Florian Kiuppis: Heterogene Inklusivität, inklusive Heterogenität
Rezensiert von Prof. Dr. Ute Straub, 27.02.2015
Florian Kiuppis: Heterogene Inklusivität, inklusive Heterogenität. Fallstudie über den Bedeutungswandel imaginierter pädagogischer Konzepte im Kontext Internationaler Organisationen.
Waxmann Verlag
(Münster, New York) 2014.
244 Seiten.
ISBN 978-3-8309-3092-1.
D: 29,90 EUR,
A: 30,80 EUR,
CH: 40,90 sFr.
Internationale Hochschulschriften ; Bd. 609.
Siehe auch Replik oder Kommentar am Ende der Rezension
Thema
Von „spezial needs“ zur „inclusion“ – wie hat sich das Konzept in Bezug auf Begriffsverwendungen, Bedeutungszuweisungen und Lesarten gewandelt? Dies wird auf dem Hintergrund des Diskurses in und mit der UNESCO analysiert – als im Zusammenhang von Bildung und Kultur wichtigster und Normen setzender Regierungsorganisation. Der untersuchte Zeitraum umfasst die Jahre 1994 bis 2000, von der sogenannten Salamanca-Erklärung, dem Abschlussdokument der „World Conference on Special Needs Education“ bis zu einem (nicht-öffentlichen) „Day of Reflection“ im Anschluss an das World Education Forum in Dakar, in dem auf die Geschichte und Verbreitung der Idee inklusiver Pädagogik zurück geblickt wurde. Zwischen diesen Daten wurde an dem Anspruch des in der Salamanca-Erklärung formulierten „New Thinking in Special Needs Education“ gearbeitet, um statt des als normalistisch und veraltet kritisierten Konzepts der Anpassung das Konzept der Inclusive Education auf die globale bildungspolitische Agenda zu setzen.
Autor und Entstehungshintergrund
Florian Kiuppis hat mit diesem Band in der Reihe Internationale Hochschulschriften (für Habilitationen und sehr gute und ausgezeichnete Dissertationen) seine Dissertation im Fach Erziehungswissenschaften an der Philosophischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin, Abteilung Vergleichende Erziehungswissenschaften, publiziert. Der Autor ist Associate Professor am Lillehammer University College, Faculty of Education and Social Studies, Schwerpunkt Disability Studies.
Aufbau
Grundlegend für die Analyse ist die Charakterisierung von Inclusive Education als ein „imaginiertes“, also zunächst nicht eindeutig festgelegtes Konzept, was eine Projektionsfläche für verschiedenen Bedeutungsvarianten bietet. Die Forschungsfragen sind: Warum, wie und wann es zum Wandel der Bedeutungen und Lesarten dieses Konzeptes kam und welche Rolle die UNESCO dabei gespielt hat.
Aufbauend auf der Einordnung der Fragestellung in den thematischen Kontext, einen Literaturüberblick zur Bestimmung des AdressatInnen-Kreises der Inclusive Education und auf der Verortung der Untersuchung in der Vergleichenden Erziehungswissenschaft wird das Thema in drei Kapiteln analysiert.
Zu 1. Theoretischer Kontext und konzeptioneller Bezugsrahmen
Als Bezugsrahmen steht auf der einen Seite der Weltkultur-Ansatz des soziologischen Neo-Institutionalismus. Bei diesem makrosoziologisch orientierten Zugang werden i.d.R. in quantitativ ausgerichteten Längsschnittstudien vor allem Angleichungstendenzen in Bildungspolitik, -institutionen und -inhalten in den Fokus gerückt. Auf der anderen Seite stehen die mikroanalytisch und qualitativ ausgerichteten Fallstudien, die eher die „local voices“ und damit Prozesse regionaler Fragmentierung und kontextspezifischer Entwicklungen betrachten. Damit betonen sie weniger die universelle Standsardisierung als die Divergenzen in Strukturen und Handlungsweisen. Beide Ansätze finden sich in der Debatte um den Global/ Local-Nexus, der „Reisewege“ von Wissensbeständen vom globalen in den lokalen, (sub)nationalen Diskurs und vice versa beschreibt.
Diese Theoriedebatte in der Globalisierungsforschung in der Vergleichenden Erziehungswissenschaft führt zur Betrachtung der internationalen Organisationen als Global Players und deren Funktion des Agenda Settings, womit sie den Rahmen für Reformvorhaben auf nationaler Ebene vorgeben. Kiuppis schlägt eine alternative Blickrichtung vor: Institutionen mikroanalytisch in ihrer Einbettung in institutionelle Umwelten (embedded agency) zu analysieren, um damit die für seine prozessorientierte Studie grundlegenden „competing institutional logics“ betrachten zu können. Ebenfalls nachvollziehbar ist, für diese spezielle Analyseperspektive statt des Local/Global Nexus einen Macro/Micro-Nexus als Leitdifferenz einzusetzen. Das erlaubt an Stelle der geografischen Unterscheidung eine, die sich auf den jeweiligen Analysestandpunkt des Forschenden bezieht. Damit wird eine doppelte Einbettung der Institution UNESCO begründbar, sowohl in ein organisationales Feld wie in eine institutionelle Umwelt. Aus dem Ansatz des Skandinavischen Institutionalismus werden zentrale konzeptionelle Annahmen „decision making under ambiguity“ und „logic of appropriateness“ herangezogen.
Dieses sehr komplexe theoretische Design ist die Grundlage für die Quellenanalyse.
Zu 2. Quellen, Akteure, Methoden und Periodisierung
Als Quellenbasis dienen Dokumente aus den einschlägigen Bibliotheks- und Archivbeständen der UNESCO in Paris. Zentrale Grundlage ist der komplett archivierte Dokumentenbestand der Special Needs Education Unit der UNESCO bis 2001 (17 Ordner mit 3.540 Bilddateien!), die Liste der zitierten Archivmaterialien finden sich im Anhang. Diese umfangreichen „schriftlichen Spuren“ wurden in sieben Kategorien unterteilt: Sitzungen und informelle Zusammenkünfte; Kongresse und andere öffentlich zugängliche Veranstaltungen; Programmatik; Verträge, Stellenbeschreibungen und Aufgabenzuweisungen; Berichte und Leitfäden; Presse; Fachartikel. Durch diese vielfältigen schriftlichen Zeugnisse werden interne wie externe Kommunikations- und Interaktionsprozesse sichtbar und können für die Analyse der konfligierenden Anforderungen und die miteinander verwobenen Abstimmungs-, Abwägungs- und Entscheidungs- und Interaktionsprozesse eingesetzt werden. Auch die AkteurInnen – in Anlehnung an die neo-institutionalistische Organisationsforschung – werden klassifiziert (Dominants, Followers, bzw. Supporters und Challengers). Als Theoriemittel für die Analyse von Bedeutungen, also in diesem Fall die Klärung der Frage, ob es zwischen den in den Daten sich aufzeigenden Ideen eine Kontinuität, eine passende Verbindungslinie zwischen „alten“ und „neuen“ Ideen gibt, werden verschiedene Ansätze herangezogen mit denen die unterschiedlichen, dem Begriff „Inklusion“ und seinen Vorgängern zugewiesenen Bedeutungen kategorisiert werden können. Die Datenauswertung selbst wird als „processual analysis“ verstanden: Wie und warum stellen sich bei gleichbleibendem Sachverhalt im Verständnis der AkteurInnen Veränderungen ein? Weitere Punkte des konzeptionellen Bezugsrahmens bilden die Frage nach der Periodisierung der Längsschnittstudie und der Identifizierung signifikanter Diskontinuitäten, sowie der Ansatz der linked solution. Dabei werden aus den verfügbaren Daten Lösungswege zu bestimmten Problembereichen ermittelt, die z.B. in neu aufgelegten Programmen bei entsprechendem externem ideologischen Druck oder in der Veränderung von Finanzierungsplänen durch neue Schwerpunktsetzungen liegen können.
Den Abschluss dieses Kapitels bildet ein Rückblick auf die Anfänge der Special Education Programme der UNESCO in den 1960er Jahren und auf den Aufschwung ihrer auf Behinderung bezogenen Bildungsarbeit.
Zu 3. Vom Umdenken zu Auflösung: Die Special Needs Education-Agenda der UNESCO nach dem Jahr 1994
Im empirischen Hauptkapitel des Buches wird untersucht, wie die Ideen um Inclusive Education auf der Ebene Internationaler Organisationen in ein imaginiertes Konzept übersetzt werden, bevor sie „auf die Reise gehen“, also den nationalen Kontext erreichen. Die zweite Perspektive richtet sich darauf, was mit diesen Ideen passiert, nachdem sie, durch nationale Ausprägungen bereichert, in die Kommunikationen zwischen den internationalen Organisationen zurückgekehrt sind. Es wird also davon ausgegangen, dass es nicht die UNESCO ist, die bestimmte Sichtweisen vorgibt, sondern dass sie mit Erwartungen aus (sub)nationalem Kontext konfrontiert wird, denen sie entsprechen muss. Kernpunkt der Analyse sind die Fragen „(1) warum, wie und wann es bei der (Weiter)Entwicklung der Idee für Inclusive Education zu einem imaginierten Konzept im zur Analyse stehenden organisationalen Feld zum Wandel der Bedeutungen und Lesarten und zur Veränderung des Verständnisses von Sachverhalten und folglich der thematischen Schwerpunktsetzung von Special Needs kam; und (2) welche Rolle die UNESCO …beim damit einhergehenden Wandel von Bedeutungen des imaginierten Konzepts der Inclusive Education spielte“ (S.130/131). Die Datenanalyse stützt sich vor allem auf die Korrespondenzen der UNESCO und zeigt, wie im „old thinking“ Behinderung im Kontext von Normalität und Abweichung eingeordnet wird, im „new thinking“ das Moment der Diversität und der Heterogenität in den Vordergrund tritt.
Insgesamt, so die Analyse der (unzähligen) Primärquellen, kann der Prozess als Entwicklung vom Umdenken zur Auflösung der Special Needs Education-Agenda der UNESCO bezeichnet und der Betrachtungszeitraum von 1994-2000 in drei Phasen eingeteilt werden: In der ersten Phase (Juni bis Oktober 1994) zieht eine sekundäre institutionelle Logik in die Debatten im organisationalen Feld ein. Während die primäre institutionelle Logik sich gemäß dem Salamanca-Papier vor allem auf Menschen mit Behinderung und deren Integration richtet, wird von außen das Zwei-Gruppen-Denken in Frage gestellt und die Perspektive auf die Heterogenität (von Lerngruppen) gelenkt. In der zweite Phase (Oktober 1994 bis Februar 1997) wird durch die Auseinandersetzung zwischen verschiedenen AkteurInnen wie der WHO, vor allem aber durch den Einfluss der Weltbank, die Special Needs Education-Programmatik durch das Education for All-Paradigma abgelöst. In der dritten Phase (Februar 1997 bis Oktober 2000) wird Inklusion mit unterschiedlichen marginalisierten Gruppen, nicht nur mit Behinderung, assoziiert. Gleichzeitig zeigt die Dokumentenanalyse aber auch, wie sich durch die Verschiebung von Konstellationen zwischen UNESCO, UNICEF und Weltbank inkonsistente organisationale Logiken entwickeln, was schließlich in einer Kompromisslösung endet, womit die Einschränkungen aus beiden Programmen überwunden werden können.
Diskussion
Dieses Buch ist eine Art Kriminalroman, eine Spurensuche nach den AkteurInnen und den wechselseitigen Beeinflussungen und Abhängigkeiten, die an der Entwicklung und Veränderung eines bestimmten Konzepts beteiligt sind, das weltweit Bedeutung und Verbreitung erhält. Dazu muss man sich allerdings auf das Format einer Dissertation mit all ihrer Detailliertheit und einigen Redundanzen einzulassen. Ist man dazu bereit, erhält man interessante Einblicke in die Funktionsweise internationaler Politik und internationaler Organisationen.
Fazit
Eine leichte Lektüre ist das Buch jedenfalls nicht und rätselhaft bleibt der schwerfällige Titel, aus dem sich nicht erschließt, worum es eigentlich geht. Doch ist die Studie für einschlägig Interessierte eine Fundgrube und könnte auch selektiv gelesen werden, je nachdem, ob der Interessenschwerpunkt auf der Frage von Integration/ Inklusion oder der Funktionsweise von internationalen Regierungsorganisationen liegt. Der methodischen Aspekt, wie eine Dokumentenanalyse aussehen (Fleißarbeit!) und was man inhaltsanalytisch herausfinden kann, kann ebenfalls eine Lesart sein.
Rezension von
Prof. Dr. Ute Straub
Frankfurt University of Applied Sciences
Fachbereich 4: Soziale Arbeit und Gesundheit
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Kommentare
Anmerkung der Redaktion:
Die Übersetzung wurde gefördert durch den Förderverein Fachinformation Sozialwesen e.V. (FFS). Ermöglichen Sie weitere Übersetzungen durch Ihre Spende an den FFS
Zitiervorschlag
Ute Straub. Rezension vom 27.02.2015 zu:
Florian Kiuppis: Heterogene Inklusivität, inklusive Heterogenität. Fallstudie über den Bedeutungswandel imaginierter pädagogischer Konzepte im Kontext Internationaler Organisationen. Waxmann Verlag
(Münster, New York) 2014.
ISBN 978-3-8309-3092-1.
Internationale Hochschulschriften ; Bd. 609.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/17661.php, Datum des Zugriffs 07.11.2024.
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