Michael Beetz: Kraft der Symbole
Rezensiert von Prof. Dr. Klaus Hansen, 24.11.2014
Michael Beetz: Kraft der Symbole. Wie wir uns von der Gesellschaft leiten lassen und dabei die Wirklichkeit selbst mitgestalten. UVK Verlagsgesellschaft mbH (Konstanz) 2014. 200 Seiten. ISBN 978-3-86764-558-4. D: 29,00 EUR, A: 29,90 EUR, CH: 39,90 sFr.
Autor
Dr. Michael Beetz ist Privatdozent für Soziologie an der Universität Jena. Ebenfalls in diesem Jahr (2014) erscheint die von ihm zusammen mit Michael Corsten, Hartmut Rosa und Torsten Winkler verfasste Untersuchung „Was bewegt Deutschland? Sozialmoralische Landkarte engagierter und distanzierter Bürger“, Juventa-Verlag, Weinheim und Basel.
Michael Beetz verfügt über einen lebhaften Schreib-Stil, der zum Vergnügen des Rezensenten mit einem trockenen, manchmal sarkastischen Humor gesegnet ist.
Aufbau
Das Buch enthält neun Kapitel.
Nach der Einleitung (Kap. 1) folgt mit den Kapiteln 2 bis 7 das phänomenologische Herzstück des Buches: Hier spannt sich der Bogen von der frühesten symbolischen Konditionierung des Säuglings durch Wiegen, Beißringe und Kuscheltiere (Kap. 2) bis zur symbolischen Konstruktion von Welt- und Gesellschaftsbildern in der modernen Mediengesellschaft (Kap. 7).
Die Schlusskapitel 8 und 9 sind die „Theorie-Kapitel“; sie widmen sich einer noch zu schreibenden „Soziologie des Symbols“.
Zentrales Anliegen des Buches ist es, im interessierten Leser den „Sinn für das Symbolische zu wecken“. (Vgl. S. 18)
Was ist überhaupt ein Symbol?
Alles kulturelle Geschehen drückt sich in Symbolen aus. „Um menschliches Handeln zu deuten und um die eine Kultur beherrschende Denkweise zu verstehen, ist eine Berücksichtigung der symbolischen Aspekte sozialer Verhältnisse unumgänglich.“ (S. 167)
Was ist überhaupt ein Symbol? Eine Form der geistigen Abbildung der Welt. Die (materielle) Welt ist für menschliches Bewusstsein und menschliche Kommunikation nur in symbolischer Form verfügbar. Ob in einem Land „Unkraut“ wachse, hat Leo Weisgerber den Sachverhalt einmal, auf verbale Symbole bezogen, zugespitzt beantwortet, hänge von der Sprache seiner Bewohner ab. Das Symbol steht für etwas und verweist auf etwas, das es selbst nur bedingt repräsentiert. Wofür es steht, ist von der Plausibilität der Interpretationen abhängig. Ein „Gipfelkreuz“ ist zweifellos ein Symbol. Geografen, Theologen und Psychoanalytiker – um nur diese drei Professionen anzuführen - geben sehr unterschiedliche Antworten auf die Frage, wofür das Kreuz steht, wozu es dient, worauf es verweist. In keiner Interpretation geht die Bedeutung des Symbols restlos auf. So dass man sagen kann, Symbole sind Rätsel, die nach ihrer Lösung weiter bestehen. (Vgl. S. 183)
Sandkastenkind am Ego Shooter
Es ist ein Unterschied, ob kleine Kinder im symbolischen „Sandkasten“ aufwachsen oder mit dem High-Tech-Produkt eines „Ego Shooters“. Sand ist ein offenes, voraussetzungsarmes Medium: „Das Kind wird als Formgeber zum Schöpfer, indem es in die homogene Sandfläche Unterschiede einführt und aus dem Nichts Strukturen schafft. Es erzeugt damit eine Heterogenität, die ihrerseits wieder dem Gesetz der Entropie unterliegt: Am nächsten Morgen sind die Spuren im Sand vom Wind verweht, die Sandburg ist ruiniert.“ (S. 37) Das will nicht nur ertragen, sondern als Schule eines besonnenen Zukunftsoptimismus verstanden sein.
Ego Shooter sind technologisch voraussetzungsreiche und streng vorstrukturierte Spiele. Das Spielverhalten wird in ein themenspezifisches Korsett gepresst; die Fantasie wird kanalisiert. Konkurrenz, Kampf, Krieg werden als zivilisatorische Grundschemata vorsätzlich konditioniert. Wer also, kurz gesagt, im „Sandkasten“ aufwächst, der wird gar nicht erst auf die Idee kommen, sich mit Waffen und Tarnanzug zum Amoklauf in Richtung Schule aufzumachen. – So schön, so gut. Nur: Unsere Kinder wachsen heute sowohl im „Sandkasten“ als auch mit „Ego Shootern“ auf. Sollte man nicht wenigstens dafür sorgen, dass sie es nicht zeitgleich tun, sondern im gehörigen Abstand voneinander: zuerst der „Sandkasten“, erst viel später der „Ego Shooter“, wenn er denn schon nicht zu vermeiden ist? In der Hoffnung, dass die Amokläufe dann mit Farbbeutelmunition ausgetragen werden und in Happenings enden?
Der symbolische Lehrplan der Regelschule
Die Schule alphabetisiert nicht nur kleine Analphabeten; sie bringt nicht nur den ahnungslosen Kulturneulingen ein Mindestmaß an Grundwissen bei. Die Schule konditioniert die Schüler auf Klingelzeichen und die Fünfundvierzigminuten-Stunde. „Sie gewöhnt anhand einer Zergliederung der Welt in Fächer an jene Modularisierung des Wissens, welche die Grundlage der Autorität von Experten und Spezialisten bildet. Die soziale Form des Frontalunterrichts verkörpert in der Gegenüberstellung von Lehrpersonal und Schülerschaft zugleich die Differenz von Fachleuten und Laien, die für die moderne Gesellschaft eine ganz weit reichende Bedeutung besitzt.“ (S. 43) – Solche „symbolischen Transformationen“ sind es, auf die das Buch abstellt, wenn es um den sozialen Ort „Schule“ geht. Die „Kraft des Symbole“ breitet sich jenseits der Lehrstoffe aus. Wer das liest, versteht automatisch besser, dass das Verhalten des Lehrers im Unterricht einflussreicher auf die Kinder ist als die von ihm gelehrten Wissensgebiete.
Vom Himmel zum Display
Früher war der Kirchturm das höchste Gebäude in Dörfern und Städten. Der Kirchturm wies den Gottesdienstbesuchern den Weg. Aber am Kirchturm orientierte sich auch, wer weder in das Gotteshaus noch in die Messe wollte. Heute wird die Lufthoheit der Kirchtürme von Bürotürmen und den Wolkenkratzern der Banken abgelöst, ohne dass diese noch wesentliche Orientierungsfunktionen erfüllen. Der moderne Mensch richtet sich nicht mehr an Gebäuden aus, sondern am Display seines Navigators. Der symbolische Verlust – oder Gewinn, je nach Betrachtung – dieser Entwicklung: Die Menschen verlernen systematisch, ihren Blick gen Himmel zu richten. Ein Phänomen, das auch andernorts zu beobachten ist: Statt aus dem Fenster zu schauen, um sich ein Bild über das Wetter und seine Entwicklung zu machen, wartet man lieber auf die „Wetterkarte“ nach der Tagesschau.
Symbole wiegen uns in Sicherheit
Die Anbringung von „Feuerlöschern“, die Ausweisung von „Notausgängen“ und „Fluchtwegen“ in öffentlichen Gebäuden und Verkehrsmitteln, die Platzierung von „Notrufsäulen“ an Straßen, die Drapierung von Fluss-Brücken mit rot-weißen „Rettungsringen“, die Ausstattung von öffentlichen Ämtern mit „Defibrillatoren“ etc., das sind mehr als funktionale Mittel zur Lebensrettung im Falle des Falles. Das sind symbolische Demonstrationen administrativer Risikoabsorption. Mag der Feuerlöscher im Ernstfall auch nicht funktionieren, entscheidend ist, dass die zuständigen Stellen ihn zur Verfügung gestellt haben. Ein womöglicher Mangel in der Wartung des Geräts wiegt weniger schwer (bei der anschließenden juristischen Bewertung) als der Anschein, nicht vorgesorgt zu haben. – Symbole, die uns in Sicherheit wiegen, können diese Sicherheit keineswegs garantieren. (Vgl. S. 60 ff) Aber den Anschein des „Als ob“ können sie kraft der Macht ihrer Symbolik erwecken.
Die Sprache der Möblierung
Als „Unity without conversation“ bezeichnete die Massenkommunikationsforschung in den 1960er Jahren die „Fernsehfamilie“. Sobald das Fernsehgerät Einzug in die Familie gehalten hatte, verändert sich auch die Konstellation in der Guten Stube. Die „Ablösung des Familientisches als Mittelpunkt des Wohnzimmers durch den Fernseher“ fand statt. Auf ihn, den Fernseher, wurden „die Sitzmöbel so ausgerichtet, dass die Blickachsen auf jene zum Altar stilisierte Stelle“ hinaus liefen. Damit fand die „kulturindustrielle Vereinnahmung des Bewusstseins“ seinen möblierten Ausdruck. (Vgl. S. 65) – In Beobachtungen dieser Art hat das Buch seine eindeutigen Stärken. Die private und öffentliche Raumgestaltung erlaubt Rückschlüsse auf die Verfassung der herrschenden Kultur; sie weist damit über ihre funktionale Nützlichkeit – etwa bequem Fernsehen gucken zu können – hinaus und kann zu einem Sittengemälde ausgemalt werden.
Statussymbole oder Die dreifache Bedeutung des „Eherings“
Statussymbole haben vielerlei soziale Funktionen. Sie weisen Milieu und Herkunftsregion, Standpunkt und Interessen, Lebensphase und Vorbilder aus. Sie zeigen an, ob eine Person sich als ledig oder verheiratet, konservativ oder progressiv, als Platzhirsch oder Novize ausgibt – und vieles mehr. „Auch die Mittel sind äußerst vielfältig. Anhand expliziter Symbole auf Aufdrucken, Aufnähern oder Aufklebern, durch Pomp, Schmuck und Verzierungen, aber auch über Gebrauchsgegenstände, Design und Outfit, mittels Wortwahl, Tonfall und Haltung werden die verschiedenen Aspekte des sozialen Status eines Menschen zum Ausdruck gebracht.“ (S. 92 f)
Status-Symbole stehen in einem dreifachen Bedeutungskontext, den das Buch als „Vollzugskontext“, „Binnenkontext“ und „Außenkontext“ benennt. Am Beispiel des Eheringes sei demonstriert, was darunter zu verstehen ist: Mit dem Ehering geben sich die Ehepartner untereinander den „allzeit präsenten Status ihrer Liaison“ zu verstehen („Vollzugskontext“); gegenüber anderen Verheirateten bekräftigt der Ehering den „sittlichen Wert der Ehe“ („Binnenkontext“); und gegenüber Ledigen teilt der Ehering mit, dass der Ringträger bereits vergeben ist („Außenkontext“). (Vgl. S. 81)
Zur Signatur der modernen Gesellschaft gehört es, dass sie es den Einzelnen immer einfacher macht, sich über Statussymbole als erfolgreich, elitär und wohlhabend zu geben: „Vom Frühschwimmerabzeichen ‚Seepferdchen‘ bis zum dritten Platz im Skatturnier, vom Hauptschulabschluss bis zum nichtsnutzigsten Bachelorstudiengang – fast jedes durch formale Instanzen authentifizierte Ergebnis lässt sich symbolisch als ‚Erfolg‘ verkaufen… Ob Mädchenclique oder Burschenschaft, avantgardistische Künstlergruppe oder erzkonservative Funktionärsriege… – innerhalb jeder noch so barbarischen Bezugsgruppe pflegt man sich symbolisch als ‚Auserwählte‘ zu behandeln. Und schließlich: Motorräder, Whiskyflaschen, Smartphones, E-Gitarren usw. – die symbolträchtigen Prestigeobjekte sind inzwischen als erschwingliche Industrieprodukte verfügbar, so dass so gut wie jedermann es sich leisten kann, seinem Leben … einen schillernden Anstrich zu geben.“ (S. 92)
Gemeinschaftssymbole
Der Name für das Ursymbol, das gemeinschaftsbildenden Funktionen dient, ist „Totem“. Das Totem als kollektivitätsstifetendes Zeichen verkörpert mit seiner wiedererkennbaren Form – als Tier oder sonstiges Objekt (Mond, Sonne, Pflanze u. ä.) – ein sinnlich ansonsten kaum wahrnehmbares Wesen, ohne das der Einzelne jedoch nicht lebensfähig wäre: das Kollektiv, die Gemeinschaft, die Gesellschaft. Der Sinn von Gemeinschaftsymbolen liegt in der Stiftung eines besonderen Bindekitts, des „Wir-Sinns“. (S. 126) Die totemistische Praxis lebt bis auf den heutigen Tag fort. Etwa wenn sich ein Fußballclub unter dem Bild eines Geißbocks versammelt. Oder in Kindergärten den einzelnen Gruppen Tiernamen zugeordnet werden, so dass die Kinder sich als Mitglieder der „Bären-“ oder der „Häschen-Gruppe“ verstehen lernen. Moderne Wörter für das Totem im Heute könnten „Maskottchen“ oder „Logo“ sein. In diesem Zusammenhang fragt das Buch, ob es ein zutreffendes Symbol für die One World, für die Menschheit als Family of Men gibt. Die Antwort fällt negativ aus. Noch immer wird die Welt eher als geografische Einheit symbolisiert denn als menschliche Gemeinschaft. „Die Flagge der UNO zeigt die von einem Ährenkranz gerahmten Umrisse der Kontinente.“ (S. 130) Die Olympischen Ringe repräsentieren ebenfalls nur die fünf Erdteile.
Wenn heute zu den „persönlichsten“ Gegenständen, die ein Mensch besitzt, Mobiltelefon und Notebook geworden sind, dann drückt sich darin symbolisch aus, dass die moderne Welt eher als Maschine denn als Organismus angesehen wird, der anzuhängen überlebensnotwendig ist. Vernetzt zu sein ist also wichtiger geworden als leibhaftig zusammen zu sein. (vgl. S. 132) Nicht auszuschließen, dass das Totem, unter dem sich die One World dereinst wieder findet, ein großer Maschinenautomat ist.
Weltbilder
Unser Bild von der Gesellschaft, in der wir leben, ist ein Konstrukt dieser Gesellschaft selbst. Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit geschieht über Sprache, Bilder, Design, Architektur etc. Pyramiden, Kathedralen oder die Moais auf den Osterinseln tragen Botschaften vergangener Gesellschaften und Epochen zu uns in die Gegenwart.
Wenn man in Zukunft auf die Vergangenheit unseres 21. Jahrhunderts zurück blicken wird, werden die Botschafter wohl eher Wolkenkratzer, Sportarenen und Atomkraftwerke sein. Sie stehen zugleich für eine Tendenz der Moderne zur „symbolischen Säkularisierung“ (vgl. S. 164), die die religiös-spirituellen „Wahrzeichen“ aus der Vorzeit „alt“ im Sinne von „überholt“ aussehen lassen.
Diskussion
Der Rezensent sah kürzlich ein blaues Strampelhöschen für kleinste Jungs mit dem aufgestickten Spruch: „Killer by Day, Lover by Night“. Das passt zu einer Stelle im vorliegenden Buch, wo der Autor feststellt, Babykleidung trage heutzutage oft Schriftzüge wie „King“ und „Princess“, „Master“, „Winner“ und „Champion“. Kommentar des Autors: „Es scheint, als solle Kindern von klein auf in angloamerikanischen Schlagworten Leistungsethik nahe gebracht werden.“ (S. 56) – Das ist milde kommentiert!
Fazit
Das Buch ist ungewöhnlich dicht an Informationen und Argumenten. Die Welt des „Animal symbolicum“, wie Cassirer den Menschen nennt, erhält durch das Werk Struktur, Vernunft und eine lebhafte Plastizität. Ein Buch, nach dessen Lektüre man mit anderen Augen und Ohren durch unsere Fußgängerzonen geht.
Rezension von
Prof. Dr. Klaus Hansen
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Zitiervorschlag
Klaus Hansen. Rezension vom 24.11.2014 zu:
Michael Beetz: Kraft der Symbole. Wie wir uns von der Gesellschaft leiten lassen und dabei die Wirklichkeit selbst mitgestalten. UVK Verlagsgesellschaft mbH
(Konstanz) 2014.
ISBN 978-3-86764-558-4.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/17654.php, Datum des Zugriffs 13.01.2025.
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