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Diana Düring, Hans-Ullrich Krause et al. (Hrsg.): Kritisches Glossar der Hilfen zur Erziehung

Rezensiert von Prof. Dr. Renate Oxenknecht-Witzsch, 02.09.2016

Cover Diana Düring, Hans-Ullrich Krause et al. (Hrsg.): Kritisches Glossar der Hilfen zur Erziehung ISBN 978-3-925146-89-3

Diana Düring, Hans-Ullrich Krause, Friedhelm Peters, Regina Rätz, Nicole Rosenbauer et al. (Hrsg.): Kritisches Glossar der Hilfen zur Erziehung. Internationale Gesellschaft für erzieherische Hilfen (IGfH) (Frankfurt am Main) 2014. 415 Seiten. ISBN 978-3-925146-89-3. D: 22,90 EUR, A: 23,60 EUR, CH: 32,90 sFr.
Internationale Gesellschaft für Erzieherische Hilfen.

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HerausgeberInnen und AutorInnen

Die Herausgeberinnen und Herausgeber lehren überwiegend an Hochschulen für Soziale Arbeit in den Professionen Soziale Arbeit und Pädagogik.

Die weiteren Autorinnen und Autoren sind ebenfalls überwiegend in der Lehre tätig in den Bereichen Erziehungswissenschaften, Pädagogik, Soziale Arbeit, Soziologie, Kinder- und Jugendpsychiatrie, Recht und Sozialmanagement, oder sind in sozialen Einrichtungen oder Forschungsstellen tätig.

Thema

Das Buch trägt den Titel „Kritisches Glossar Hilfen zur Erziehung“. In der Einleitung wird „Glossar“ als eine Sammlung erklärungsbedürftiger Wörter/Begriffe bezeichnet.

Als Hilfen zur Erziehung sind die Hilfen im Sozialgesetzbuch VIII (SGB VIII) – Kinder- und Jugendhilferecht wohl in einem weiten Sinn gemeint mit dem Rechtsanspruch auf Hilfe zur Erziehung gemäß § 27 SGB VIII in ambulanter, teilstationärer und stationärer Form (§§ 28-35 SGB VIII), wie auch die Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche nach § 35a SGB VIII, aber wohl auch weitere Hilfen zur Erziehung, wie die der Tagesbetreuung, der Mutter-Kind-Einrichtung sowie verschiedene Beratungshilfen.

In dem Buch werden einzelne Begriffe, die einen Bezug zu Hilfen zur Erziehung haben, die auch als zeitgenössische Leitbegriffe bezeichnet werden, in ihrer Widersprüchlichkeit kritisch diskutiert. Es wird eine Vielzahl von Begriffen in alphabetischer Reihenfolge dargestellt, die keine Systematik aufweisen. Einzelne Begriffe, wie Aufwachsen in privater und öffentlicher Verantwortung, Elternarbeit, Geschlossene Unterbringung, Steuerung u.a. lassen sich direkt der Kinder- und Jugendhilfe bzw. dem Familienrecht zuordnen, andere Begriffe disziplinär eher der Pädagogik, den Gesellschaftswissenschaften, der Sozialpolitik, der Ökonomie oder dem Staats- und Verfassungsrecht (Demokratieprinzip). Sie werden aber in ihrem Bezug zur Kinder- und Jugendhilfe erörtert. Die Auswahl und Formulierung entspricht der Interdisziplinarität der Sozialen Arbeit mit unterschiedlichen Theorie- und Methodenansätzen.

Einige Begriffe sind thematisch ähnlich:

  • Armut – Teilhabe-/ Gerechtigkeit
  • Geschlossene Unterbringung – Time Out- Zwangskontexte
  • Bildung und Demokratie – Kinderrechte – Partizipation.

In der Einleitung wird darauf hingewiesen, dass Idee und Titel des Buches durch die Bände „Aktuelle Leitbegriffe der Sozialen Arbeit“ (Bakic u.a. 2008 bzw. 2013) beeinflusst bzw. dem „Glossar der Gegenwart“ (Ulrich Bröckling u.a. 2004) entlehnt sind.

Aufbau

Die Gliederung ist die alphabetische Reihenfolge von 53 Begriffen. Jede Ausarbeitung enthält eine kleine Gliederungsstruktur und ein Literaturverzeichnis am Ende.

Die bearbeiteten Begriffe sind:

  • ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit- /Hyperaktivitätsstörungen)
  • Arbeitsbedingungen
  • Armut
  • Aufarbeitung der Heimerziehungsgeschichte
  • Aufwachsen in privater und öffentlicher Verantwortung
  • Bildung und Demokratie
  • Care Leaver
  • Case Management
  • Diagnostik
  • Dienstleistungsorientierung
  • Eigenverantwortung
  • Elternarbeit
  • Empowerment
  • Familialisierung
  • Flexibilisierung
  • Geschlecht
  • Geschlossene Unterbringung
  • Governance
  • Grenzen
  • Inklusion
  • Interventionspädagogik
  • Intensivpädagogische Auslandsmaßnahmen
  • Kinderrechte
  • Kinderschutz
  • Kooperation
  • Managerialisierung
  • Markt und Wettbewerb
  • Mediatisierung
  • Migration
  • Modularisierung
  • Nachhaltigkeit
  • Ökonomisierung
  • Ombudschaft und Beschwerdeverfahren
  • Partizipation
  • Prävention
  • Professionelle Haltung
  • Qualität
  • Rechte und Pflichten
  • Responsibilisierung
  • Risiko, Risikofaktoren und Risikoverhalten
  • Schutzkonzepte
  • Schwierige Jugendliche
  • Sozialraumorientierung
  • Spezialisierung
  • Steuerung
  • Teilhabe-/Gerechtigkeit
  • Time-out
  • Training(s), Elterntraining(s)
  • Vernetzung
  • Verwahrlosung
  • Wirkungsorientierung
  • Wohlfahrtsstaat
  • Zwang (und Zwangskontexte)

Ausgewählte Inhalte

In der näheren Betrachtung können nur einzelne Begriffe ausführlicher gewürdigt werden. Die Auswahl erfolgt ohne Systematik nach persönlicher Gewichtung und persönlichem Interesse.

ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörungen. Die Autorin Charlotte Köttgen zeigt zunächst auf, dass es schon früher gesellschaftliche Etiketten für motorische Aktivität lebhafter Kinder gegeben hat, wie z.B. der Zappelphilipp im „Struwwelpeter“ von 1845, u.a., die heute als ADHS bezeichnet wird und offiziell als psychische Störung anerkannt ist. Mit der Aufnahme in das Klassifikationssystem DSM-IV und ICD-10 unter Verhaltens- und emotionale Störungen sei „gleichsam eine (falsche)Epidemie“ ausgelöst worden (S. 14). Unter der Überschrift „das gefährliche Geschäft mit ADHS“ zeigt sie den fatalen Zusammenhang von psychiatrischer Diagnose und dem Einsatz von immer mehr Psychopharmaka auf. Sie weist auf auffällig hohe Fallzahlen von ADHS im Raum Würzburg und einem ausgeprägten Marketingsystem einer Medizinergruppe ebenfalls aus dem Raum Würzburg (S. 17f). In ihrem Fazit zeigt sie den Finger auf die Verantwortlichen für Kinder und Jugendliche: „Die neue Normalität dieser Entgrenzung von Erziehung und Medizin zeigt sich nicht zuletzt daran…, sondern …(überwiegend) von Eltern und Fachkräften selbst gewählt und strategisch genutzt wird.“ Der Beitrag bietet Argumente und Fundstellen für den kritischen Umgang mit ADHS Medikamenten. Er sollte in Schulungen für Fachkräfte in HPTs, Schulen oder in der Elternberatung eingesetzt werden.

Arbeitsbedingungen. Der Beitrag „Arbeitsbedingungen“ von Günter Fleischmann beschreibt die Arbeitsbedingungen der Fachkräfte in den Jugendämtern und bei freien Trägern, wobei er vor allem die Situation in Berlin im Blick hat. Beklagt wird der Mangel an Fachkräften, bürokratischen Regelungen und zahlreichen Problemfamilien, die zu einer Vernachlässigung fachlicher Standards führten. Bei freien Trägern wird die hohe Zahl von Teilzeitarbeitsverhältnissen und die gering finanzielle Ausstattung kritisiert. Als positives Beispiel wir die Landeshauptstadt Hannover beschrieben. Der Beitrag scheint speziell die Situation in Berlin zu beschreiben, die nicht gleichermaßen auf die anderen Bundesländer übertragbar ist. Gleichwohl herrscht derzeit sowohl in Jugendämtern wie auch bei freien Trägern ein Arbeitskräftemangel, der insbesondere durch die hohe Zahl unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge begründet wird.

Care Leaver. Mit dem Beitrag zum Begriff „Care Leaver“ von Dirk Nüsken wird das Problem der Verselbständigung von Jugendlichen oder jungen Volljährigen in stationären Jugendhilfeeinrichtungen angesprochen. Das ist ein Problem, für das -wie ausgeführt – Forschungsbedarf, aber auch Handlungsbedarf besteht.

Casemanagement und Empowerment. Mit den beiden Begriffen in der Bearbeitung von Heiko Kleve und Josef Bakic werden sozialarbeiterische Methoden einer kritischen Betrachtung unterzogen. Zu Casemanagement wird festgestellt: „Trotz des klar benannten Verfahrens und der vielen Methoden, mit denen das Verfahren ausgefüllt werden kann, lässt sich mit dem Casemanagement eine Erwartung nicht erfüllen, die manchmal von Verfechtern des Konzepts artikuliert wird: dass komplexe Fallarbeit zielgerichtet gesteuert werden kann.“ (S. 72). Empowerment wird als Versuch charakterisiert, die Bewältigung von Benachteiligungsfaktoren und Ausschließungsprozessen vordergründig den Betroffenen zuzuschreiben und professionell sich auf die Rolle des wohlwollenden, begleitenden Ermöglichungspart zurückziehen zu können (S. 112).

Bildung und Demokratie – Kinderrechte – Partizipation. Mit den Beiträgen von Michael Winkler, Martina Kriener / Peter Hansbauer, Hans Ulrich Krause/Martin Schröder werden aktuelle Fragestellungen der politischen und verfassungsrechtlichen Dimension der besseren Teilhabe von Kindern und Jugendlichen kritisch diskutiert. Zu diesem Themenbereich gehören auch die Beiträge Aufarbeitung der Heimerziehung, Ombudschaft/Beschwerdeverfahren, Kinderschutz und Schutzkonzepte. Der Zusammenhang von Partizipation und Verantwortung wird im Beitrag zu Partizipation betont.

Geschlossene Unterbringung – Time-Out- Zwang (und Zwangskontexte). Mit den Begriffen „Geschlossene Unterbringung, Time-out, Zwang und Zwangskontext(e)“ von Michael Lindenberg / Tillman Lutz, Hannelore Häbel werden eher dunkle Aspekte von Hilfen zur Erziehung angesprochen. Die Zunahme von Unterbringungen Jugendlicher in geschlossenen Einrichtungen in den letzten Jahren wird sehr kritisch gesehen. Unter dem Begriff „Time-out“ wird ein aktuelles Problem im Umgang Kindern und Jugendlichen in geschlossenen Einrichtungen angesprochen. Zwangsmaßnahmen gegen Kinder wurden durch Bekanntmachung in den Medien im Sommer 2016 zu einem Politikum in Bayern und sollen nun durch eine Fachkommission einer fachlich und rechtlich vertretbaren Lösung zugeführt werden. Der Beitrag von Hannelore Häbel zeigt die Problemfelder auf. Zwang und Disziplin der sozialen Arbeit werden im aktivierenden Sozialstaat als Kehrseite der Betonung von Freiheit und Eigenverantwortung gesehen.

Zielgruppe

Das Buch wendet sich an alle in Arbeitsfeldern der Hilfen zur Erziehung Tätigen, insbesondere aber auch an Studierende und Lehrende in Studiengängen der Sozialen Arbeit, der Kindheitspädagogik oder der Erziehungswissenschaften.

Für Studierende eignet sich das Buch nach entsprechenden Einführungslehrveranstaltungen in höheren Semestern. Für Lehrveranstaltungen, in denen es um eine vertiefte Auseinandersetzung mit dem System der Kinder- und Jugendhilfe geht, wie zum Beispiel im Studienschwerpunkt Hilfen zur Erziehung/Familienhilfen bietet das Buch eine hervorragende Grundlage, Selbstverständliches in Frage zu stellen, um kritisches Denken zu erlernen, auch wenn nicht jeder Aussage unbedingt zuzustimmen ist. Es wäre auch für interessierte Eltern hilfreich, die von Hilfen der Erziehung betroffen sind.

Fazit

Das Buch gibt in der Gliederungsstruktur von 53 Begriffen zur Kinder- und Jugendhilfe im System des wissenschaftlichen und interdisziplinären Diskurses eine Fülle von Anstößen zu kritischem Hinterfragen von Selbstverständlichkeiten und vermeintlich modernem Denken. Es ist eine Zusammenstellung von kritischen Positionen zu akzeptierten Modebegriffen. Methodisch lässt sich das Buch nicht einer Fachdisziplin zuordnen, aber erfüllt eine wichtige Aufgabe, Modetrends in der Sozialen Arbeit und in der Wissenschaft zu hinterfragen. Von daher kann das Buch vor allem für die Lehre und Praxis der Erziehungshilfen sehr empfohlen werden.

Rezension von
Prof. Dr. Renate Oxenknecht-Witzsch
Em. Professorin für Recht mit Schwerpunkt im Arbeits-, Sozial- und Familienrecht an der Fakultät für Soziale Arbeit der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt

Es gibt 44 Rezensionen von Renate Oxenknecht-Witzsch.

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ISSN 2190-9245