Mariana Mazzucato: Das Kapital des Staates
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 16.10.2014

Mariana Mazzucato: Das Kapital des Staates. Verlag Antje Kunstmann GmbH (München) 2014. 302 Seiten. ISBN 978-3-95614-000-6. 22,95 EUR.
„Wenn die Hand des Staates effizient funktioniert, ist sie fest, aber nicht schwer“
Über die Aufgaben des Staates gibt es, je nach politischer, historischer, ideologischer … Position, natürlich unterschiedliche Zuschreibungen und Funktionsbestimmungen. Die „Staatslehren“ stellen sich dabei als Wollens-, Sollens- und Wünschens-Perspektiven dar. In der sich immer interdependenter, entgrenzender und (scheinbar) freiheitlich entwickelnden globalisierten (Einen?) Welt gewinnt staatliches Handeln dann an Bedeutung, wenn es gilt, Unsicherheiten zu beseitigen, neoliberale Auswüchse zu korrigieren oder allzu freiheitliche, fundamentalistische oder nationalistische Gedanken einzudämmen. Betrachten wir die Aufgaben des Staates aus demokratischer Sicht, sollte der Staat dafür sorgen, dass in einer Gesellschaft soziale Gerechtigkeit herrscht. Auf einem Gebiet aber, das ohne Zweifel für das Wohlergehen, für Gleichheit und sozialen Frieden der Menschen entscheidende Auswirkungen hat, soll sich der Staat mehr oder weniger „heraus halten“ oder höchstens Regelungen schaffen, die Ausreißer in einen definierten gesellschaftlichen Konsens einfängt: In der Wirtschaft! So jedenfalls wird die kapitalistische und neoliberale Position plakatiert. Die Gegenpositionen werden zum einen in der Kapitalismuskritik dargestellt, wie sie ausführlich bei Socialnet und Sozial.de vorgestellt und thematisiert wird (siehe z. B.: Jos Schnurer, Ist Geld die Quelle allen Übels – oder hat Geld immer recht?, www.socialnet.de/materialien/168.php, 22.11.13 ); zum anderen in der Human- und Haben-Diskussion aufgespießt und mit der Forderung belegt, dass der Mensch nicht für die Wirtschaft, sondern die Wirtschaft für den Menschen da sei (Hans Bürger, Der vergessene Mensch in der Wirtschaft. Ökonomie zwischen Gier und Fairness, 2012, www.socialnet.de/rezensionen/14184.php), und schließlich im Ökonomie-Ökologie-Diskurs thematisiert (Silke Helfrich / Heinrich-Böll-Stiftung, Hrsg., Commons. Für eine neue Politik jenseits von Markt und Staat, 2012, www.socialnet.de/rezensionen/13482.php).
Entstehungshintergrund und Autorin
Die ökonomischen Positionen orientieren sich dabei überwiegend an der Vorstellung, dass Wirtschaften in erster Linie die individuellen, schöpferischen und freien Initiativen braucht, um innovativ und erfolgreich tätig zu sein. Erst in zweiter Linie kommen die regulierenden Kräfte des Staates ins Spiel. Der Staat wird in diesem „freien Spiel des Marktes“ entweder als „Eindringling“ betrachtet, oder er ist, wenn privates, wirtschaftliches Handeln zu scheitern droht, als „Unterstützer“ von Wirtschaftswachstum und „Reparateur“ gefragt. Dabei bringen sich Lobbyisten und Interessengruppen ein, die mit machtvollen, oft effektiven und nicht immer legalen Mitteln beim Staat für Vergünstigungen, Fördergelder, Steuererleichterungen, usw. eintreten. Die aus den Wirtschafts- und Finanzkrisen entstandene Kritik, dass die Wirtschaft die Gewinne einsteckt, während bei Verlusten der Staat, also der Steuerzahler einsteht, hat zu dem Unbehagen geführt, dass im Verhältnis von Staat und Wirtschaft etwas nicht stimmt.
Die an der britischen Universität Sussex lehrende Ökonomin und Politikwissenschaftlerin Mariana Mazzucato hinterfragt die traditionelle ökonomische Praxis, dass wirtschaftliche, staatliche Interventionen dann erforderlich sind, „wenn die gesellschaftliche Rendite aus einer Investition höher ist als die private Rendite und es daher unwahrscheinlich ist, dass ein privates Unternehmen investieren wird“. Sie ruft zu einem Perspektivenwechsel im Verhältnis von Staat und Privatwirtschaft auf und entwickelt ein neues Bild vom „Unternehmerstaat“, der als „Motor der Innovation und des Wandels agiert“. Sie beruft sich dabei u. a. auf die „General Theory“ von John Maynard Keynes (1883 – 1946), der mit seinen makroökonomischen Ideen dem Staat als (auch) wirtschaftlich Handelnden aktive Bedeutung zuspricht. Mit dem Buch, so kündigt es der Verlag an, wird die Diskussion über die Zukunft der Wirtschaft und in diesem Zusammenhang die Rolle des Staates, vom Kopf auf die Füße gestellt. Dieser Paradigmenwechsel dürfte auch diejenigen interessieren, die im Keynesianismus nichts anderes als ein als Katze verkleidetes Raubtier sehen („Raubtierkapitalismus“), zu einem neuen Nachdenken über Konzepte gegen neoliberale Entwicklungen veranlassen.
Aufbau und Inhalt
Mit Keynes über Keynes hinaus denken, mit ökonomischem Sachverstand und globalem Governance-Bewusstsein, das könnte der Schlüssel sein, mit dem das konkrete wie visionäre Denken für nicht nur ein intelligenteres, sondern sogar integrativeres wirtschaftliches Wachstum gelesen werden kann. Neben der Einführung und der Zusammenfassung gliedert die Autorin ihre Studie, die auf den Grundlagen eines Berichts beruht, die sie zur Thematik „Unternehmerstaat“ für die britische Denkfabrik DEMOS erarbeitet hat, in neun Kapitel:
- Innovationen: Von der Krisenideologie zur Arbeitsteilung.
- Technologie, Innovation und Wachstum.
- Der Staat als Risikoträger.
- Der Unternehmerstaat in den Vereinigten Staaten.
- Der Staat hinter dem iPhone.
- Druck versus Anreize: Die grüne Revolution.
- Wind- und Sonnenenergie: Erfolgsgeschichten und Technologie in der Krise.
- Risiken und Profite: Von faulen Äpfeln zu symbiotischen Ökosystemen.
- Sozialisierung des Risikos, Privatisierung der Gewinne: Bekommt der Unternehmerstaat seinen gerechten Anteil?
Der üblichen, bei Wirtschaftspraktikern wie -theoretikern gängigen Sichtweise, dass der Staat grundsätzlich der Feind der Unternehmen sei und als bürokratischer wie schwergängiger Elefant sich eher aus den innovativen Entwicklungen der Ökonomie heraushalten solle, setzt die Autorin die Aufforderung entgegen, dass sich der (natürlich demokratische) Staat vielmehr auf seine innovativen Kräfte und Positionen besinnen und seine unternehmerische Rolle selbstbewusster ausüben solle. Sie plädiert dafür, „über Partnerschaften zwischen privaten und öffentlichen Investoren nach(zu)denken, die weniger parasitär als vielmehr symbiotisch sind“.
Die kapitalistische Entwicklung hat gezeigt, dass die von Adam Smith vor mehr als 250 Jahren aufgestellte These von der „unsichtbaren Hand“, dass nämlich kapitalistische Märkte sich dann selbst regulieren würden, überließe man sie sich nur selbst („freier Markt“), falsch ist; vielmehr bedarf es des regulierenden Staates, der jedoch nicht „Planwirtschaft“ sein könne. Die Autorin räumt mit den ökonomischen Mythen auf, indem sie sie gleichzeitig mit konkreten Beispielen belegt und damit gleichzeitig die Anteile differenziert, die sich in diesem Kräfte- und Wechselverhältnis von Staat und Wirtschaft darstellen: „Bei Innovationen geht es im wesentlichen um Forschung und Entwicklung“ – vielmehr muss Innovationspolitik die konkreten Unternehmenssituationen im Blick haben. „Klein ist fein“ – vielmehr bedarf es der Aufmerksamkeit auf die Produktivität. „Statt kleinen Unternehmen Almosen zu geben, in der Hoffnung, dass sie wachsen werden, ist es besser, junge Unternehmen zu fördern, die bereits Ehrgeiz bewiesen haben“. Dem dritten Mythos „Wagniskapital liebt das Risiko“ setzt die Autorin die Erfahrungen bei Krisensituationen entgegen. „Wagniskapital konzentriert sich in der Regel dort, wo einerseits hohes Wachstum zu erwarten ist, andererseits die technologische Komplexität und die Kapitalintensität gering sind“. Der vierte Mythos – „Wir leben in einer Wissensökonomie“ – wird in Frage gestellt, indem die Autorin darauf verweist, dass es, wegen der internationalen und globalen Verflechtungen, etwa bei der Patentvergabe, keine Garantie dafür gäbe, „dass die durch die Anreize erzeugte zusätzliche Forschung auch tatsächlich in dem Land stattfindet, das die Anreize gesetzt hat“. Im europäischen Kontext ist der gängige Mythos beliebt, dass Europas größtes Problem (im Vergleich zu den USA) die Vermarktung sei; vielmehr zeigten sich die Unterschiede in den Intensitäten der Vernetzungen und Kooperationen zwischen universitären und unternehmerischen Aktivitäten. Der sechste Mythos schließlich – „Damit Unternehmen investieren, muss es weniger Steuern und weniger Bürokratie geben“ – wird von Mariana Mazzucato zurück gewiesen: „Innovationspolitik muss … den Forderungen nach verschiedensten steuerlichen Maßnahmen widerstehen“.
Mit dem dritten Kapitel wendet sich die Autorin der in diesen kontroversen Diskussionen vermutlich umstrittensten Auffassung zu, dass der Staat im Konzert der Wachstumsdenker „Risikoträger“ sein solle, und zwar in erster Linie bei Entwicklungs- und Forschungs-Investitionen. Der Staat solle die Welle des Wachstums erzeugen, statt nur auf ihr zu reiten! Die zahlreichen Beispiele und Belege für Ge- oder Misslingen von wachstumsorientierten Innovationen nimmt die Autorin überwiegend aus der ökonomischen Praxis in den USA. Im vierten Kapitel stellt sie vier erfolgreiche Exempel vor, wie der Staat Innovationen fördert: Die „Defense Advanced Research Projects Academy“ (DARPA), „Small Business Innovation Research“ (SBIR), „Orphan Drug Act“ und die „National Nanotechnology Initiative“. Im fünften Teil erzählt die Autorin die Geschichte von „Apple“ und stellt der Euphorie des kreativen, genialen Schaffens von einzelnen Pionieren der iPhone-Entwicklung „die sehr sichtbare Hand des Staates“ durch staatlich finanzierte Forschung gegenüber. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass Kreativität, Erfindungs- und Entwicklungskraft gerade in einem Land förderlich sind, „in dem der Staat eine Schlüsselrolle bei der Entwicklung risikoreicher Technologien spielt, die frühen hohen und riskanten Investitionen übernimmt und die Unternehmen unterstützt…“.
Mit der „grünen industriellen Revolution“ geht es im sechsten Kapitel darum, wie durch staatliche Anstrengungen rund um den Globus Innovationen zur Energieversorgung vorangebracht werden können. Es sind gewaltige, visionäre und je konkrete Entwicklungen notwendig, sich von den traditionellen Abhängigkeiten und Selbstverständlichkeiten bei der Nutzung von endlichen, fossilen und nuklearen Energiequellen zu lösen, eine nachhaltige Industriewirtschaft zu schaffen und eine Wende in der Klimapolitik zu bewirken. Die ambivalenten Einstellungen und Politiken in den einzelnen Ländern und Weltregionen machen es notwendig, bei nationalen, inter- und transnationalen Initiativen einen Perspektivenwechsel zu vollziehen. Am Beispiel der Innovationen und Entwicklungen bei der Wind- und Sonnenenergie zeigt die Autorin die Vor- und Nachteile auf und weist nach: „Die Entwicklung sauberer Technologien und die Entstehung von Märkten für erneuerbare Energien hängen nicht vom Zufall ab“. Auch hier räumt sie wieder mit einigen, Denk- und Handlungsmythen auf und plädiert für ein „symbiotisches Innovations-Ökosystem“. Wie ein solches aussehen könnte, zeigt sie im achten Kapitel mit einer Risiko- und Profit-Analyse auf; und sie verweist im neunten und letzten Kapitel mit der Frage, ob der Unternehmerstaat in diesem Arbeitsteilungs- und Verteilungsprozess auch seinen gerechten Anteil erhält, oder ob es bei der aktuellen und skandalösen Situation bleibt, dass die ökonomischen Risiken sozialisiert und die wirtschaftlichen Gewinne privatisiert werden. Die Autorin stellt ein Modell vor, mit dem eine „Verknüpfung von Risiko und Gewinn“ bei den am ökonomischen und Innovationsprozess Beteiligten möglich ist.
Fazit
„Intelligentes, integratives und nachhaltiges Wachstum kommt nicht von allein; es setzt bestimmte Instrumente voraus“. In der vorgestellten Studie wird ein Mentalitäts- und Bewusstseinswechsel herausgefordert, dass der Staat bei der ökonomischen Entwicklung und Innovation keine Reparatur- oder Nachreiter-, sondern eine aktive (Risiko-)Funktion übernehmen müsse; „er sollte dem privaten Sektor nicht einfach Risiken abnehmen…, er sollte vielmehr die Risiken tragen, die der private Sektor nicht tragen will, aber dann auch die Früchte seiner Risikobereitschaft ernten“. Die Autorin Mariana Mazzucato plädiert für eine „systemische Perspektive“, bei der die Rollen und Funktionen von Wirtschaft und Staat in der „Risikolandschaft“ realistisch betrachtet werden.
Aus der alternativen Analyse zum (bisher) ungleichen und ungeklärten Verhältnis von Wirtschaft und Staat ist (unversehens oder logisch?) ein Plädoyer für ein selbstbewusstes, demokratisches, staatliches Handeln geworden!
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 16.10.2014 zu:
Mariana Mazzucato: Das Kapital des Staates. Verlag Antje Kunstmann GmbH
(München) 2014.
ISBN 978-3-95614-000-6.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/17630.php, Datum des Zugriffs 04.10.2023.
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