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Irmgard Vogt: Beratung von süchtigen Frauen und Männern

Rezensiert von Claudia Willen, Christine Spreyermann, 25.01.2005

Cover Irmgard Vogt: Beratung von süchtigen Frauen und Männern ISBN 978-3-407-22160-5

Irmgard Vogt: Beratung von süchtigen Frauen und Männern. Grundlagen und Praxis. Beltz Verlag (Weinheim, Basel) 2004. 320 Seiten. ISBN 978-3-407-22160-5. 18,90 EUR.
Reihe: Beltz Taschenbuch, Band 160.

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Aufbau und Inhalt

Im 1. Kapitel macht die Autorin eine allgemeine Begriffsbestimmungen von psychoaktiven Substanzen, Sucht und anderen psychischen Störungen. Sie erläutert kurz das multifaktorielle Modell der Substanzabhängigkeit, von dem heute in der Drogenforschung ausgegangen wird. Diese Annäherung ans Thema ist allgemein gehalten und gut verständlich geschrieben und deshalb als Einstieg und für das Verständnis der folgenden Kapitel hilfreich.

In Kapitel 2 legt die Autorin die geschlechtsspezifischen Ursachen beim Gebrauch und Missbrauch von psychoaktiven Substanzen dar. Sie unterlegt ihre Ausführungen mit epidemiologischen Daten aus repräsentativen Umfragen und ausgewählten qualitativen Studien. Die Autorin beschliesst das zweite Kapitel mit einer Abhandlung der aktuellen neurobiologischen, genetischen, sozialwissenschaftlichen und individualpsychologischen Ansätze zur Erklärung von Sucht. Sie weist darauf hin, dass jeder Ansatz ein eigenes, abgegrenztes Erklärungsmodell zur Entstehung und zum Verlauf von Sucht darstellt, dass aber integrierte Ansätze fehlen.

In Kapitel 3 diskutiert die Autorin zwei allgemein anerkannte diagnostischen Schemata der Substanzabhängigkeit und zeigt verschiedene Möglichkeiten und Instrumente auf, die zur Erhebung der Lebenswelt und Problemanalyse sowie dem Assessment der Klientinnen und Klienten angewendet werden können. Im Anschluss daran nimmt die Autorin eine Charakterisierung von ausgewählten psychischen Störungen vor. Sie stellt in diesem Zusammenhang zur Diskussion, ob es sich bei Co-Abhängigkeit um eine Krankheit handelt und kommt zum Schluss, dass verbunden mit diesem Begriff oft erstaunlich schnell eine Schuldzuweisung an Frauen einhergeht. Weil sich professionelle Beratungsarbeit mit Schuldzuweisungen nicht vereinbaren lässt, empfiehlt sie auf den Begriff der Co-Abhängigkeit zu verzichten.

Die Rahmenbedingungen, die epidemiologischen Daten und die Beratung beim Missbrauch von psychotropen Medikamenten sind Gegenstand des vierten Kapitels. Einen eigenen kurzen Abschnitt widmet die Autorin den Besonderheiten von Frauen mit Substanzproblemen.

Im fünften Kapitel setzt sich die Autorin mit den Grundlagen der Beratung auseinander. Sie benennt die verschiedenen Systemebenen der Beratung und geht auf die unterschiedlichen Formen (Beratungssettings) ein. Explizit unter dem Gesichtspunkt der Geschlechterperspektive macht sie einen Definitionsversuch von Beratung und thematisiert die Bedeutung der Beziehung und die ethischen Standards, Grenzen und Grenzverletzungen in der Beratung.

In Kapitel 6 stellt die Autorin mit dem "Motivational Case Management" (MOCA) einen direktiven, ziel- und ressourceorientierten Beratungsansatz vor. Mit dem Verfahren wird eine ganzheitliche Betrachtungs- und Behandlungsweise gewählt, indem die zwei gängigen Methoden des Motivational Interviewing und Case Managment verknüpft werden. Die sechs Phasen von MOCA sind:

  1. Kontaktaufnahme,
  2. Erhebungen zur Lebenswelt und Problemanalyse,
  3. Veränderungs- und Hilfeplan mit Zielen,
  4. Durchführung mit Vernetzung,
  5. Monitoring
  6. Beendigung mit Ergebnisauswertung.

Die 6 Phasen werden in diesem Kapitel ausführlich beschrieben. Zudem werden nützliche Techniken und Hilfsmittel für die Umsetzung von MOCA vorgestellt.

Einen Fokus auf die Situation der Frauen legt die Autorin im 7. Kapitel, in welchem sie die Probleme von süchtigen Frauen während der Schwangerschaft und als Mütter thematisiert.

In Kapitel 8 gibt die Autorin abschliessend eine Übersicht über das Hilfesystem mit einer Zusammenfassung der Anzahl Einrichtungen, Plätze/ Betten sowie Klientel, wobei der Anteil der Frauen jeweils nur geschätzt werden kann.

Das letzte Kapitel schliesst mit einer Übersicht über die spezifischen Einrichtungen für Frauen und einem kurzen Blick auf die Leistungsträger.

Zielgruppen und Einschätzung der Lesbarkeit, Nützlichkeit

Das Buch richtet sich an alle, die in der Sozialarbeit, Medizin, Psychologie und Pädagogik im Suchtbereich arbeiten. Die Autorin drückt sich fachspezifisch präzise und gleichzeitig klar und verständlich aus. Dabei macht sie immer auch deutlich, wo die Grenzen und Abgrenzungen des jeweiligen Themas liegen. Es gelingt der Autorin auch immer wieder, den Bogen vom theoretischen zum konkreten Wissen und Handeln zu machen. So zum Beispiel im dritten Kapitel "Diagnosen im Kontext", wo sie auf einzelne Hilfsmittel zur Erfassung von Abhängigkeiten eingeht. Sie stellt einschlägige Erhebungsinstrumente wie Fragebogen und Testbatterien vor und diskutiert ihre Vor- und Nachteile. Dies ist hilfreich, weil in der Sozialarbeit bislang verhältnismässig wenig solcher Instrumente benutzt werden und die Kenntnis dieser Hilfsmittel im Hinblick auf die immer weiter verbreitete Einführung und Anwendung von computergestützten Dokumentationssystemen sinnvoll ist.

Fazit

Irmgard Vogt gibt mit dem vorliegenden Buch einen allgemeinen Überblick über die neuesten Entwicklungen auf dem Gebiet der Diagnostik und Typologie von Substanzabhängigkeiten. Der Schwerpunkt des Buches liegt jedoch bei der Auseinandersetzung mit der Beratungspraxis von süchtigen Frauen und Männern. Das Buch ist dort besonders anschaulich, wo die Autorin Einblicke in die Lebenslagen von Süchtigen gibt. Das Besondere und Interessante an dem Buch ist, dass die Autorin durchgängig die Geschlechterperspektive einbezieht. Sie lädt Beratende in der Praxis wie auch Forschende ein, den Blick auf Frauen und Männer gezielt mit der Geschlechterbrille anzugehen, um ausgehend von den unterschiedlichen Bedürfnissen und Lebenswelten Erkenntnisse für die Weiterentwicklung der Beratung von süchtigen Frauen und Männern zu gewinnen. In Ihrem methodischen Ansatz versteht sie Geschlecht als zentrale Variable für das Verständnis von Substanzabhängigkeit und Sucht und ebenso für die Beratung. Aus diesem Grund und dieser Überzeugung stellt sie immer wieder süchtige Frauen in den Mittelpunkt und thematisiert Bereiche, die sie besonders betreffen wie beispielsweise die Probleme von süchtigen Frauen während der Schwangerschaft und als Mütter. Gleichzeitig zeigt die Autorin auch die bestehenden Lücken in der Forschung und Praxis auf: Etwa, dass bis heute vergleichsweise wenig Daten und Erkenntnisse über Männer und Väter mit ähnlichen Problemen vorhanden sind und sie fordert dazu auf, auch Männer in der Beratung auf Vaterschaft anzusprechen. Dadurch verdeutlicht die Autorin wie gewinnbringend der Blick durch die Geschlechterperspektive sein kann.

Mit dem vorgestellten Behandlungsansatz MOCA wird eine strukturierte Unterstützung angeboten, die helfen soll, gezielt an Verhaltensänderungen von substanzabhängigen Personen zu arbeiten. Der Ansatz MOCA wird den komplexen Lebensrealitäten von Abhängigen gerecht, bezieht Ressourcen und das soziale Umfeld mit ein und hilft den Beratenden den Überblick zu behalten. Die im Buch vorgestellten Techniken und Hilfsmittel sind auch losgelöst von MOCA in der Beratungspraxis hilfreich und nützlich. Aus diesen Gründen ist das Buch sowohl als Grundlagenmanual wie auch als praxisbezogenes, mit konkreten Hilfsmitteln, Reflexions- und Handlungsangeboten versehenes Buch empfehlenswert.

Anmerkung der Rezensentin: Die Rezension wurde erstellt mit freundlicher Unterstützung von Tanya Mezzera (Email: tanya.mezzera@suchthilfe-avs.ch), Suchtberaterin bei der Suchthilfe avs, Bezirk Aarau, und Vorstandsmitglied im Verein Frauenbus Lysistrada Olten (CH)

Rezension von
Claudia Willen
Wissenschaftliche Mitarbeiterin bei sfinx, Sozialforschung, Evaluationsberatung und Supervision, Bern (CH)
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Christine Spreyermann
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Es gibt 2 Rezensionen von Christine Spreyermann.

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ISSN 2190-9245