Iulia-Karin Patrut: Phantasma Nation
Rezensiert von Mag. Tobias Neuburger, 12.03.2015

Iulia-Karin Patrut: Phantasma Nation. "Zigeuner" und Juden als Grenzfiguren des "Deutschen" : (1770 - 1920). Verlag Königshausen & Neumann (Würzburg) 2014. 559 Seiten. ISBN 978-3-8260-5320-7. 42,00 EUR.
Thema
Seit Jahrhunderten leben Roma und Sinti in Europa – und seit Jahrhunderten bevölkern ihre stereotypisierten Zerrbilder die deutschsprachige Literatur. Gegenstand dieser seitenstarken Studie, die – anders als der Buchtitel vermuten lässt – einen zeitlichen Bogen vom 16. bis ins frühe 20. Jahrhundert spannt, ist die literarische Inszenierung von ‚Zigeuner‘- und ‚Juden‘-Figuren. Sie erforscht anhand literarischer Texte von der Frühen Neuzeit bis in das Zeitalter von Aufklärung und der Bildung moderner Nationalstaaten die variierenden Funktionen, die die Figuren des ‚Zigeuners‘ und des ‚Juden‘ in Bezug auf deutsche Selbstentwürfe einnahmen.
Autorin und Entstehungshintergrund
Die Literaturwissenschaftlerin Iulia-Karin Patrut legt mit dieser Monografie eine überarbeite Fassung ihrer Habilitationsschrift vor. Diese ist im Rahmen des DFG-geförderten Sonderforschungsbereichs „Fremdheit und Armut. Wandel von Inklusions- und Exklusionsformen von der Antike bis zur Gegenwart“ an der Universität Trier entstanden.
Aufbau
Die Struktur der Monografie gliedert sich in drei Abschnitte:
- Der erste Teil (Kapitel II) widmet sich der literarischen Darstellung von Juden und ‚Zigeunern‘ in der Frühen Neuzeit.
- In einem zweiten Teil (Kapitel III, IV, V) werden Juden- und ‚Zigeuner‘-Bilder im Kontext von Nationsbildungsprozess und Diskurs der Aufklärung betrachtet.
- Während im letzten und dritten Teil (Kapitel VI) das poetische Werk Franz Kafkas als Verarbeitung der eugenischen Diskurse Anfang des 20. Jahrhunderts in den Mittelpunkt des Forschungsinteresses rückt.
Inhalt
Frühneuzeitliche ‚Zigeuner‘-Bilder, darauf weist Patrut in Kapitel II hin, wurden als intervenierende Variable, als ‚Drittes‘ in das bedeutend ältere christlich-jüdische Verhältnis eingeführt. Hier wurden ‚Zigeuner‘ in einer Art und Weise dargestellt, „dass sie auf der dyadischen christlich-jüdischen Landkarte der Selbstverortungen gleichsam als Dritte intervenieren.“ (S. 28) Sie sind in gewissem Sinne „Kippfiguren“ (S. 36), die am Rande der christlichen Gemeinschaft verortet, gleichzeitig dazu- und nicht dazugehören.
Während die Repräsentationen bis in das 17. Jahrhundert ‚Zigeuner‘ fast ausschließlich als religiöse Grenzfigur darstellten, tritt dieser Aspekt – insbesondere mit dem Dreißigjährigen Krieg – zunehmend in den Hintergrund. Dann, so Patrut, werden sie „nicht mehr vorrangig als Grenzfigur in religiöser Hinsicht semantisiert, sondern in rechtlich-sozialer.“ (S. 41) Das ‚Zigeuner‘-Stereotyp entwickelt sich im Verlauf des 17. Jahrhunderts zunehmend zu einem weltlichen Stereotyp, das weniger religiöse Aspekte in den Mittelpunkt, sondern soziales Verhalten und weltliches Recht in den Mittelpunkt ihrer Repräsentation rückt. Die ‚Zigeuner‘ entwickeln sich von Grenzfiguren der (christlichen) Religion zu „Grenzfiguren der Sozietät“ (S. 43).
Bereits von Anfang an, ist das Bild von den ‚Zigeunern‘ durch „eklatante Risse, Brüche und Widersprüche“ (S. 43) gekennzeichnet und seine „Funktionalisierung im Rahmen des [christlich-deutschen; Anm. TN] Selbstentwurfs mehrstimmig verl[aufen].“ (S. 48) In dem Zwischenraum aus Heidentum, Christentum und Judentum situiert, gaben „[d]ie Versuche, die Religion der ‚Zigeuner‘ zu beschreiben, […] immer wieder Anlass zur genaueren Bestimmung eigener, deutsch-christlicher Standpunkte.“ (S. 52) Im Zuge des Prozesses der Aufklärung nimmt das „Gewicht religiöser Alterisierung von Juden wie ‚Zigeunern‘ ab.“ (S. 121) Diese Schwerpunktverlagerung hängt auch mit dem sich verändernden Modus des deutschen Selbstentwurfs zusammen.
Für die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts konstatiert Patrut (in Kapitel III) eine „Hinwendung zum ethnographischen ‚Zigeuner‘-Begriff“ und weist darauf hin, dass „die polizeilichen und Verwaltungsschriften […] diesbezüglich eine Ausnahme [bilden], da dort mit dem ‚Zigeuner‘-Begriff weiterhin illegitime Mobilität bezeichnet und verfolgt wird.“ (S. 122) Besonders in literarischen Texten der Romantik um 1800 avancieren ‚Zigeuner‘, wie es Patrut formuliert, zu „Statthalter[n] des ‚Deutschen‘“ (S. 124), „Statthalter der alten Germanen“ (S. 128) oder „Statthalter des Ur-Deutschen“ (S. 142). ‚Zigeuner‘, denen als ‚Volk‘ hierbei jene Einheit zugeschrieben wurde, nach denen das Deutsche sich sehnte, wurden mitunter „zu einem Idealbild der Eintracht als Grundlage für einen deutschen Staat und eine deutsche Nation stilisiert“ (S. 128).
So lassen sich beispielsweise bei Herder ‚Zigeuner‘-Semantiken auffinden, die diese „nicht als Gegensatz zu dem Selbstentwurf als deutsche Nation“ entwerfen, „sondern sich in das Bild von der Nation nahtlos einfüg[en]“ (S. 143). ‚Zigeuner‘ avancieren hierbei zur Verkörperung des Widerstandes gegen die Selbstentfremdung fordernde Moderne und können auf diese Weise in den Dienst deutscher Selbstentwürfe gestellt werden. Dieser Figuration, d.h. ‚Zigeuner‘ „als paradoxe Figuren der Selbstbegründung und der Selbstbegrenzung“ (S. 161) des Deutschen, spürt Patrut zudem an den literarischen Werken von Goethe, Novalis (Friedrich von Hardenberg), Heinrich von Kleist, Achim von Arnim und Clemens Brentano nach.
Im 19. Jahrhundert vergrößern sich die Risse und Brüche zwischen verschiedenen ‚Zigeuner‘-Diskursen. Diese „immer deutlichere Kluft zwischen dem Rechts- und Verwaltungsdiskurs auf der einen und dem ethnographischen, anthropologischen und sprachwissenschaftlichen Diskurs auf der anderen Seite“ (S. 276) behandelt Patrut in Kapitel IV. Als gemeinsames Merkmal der verschiedenen – kriminologischen und exotisierenden – Wissensdiskurse des 19. Jahrhunderts identifiziert Patrut die Semantisierung von ‚Zigeunern‘ – sowie Juden – als Grenzfiguren von Nation und Bürgerlichkeit: „Während ‚Zigeuner‘ und osteuropäische Juden zu den ‚Anti-Bürgern‘ per se werden, gilt die Bürgerlichkeit der in deutschen Städten ansässigen und zum Teil assimilierten Juden als bloß angemaßt, als hohle Maskerade.“ (S. 283-284)
Wie die sich auseinanderentwickelnden ‚Zigeuner‘-Diskurse literarisch aufgegriffen und verarbeitet wurden, zeigt Patrut anhand von Schriftstellern des Realismus (Wilhelm Raabe, Adalbert Stifter). Hier „tauchen ‚Zigeuner‘-Figuren dort auf, wo zentrale Fragen der Mehrheitsgesellschaft verhandelt werden.“ (S. 285) Im Gegensatz zur romantischen Literatur, werden nach Patrut im Realismus, „die Exklusionseffekte gegenüber ‚Zigeunern‘ und Juden immer deutlicher thematisiert“ (S. 355) und als „ein illegitimes Gründungsopfer der ‚deutschen‘ Gesellschaft dar[ge]stellt“ (S. 355).
In Kapitel V legt Patrut dar, wie sich im Zuge der Aufklärung ein deutschsprachiger Diskursraum Mittel- und Osteuropa herausgebildet hat, der von einem „Kreislauf west-östlicher Machtasymmetrie“ charakterisiert ist und „Gemeinsamkeiten mit (post-)kolonialen Repräsentationsregimen besitzt“ (S. 362). Insbesondere Rumänien wurde hierbei zu einem räumlichen Bezugspunkt dieses Diskurssystems, zu einem „Fluchtpunkt der abwertenden ‚Zigeuner‘-Repräsentationen als ‚Primitive‘ und ‚Asoziale‘“ (S. 363). Dieser auf Osteuropa gerichtete ‚Zigeuner‘-Diskurs bildete sich vor allem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einem ausgeprägten Populärdiskurs aus. In diesem Zuge „wurde der Rechtsstatus der ‚Zigeuner‘ häufig angeprangert“ und „die Gewalt gegen ‚Zigeuner‘ als Kulminationspunkt orientalischer Despotie dargestellt“, ohne jedoch ihre „Verfolgung und Ausgrenzung […] im westlichen deutschsprachigen Raum“ (S. 370) zu thematisieren.
Anhand einer exkursorischen Untersuchung der Repräsentation von ‚Zigeunern‘ in der rumänischen Literatur zeigt Patrut die Unterschiede von deutschsprachigem und rumänischen ‚Zigeuner‘-Diskurs. Denn in der rumänischen Literatur des 19. Jahrhundert kommt den ‚Zigeuner‘-Figuren nicht „die Rolle verdrängter Gründungsfiguren zu, sondern sie erscheinen vielmehr als alter ego der politisch bis 1878 nicht anerkannten rumänischen Nation.“ (S. 373) Hier zeigt Patrut exemplarisch, dass die Semantisierung von ‚Zigeunern‘ zentral auch von den politischen Kontexten abhängt – im Falle Rumäniens einer „zwischen den Großmächten zerriebenen und geknechtete Nation“ (S. 377). Auf dieser Basis avancierten ‚Zigeuner‘ zu einer „Projektionsfolie für die Sehnsucht nach einer rumänischen Nation.“ (S. 378)
Wie die um 1900 virulenten Primitivisums- und Asozialitäts-Diskurse (vgl. S. 381) im literarischen Schaffen Franz Kafkas aufgegriffen werden, zeigt Patrut in einem letzten Kapitel (VI.). Er hat in seinen Erzählungen die zeitgenössischen ‚Zigeuner‘-Diskurse aufgegriffen, literarisch verarbeitet und „Semantiken aus antisemitischen und antiziganen Diskursen – von dem unsichtbaren inneren Fremden, dem ‚zigeunerischen‘ Nomaden bis hin zum bedrohlichen, heimatlose umherziehenden ‚ewigen Juden‘“ (S. 393-394) dekonstruiert. Insbesondere die Problematiken von „kollektive[n] Homogenitätsphantasien“ (S. 441) und die damit verbundenen Exklusionen und Gewaltformen werden hierbei von Kafka kritisch thematisiert und zur Darstellung gebracht.
Zur Ergebnisdiskussion
Patruts Studie untersucht die Darstellung von ‚Zigeuner‘-Figuren als Ausdruck interner Fremder, die eben nicht nur als „Gegenfolie des ‚Eigenen‘“ aufgefasst werden können, sondern darüber hinaus „alle Positionen der Trias ‚Eigenes‘ – ‚Fremdes‘ – ‚Drittes‘ innehatten.“ (S. 441) Diese Erkenntnis ist eine der zentralen Aspekte dieser umfassenden Monographie: Sie weist unzweideutig darauf hin, dass die Darstellung von ‚Zigeunern‘ – in Wissenschaft und Kunst – sich nicht auf Diskurse von den ‚edlen Wilden‘, ‚Primitiven‘ oder ‚Asozialen‘ reduzieren lässt.
Zudem fokussiert Patrut den Vergleich zwischen den Bildern von Juden und ‚Zigeunern‘ als den zwei bedeutendsten Gruppen ‚interner Fremder‘. Bereits in der Frühen Neuzeit kam es zwischen ‚Zigeuner‘ und Juden-Bild „in den deutschen Gebieten […] zu zahlreichen Übertragungen und Rückübertragungen“ (S. 443). Was ‚Deutsch‘ ist wurde „im Modus der Triangulation Juden – ‚Deutsche‘ – ‚Zigeuner‘“ (S. 443), d.h. über die Verhandlung der Grenzlinien und des Außen markiert.
Nachdem Patrut den Wandel der Semantisierung von Juden und ‚Zigeunern‘ zum Forschungsgegenstand macht, ist es folgerichtig, dass sie den Zeitraum ihrer Untersuchung über das lange 19. Jahrhundert (Eric Hobsbawm) bzw. das Jahrhundert der Nation (Jürgen Osterhammel) hinaus ausweitet. Der Zeitraum der Untersuchung erstreckt sich auch auf die Frühe Neuzeit, da bereits hier „Figurationen ausgemacht werden konnten, die bislang nur im Kontext der Romantik diskutiert wurden.“ (S. 15) Erst in einer Untersuchungsanordnung mit Längsschnitt-Perspektive, lässt sich zeigen, „wie literarische Repräsentationen motivisch und diskursiv tradierte Figurationen und Semantiken langer Dauer aufgreifen, innovativ modifizieren sowie unter ganz anderen Gesichtspunkten und auf anderen Reflexionsebenen codieren.“ (S. 20) ‚Zigeuner‘-Figuren, so argumentiert Patrut den zeitlichen Zuschnitt ihrer Untersuchung, seien eben nicht erst in der Romantik zentrale Bezugspunkte ‚deutscher Kunst‘ geworden.
Die vergleichende Forschung zu (literarischen) Juden- und ‚Zigeuner‘-Bild tendiert häufig dazu diese beiden kollektiven Phantasmata gegeneinander aufzurechnen, zu relativieren und lediglich die Gemeinsamkeiten hervorzustreichen. Anders die Studie von Patrut: Mit dem Begriff der Figuration rückt sie dezidiert die Unterschiede und Wechselwirkungen in den Fokus. ‚Zigeuner‘-, Juden- und deutsches Selbstbild werden in gewissem Sinne als System kommunizierender Röhren – als „Triangulationsverhältnis“ (S. 12) – analysiert.
Fazit
Patruts Studie zeigt, dass literarische ‚Zigeuner‘-Figuren, entgegen den Annahmen der bisherigen Forschung, nicht erst Ende des 18. Jahrhunderts, sondern bereits bedeutend früher für die imaginäre Selbstbegründung des ‚Deutschen‘ in Dienst genommen, d.h. instrumentalisiert wurden.
Schwerpunkt der Studie ist dennoch das 19. Jahrhundert, in dem besonders intensiv an einem kollektiven Entwurf des ‚Deutschen‘ gearbeitet wurde. Der Entwurf einer deutschen Nation, das zeigt Patrut anhand unzähliger literarischer Texte, wurde über die Inszenierung interner Fremder erst ermöglicht. Sie fungieren, so lässt sich Patruts zentrale These zusammenfassen, als Grenzfiguren des ‚Deutschen‘. Das heißt: Über den Umweg der Zuschreibung projektiver Eigenschaften an ‚Zigeuner‘ und ‚Juden‘, wird ein Spiegelbild erschaffen, werden Grenzen markiert auf deren Basis überhaupt erst bestimmt werden konnte, was als ‚Deutsch‘ zu gelten hatte. Dass hierbei jedoch ein so zentraler Aspekt des Judenbildes wie die antisemitische Identifizierung von Jude und Geld konsequent ausgeblendet bleibt, kann nicht überzeugen.
Das literarische Phantasma von den ‚Zigeunern‘, andererseits, oszilliert je nach historischem Kontext zwischen romantischer Verklärung und diskriminierender Abwertung. Über Leben und Alltag von Roma und Sinti geben die ‚Zigeuner‘ der Literatur jedoch keine Auskunft – die literarische Figuren der ‚Zigeuner‘ sind von der gesellschaftlichen Realität abgelöst. Vielmehr, und hierfür ist diese Studie ein gelungenes Beispiel, müssen sie als Ausdruck verborgener Sehnsüchte, als Projektionsfolie und Funktion des ‚Deutschen‘ interpretiert werden.
Rezension von
Mag. Tobias Neuburger
Stiftung niedersächsische Gedenkstätten
Projekt „Kompetent gegen Antiziganismus/Antiromaismus (KogA) in Geschichte und Gegenwart“
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