandten Primaten, die in der Phase der „Individuellen Intentionalität“ verhaftet blieben, fort – durch ökologische Umstände zu kooperativeren Lebensweisen gezwungen wurden, weshalb sich ihr Denken stärker darauf richten musste, „Möglichkeiten der Koordination mit anderen zu ersinnen“ (S. 18), um zunächst gemeinsame Ziele zu erreichen (Phase der „Gemeinsamen Intentionalität“), später auch Gruppenziele (Phase der „Kollektiven Intentionalität“)

Die Entwicklung des menschlichen Denkens lässt sich also nach naturgeschichtlicher Betrachtung in drei Phasen beschreiben, wie dies in den nachfolgenden drei Kapiteln 2 – 4 geschieht. In jeder dieser Phasen sind alle drei Komponentenprozesse des Denkens – die kognitive Repräsentation, das Schlussfolgern und die Selbstbeobachtung – Gegenstand der Betrachtung.

Die bedeutsamen Merkmale der Individuellen Intentionalität (Kap. 2) sind Konkurrenz und intentionale Kommunikation. Ihre kognitive Repräsentation ist gekennzeichnet durch schematische / bildhafte Repräsentationen und Situationen, ihr Schlussfolgern durch kausale / intentionale Schlüsse und die Selbstbeobachtung durch kognitive Selbstbeobachtung. Individuelle Intentionalität finden wir bei heutigen Menschen und Menschenaffen, die Traditionslinie ist damit länger als sechs Millionen Jahre; damals spaltete sich die Entwicklungslinie, die zum heutigen Menschen führt, ab von jener der Schimpansen und Bonobos.

Im Unterschied zur Individuellen Intentionalität kennzeichnet die Gemeinsame Intentionalität (3. Kapitel) mit den Merkmalen „Zwei-Ebenen-Zusammenarbeit“ und „kooperative Kommunikation“, dass die kognitiven Repräsentationen perspektivische / symbolische sind und propositionale Inhalte haben, die Schlussfolgerungen rekursiv sind und die Selbstbeobachtung mit Bezug auf die zweite Person erfolgt. In ausgereifter Form dürfte die Gemeinsame Intentionalität vor 400 tausend Jahren vorhanden gewesen sein – und damit nicht erst (um nur auf das hiesige Gebiet zu blicken) beim Neandertaler sondern schon beim Homo heidelbergensis.

Der hier betrachtete Abschnitt der Menschheitsgeschichte ist ein Übergangsschritt nicht nur in Sachen „Intentionalität“, sondern auch bei der Kommunikation: Ikonische Gesten und Gebärdenspiel sind das Link zwischen Zeigegesten und konventioneller Sprache.

Bei der im 4. Kapitel dargestellten Kollektiven Intentionalität, gekennzeichnet durch gruppenorientierte Kultur und konventionelle Kommunikation, finden sich dann objektive / konventionelle Repräsentationen und Propositionen, reflektierende / begründete Schlüsse und normative Selbststeuerung. „Der gewaltige zweite Schritt auf dem Weg zum modernen Menschen nahm … das bereits durch Kooperation geprägte und perspektivische Denken der Frühmenschen auf und kollektivierte und objektivierte es.“ (S. 182) Hier entsteht auch die konventionelle Sprache. „Wann genau all dies geschah, ist für unsere Geschichte nicht wesentlich, aber die ersten deutlichen Zeichen ausgeprägt menschlicher Kulturen erscheinen mit Homo sapiens sapiens, das heißt mit den modernen Menschen, also frühestens vor 200000 Jahren.“ (S. 128) Der Neandertaler, hat nach solcher Einschätzung das Stadium der Kollektiven Intentionalität also nicht erreicht.

In Menschliches Denken als Kooperation (Kap. 5) wird die Hypothese der geteilten Intentionalität innerhalb der gegenwärtigen theoretischen Entwürfe einerseits zur kognitiven Entwicklung des Menschen, andererseits zur Evolution menschlicher Sozialität verortet und auf die Rolle der Ontogenese eingegangen.

Im Schluss-Kapitel (dem 6.) weist der Autor darauf hin, dass seine Hypothese einer „Geteilten Intentionalität“ – wie jede andere, die sich auf dem Gebiet der frühmenschlichen Entwicklung im allgemeinen und der dortigen kognitiven (und emotionalen) im besonderen bewegt – nicht „bewiesen“ werden kann; jedenfalls nicht in dem Sinne, wie theoretische Sätze in der Logik und Mathematik oder empirische Sätze in den experimentell verfahrenden Wissenschaften beweisbar sind. Historische Aussagen können immer nur mehr oder minder plausibel sein; für solche aus der Frühgeschichte des Menschen gilt dies angesichts der „Quellenlage“ in besonderem Maße. Die Plausibilität speist sich aus zwei Quellen: zum einen aus Sachargumenten für die Hypothese und zum anderen im logischen Nachweis ihrer Notwendigkeit. Beides erbracht zu haben, nimmt der Autor in Anspruch, weshalb das Buch mit nachfolgenden Worten beschließt:

„Es ist eine empirische Tatsache, daß die soziale Interaktion und Organisation von Menschenaffen und Menschen sich äußerst stark unterscheiden, wobei Menschen in jeder Hinsicht viel kooperativer sind. Wir finden es äußert schwierig zu glauben, daß diese Unterschiede keinen Bezug zu den gewaltigen Unterschieden der Kognition und des Denkens haben sollen, die die Menschenaffen ebenfalls von den Menschen trennen, vor allem, wenn wir uns auf die Einzelheiten konzentrieren. Welche nichtsoziale Theorie kann solche Dinge wie kulturelle Institutionen, perspektivische und konventionelle Konzeptualisierungen in natürlichen Sprachen, rekursives und rationales Schlussfolgern, objektive Perspektiven, soziale Normen und normative Selbststeuerung usw. erklären? All das sind durch und durch Phänomene der Koordination, und es ist nahezu unvorstellbar, daß sie evolutionär aus einer nichtsozialen Quelle entsprangen. So etwas wie die Hypothese der geteilten Intentionalität muß einfach wahr sein.“ (S. 225)

Diskussion

Die Diskussion um das Buch hat mit den ersten Rezensionen schon begonnen. So hat Dominik Perler (2014), der das Buch insgesamt positiv bewertet, da nur ein gutes Buch zum Nachdenken und nicht zum Abnicken verleite, zwei kritische Anfragen gestellt. Die erste betrifft die Sprache, die zweite die Perspektivenvielfalt. Kann man Perspektivenvielfalt tatsächlich nur durch andere und in Zusammenarbeit mit diesen gewinnen, lässt denn nicht bereits die individuelle Intentionalität Perspektivenvielfalt zu? Auf solche kritischen Anfragen kann man mit dem Autor antworten: Ja natürlich können schon die Großen Menschenaffen Dinge (Gegenstände bis Landschaften) aus verschiedenen Perspektiven sehen – aber immer nur eine Perspektive nach der anderen. Indes scheint der Kritiker nicht so recht verstanden zu haben, worum es dem Autor geht: „Wenn ich etwas auf eine Weise sehe und dann um die Ecke biege, um es auf eine andere Weise zu sehen, habe ich dadurch nicht zwei Perspektiven auf dasselbe Ding, da ich nicht gleichzeitig über mehrere Perspektiven zum Vergleich verfüge. Aber wenn zwei Menschen sich demselben Ding gleichzeitig zuwenden – und es ist Bestandteil ihres gemeinsamen Hintergrunds, daß sie das beide tun – dann wird ‚Raum geschaffen‘ (…) dafür, daß ein Verständnis der verschiedenen Perspektiven entsteht.“ (S. 73)

Was Sprachverwendung anbelangt, so teile ich Dominik Perlers kritische Anfrage, ob man sich die Entwicklung der Geteilten Intentionalität wirklich ohne Sprachgebrauch vorstellen kann bzw. muss. Der Frühgeschichtler Hermann Parzinger (2014, S. 34) datiert Sprachgebrauch jedenfalls aus respektablen Gründen schon in die Periode der Menschheitsentwicklung, in der sich die Geteilte Intentionalität nach Michael Tomasellis Meinung entwickelt hat. „Was wir sicher sagen können, ist, dass der Homo erectus schwerlich ohne Sprache ausgekommen sein kann: Seine Steingeräte und Holzartefakte waren in ihrer Herstellungstechnik wie in ihrer technischen Perfektion so vollendet, dass eine Anfertigung nur durch Nachahmung nicht vorstellbar ist. Dafür bedurfte es regelrechter Unterweisung und eines Wissenstransfers über Materialbesonderheiten, Form, Gestaltung und technische Details, was ohne Kommunikation durch Sprache nicht vorstellbar ist. Das Gleiche gilt für jene Treibjagden, die offenbar auf Großwild durchgeführt wurden, bei denen eine größere Gruppe von Jägern geplant und koordiniert nach festen Absprachen und klar verteilten Aufgaben zusammenwirken musste, um Erfolg zu haben.“ Hermann Parzinger kann mit „Sprache“ hier nur konventionelle sprachliche Kommunikation, wenngleich im Frühstadium ihrer Entwicklung meinen, nicht aber (bloß) Kommunikation mit ikonischen Gesten und Gebärdenspiel, was Michael Tomaselli für damals als höchste erreichte Stufe der Kommunikation vorschwebt.

Zu ganz anderer Diskussion Anlass gibt der Umstand, dass der Autor die in der Mensch-Tier-Debatte immer auch vertretene Ansicht, zwischen dem Tier – konkret: den höchstentwickelten nichtmenschlichen Primaten – und dem Menschen bestünden nur graduelle Unterschiede, nicht teilt. Er benennt mehrere kategoriale Unterschiede, also solche qualitativer und nicht (bloß) quantitativer Natur. Gerade Vertreter(inne)n der Sozialen Kultur begegnen einer solchen Position mit Skepsis und Reserviertheit. Aus gut verständlichem und ethisch bedeutsamen Grund: Die Herrschaft des Menschen über das Tier, Herrschaft bis hin zu dessen Tötung, wurde immer mit qualitativer Unterschiedlichkeit zwischen Tier und Mensch und des Menschen einzigartiger Überlegenheit legitimiert.

Wer eine solche Position für ethisch nicht zu rechtfertigen hält, verweist denn auch gern auf Ansätze, die auf Gemeinsamkeiten von Tier und Mensch abheben; etwa den des (heute in den USA lebenden) Ethologen und Psychobiologen Frans de Waal, der seine Forschungsergebnisse und darauf basierende Überlegungen auf Deutsch zuletzt in „Das Prinzip Empathie“ (2011) vorgetragen hat. Die angesprochenen ethischen Fragen können hier nicht weiter verfolgt werden, was allerdings eine „gute“ Anthropologie betrifft, so muss sie nach meinem Dafürhalten Beides leisten: die Gemeinsamkeiten von und die Unterschiede zwischen Tier und Mensch in den Blick nehmen. Als Beispiel für eine „gute“ Anthropologie in diesem Sinne möchte ich verweisen auf die von Wolfgang Welsch (2007); und die sollte man einmal mit der von Johannes Schilling (2000) vergleichen. Bei ausgewogener Sicht der Dinge, muss man Michael Tomaselli im Übrigen nicht einfach „in Kauf nehmen“. „Denken, um zu ko-operieren: das ist, in gröbsten Zügen, die Hypothese der geteilten Intentionalität.“ (S. 186) Wenn das in der Sozialen Kultur keinen Anklang finden und Nachhall erzeugen sollte, was dann?

Und noch etwas gibt es, das der Sozialen Arbeit an diesem Buch gefallen müsste. Der Autor leitet ja jedes Kapitel mit einem als „Sinnspruch“ fungierenden Zitat ein. Im 5. Kapitel („Menschliches Denken als Kooperation“) lautet dieses: „Die Internalisierung gesellschaftlich verwurzelter und historisch entwickelter Tätigkeiten ist das charakteristische Merkmal der Psychologie des Menschen.“ Es stammt von Lev Vygotski („Mind in Society“, Cambridge, MA: Harvard University Press, 1978), der hierzulande aber (wie zuvor in der DDR) noch Lew Wygotski geschrieben wurde, als man ab 1969 sein Buch „Denken und Sprechen“ (Frankfurt a. M.: Fischer) endlich „im Westen“ (ohne den früheren Umweg über die DDR-Buchhandlung in Prag) kaufen konnte. Aus ihm im entwicklungs- oder kognitionspsychologischen Seminar zu zitieren, trug einem allerdings die kritische Anfrage ein, ob man denn einer solchen „Erzählung aus der Tradition des historischen Materialismus“, sprich: einer „marxistischen“ Sichtweise denn wirklich Glauben schenken wolle. Das war kein Heidelberger Sonderfall, sondern illustriert die Verhältnisse an westdeutschen Psychologie-Instituten (Westberlin war auch da „a bisserle anders“). Der Rezensent registriert mit Freuden – und die Soziale Kultur dieses Landes sollte es auch tun, dass eine „historisch-materialistische“ Denkweise im Deutschland von heute nicht einfach mehr mit einer rechten Handbewegung als „unwissenschaftlich“ abgetan werden kann.

Fazit

Für Angehörige der Sozialen Kultur sind Fragen der Emotion in der Regel interessanter als solche der Kognition und sie kennen sich meist auf erstem Gebiet besser aus als auf dem zweiten. Beides zusammen mag die Lektüre des vorliegenden Buches für Leser(innen) der Sozialen Kultur weniger interessant oder – wenn denn schon damit begonnen – schwieriger erscheinen lassen als etwa die von „Das Prinzip Empathie“. Lehrende der Sozialen Arbeit, die sich um Fragen einer anthropologischen Fundierung kümmern, könnten es mit Erkenntnisgewinn lesen, und sich daran zudem, sollten sie denn Anhänger(innen) einer „historisch-materialistischen“ Sichtweise sein, erfreuen. Wer aus, in und für die Soziale Kultur etwas zu Anthropologie sagen möchte, sollte sich mit vorliegendem Buch auseinander gesetzt haben. In den Bibliotheken der Ausbildungsstätten Sozialer Arbeit sollte es jedenfalls nicht fehlen.

Quellennachweis

  • Parzinger, H. (2014). Die Kinder des Prometheus. München: Beck (Rezension: www.socialnet.de/rezensionen/17808.php).
  • Perler, D. (2014). Wir lassen uns doch hier nicht zum Affen machen. Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 230/2014 v. 4.10.2014, S. L23.
  • Schilling, J. (2000). Anthropologie: Menschenbilder in der Sozialen Arbeit.
  • Waal, F. de (2011). Das Prinzip Empathie. München: Hanser (Rezension: www.socialnet.de/rezensionen/11350.php).
  • Welsch, W. (2007). Anthropologie – Vorlesung an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, Wintersemester 2006/07, Auditorium Netzwerk, CD-Edition 2007.

Rezension von
Prof. Dr. Dr. Hans-Peter Heekerens
Hochschullehrer i.R. für Sozialarbeit/Sozialpädagogik und Pädagogik an der Hochschule München
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Es gibt 184 Rezensionen von Hans-Peter Heekerens.

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ISSN 2190-9245