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Nino Tomaschek, Andreas Streinzer (Hrsg.): Verantwortung. Über das Handeln in einer komplexen Welt

Rezensiert von Arnold Schmieder, 17.11.2014

Cover Nino Tomaschek, Andreas Streinzer (Hrsg.): Verantwortung. Über das Handeln in einer komplexen Welt ISBN 978-3-8309-3163-8

Nino Tomaschek, Andreas Streinzer (Hrsg.): Verantwortung. Über das Handeln in einer komplexen Welt. Waxmann Verlag (Münster, New York) 2014. 157 Seiten. ISBN 978-3-8309-3163-8. D: 24,90 EUR, A: 25,60 EUR, CH: 35,50 sFr.

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Thema

Eigenverantwortung war das Thema des vorherigen Bandes von ‚University Society Industry‘, herausgegeben vom Postgraduate Center der Universität Wien. Darauf weisen Tomaschek und Streinzer hin und erklären, warum der vorliegenden Band um den Begriff Verantwortung kreist: An den normativ gefassten Begriff der Eigenverantwortung und seine neoliberale Konturierung, die „das Individuum als Maß der Dinge in der Betrachtung von Gesellschaft versteht“, würde mit dem vorliegenden Band und seinen Themenschwerpunkten rund um den Begriff Verantwortung insoweit angeschlossen, „um Fragen nach der Beziehung zwischen Individuen und einer imaginierten Gemeinschaft zu stellen.“ (S. 9) Eigenverantwortung und Verantwortung implizierten Fragen, so die Herausgeber, die durch die Handlungsfolgen in einer komplexer werdenden Welt aufgeworfen würden und dies zumal im Hinblick auf den anthropogenen Einfluss auf die Veränderung von Ökosystemen, was im Gesamt der neuen Beiträge unter den Stichworten KonsumentInnenverantwortung und Nachhaltigkeit sowie einer Analyse von Nachhaltigkeitsberichten seitens großer Unternehmen zentral zur Sprache kommt. Konzeptionell ist der Band in drei Kapitel unterteilt, wobei zunächst der Begriff ‚Verantwortung‘ eher theoretisch ausgelotet wird, danach Verantwortung in den Zusammenhang von Risiko und Innovation gestellt wird, wie sie sich für Organisationen stellt, um schließlich Verantwortungsübernahme durch Unternehmen zum einen auf den Prüfstand zu stellen, zum anderen am Gegenstand und somit inhaltlich konkret zu reklamieren.

Aufbau und Inhalt

Ob und inwieweit und warum der Mensch ein „Trampeltier“ ist, diskutiert Maria-Sybilla Lotter mit exemplarischem Rückbezug auf griechische Mythologie und will damit eine Argumentationsfolie anbieten, mit Hilfe derer moralische Verantwortung und eventuelle Schuldvorwürfe entkoppelt werden könnten und sollten. Auch für „Unbeabsichtigtes“ hätten wir in unserem normal alltäglichen Sozialleben „moralische Haftbarkeit“ zu übernehmen, was aber bei lässlichen Verletzungen mit unseren „Ideen von moralischer Schuld“ in aller Regel wenig zu tun habe. Es gelte, „der gewöhnlichen menschlichen Schusseligkeit Rechnung zu tragen“ (wer ist nicht gelegentlich ein Trampeltier?), was durch unsere gedankliche Fixierung auf moralische Schuld erschwert werde. (S. 19 f.)

Martin K.W. Schweer und Benjamin Müller geht es um eine differentielle Theorie sozialer Verantwortung, die sie am Fallbeispiel von Homosexualität und Homonegativität im Sport exemplifizieren, wobei auch hier auf der Ebene der überindividuellen, kollektiven Verantwortungsübernahme das Problem von „Verantwortungsdiffusion“ virulent werde. (S. 27) Die Autoren schlüsseln Inhaltsfelder, Verantwortungsträger und Ebenen sozialer Verantwortung im Hinblick auf eine Kultur zumal sexueller Vielfalt im Sport auf und anempfehlen weitere Forschungen hinsichtlich begünstigender, also sich positiv auf einen Meinungswandel auswirkender und tradierte Stereotype aushebelnder „Zuschreibungsprozesse“. (S. 36)

Am Beispiel der Energiearmut gehen Karl-Michael Brunner und Anja Christanell der Frage nach einer KonsumentInnenverantwortung für Nachhaltigkeit nach und zielen dabei auf sozial-ökologische Gesellschaftsgestaltung, auf Lebensformen, die „weniger ressourcenintensiv sind“ und gleichzeitig soziale „Ungleichheiten“ reduzieren (S. 56), wobei sie deutlich hervorheben, „dass die Gleichung ‚hohes Umwelt- und Nachhaltigkeitsbewusstsein = ausgeprägt nachhaltiges Handeln‘ so nicht stimmt“ (S. 50), und dass nachhaltige Entwicklung „nicht nur Aufgabe des Marktes und der KonsumentInnen sein“ kann, sondern zwingend Fragen nach der „Verteilungsgerechtigkeit, der sozialen und ökonomischen Teilhabe“ berücksichtigt werden müssen. (S. 55)

Zukunft braucht Eigenverantwortung und die will Wolfgang Hesoun unternehmerischem Denken für den Zweck der Entwicklung eines zukunftsfähigen Wirtschaftsstandortes implementieren. Knapp und bündig führt er vor Augen, dass und warum „Freiheit und Eigenverantwortung“ ein unverzichtbares „Wertfundament“ für einen reüssierenden Wirtschaftsstandort sind, werde doch dadurch „in jeder Hinsicht unsere Handlungs- und Zukunftsfähigkeit“ erhöht. (S. 65)

„Die Universität stellt die Anforderungen rücksichtslosen Erkennenwollens.“ Mit diesem Zitat von Karl Jaspers als Motto stellen Stephan A. Jansen und Tim Göbel in Form eines Werkstattberichtes das Problem von Verantwortung und Verantwortungsübernahme auf jener Ebene dar, wo Universitäten als zivilgesellschaftliche Akteure zu begreifen sind. Eine „Rückbesinnung auf viele Eigenschaften der alten Universitas“ regen die Autoren an und empfehlen zugleich eine Verantwortungsübernahme seitens der Studierenden selbst, und zwar „die der eigenen riskanten, d.h. sich selbst positionierenden Forschung ab dem ersten Semester.“ (S. 78)

„Mach dir lieber erstmal ordentlich Sorgen!“, zitiert Manfred Zottl einen Zenmeister und wendet diese Aufforderung auf eine ‚Fehlerkultur‘, die in Krankenhäusern erst noch und vor allem darum zu entwickeln sei, um die PatientInnensicherheit zu erhöhen. Verantwortung habe da ein jeder und eine jede, gleichviel an welcher Stelle sie oder er in der Hierarchie stehe, was bedeute, dass die Krankenhausführung eine „Sicherheits-, Verbesserungs- oder Gerechtigkeitskultur“ etablieren müsse (S. 87), was die Chancen von „Risikoanalysen (…) schon im Vorfeld“ erhöhe. (S. 83) Gerade der „Gerechtigkeitskultur“ komme dabei hoher Stellenwert zu, was heiße, „zwischen ‚zur Verantwortung ziehen‘ und ‚aus Fehlern lernen‘“ abzuwägen. (S. 91) Dann zahle es sich aus, ‚sich Sorgen zu machen‘.

Die drei Beiträge des dritten Teils sind um Unternehmensverantwortung in Bezug auf Gesellschaft und Umwelt gruppiert. Ann-Marie Nienaber, Ansgar Buschmann, Bastian Neyer, Monika Käs und Gerhard Schewe legen eine Longitudinalanalyse der ökologischen Nachhaltigkeitsberichte von 2000 bis 2010 vor und kommen zu dem Schluss, dass diesbezügliche Verantwortung „offenbar ein zentraler Baustein in unserer Unternehmenswelt geworden ist.“ (S. 97)

Berichtserstattung ist auch das Stichwort von Nikolai Haring im Hinblick auf Übernahme von Eigenverantwortung durch Nationalstaaten. Das „Gemeinwohlstreben“ müsste durch „entsprechende externe Anreize“ intensiviert werden, wobei das zu lösende Problem aufgeworfen sei, „welche nichtmonetären Indikatoren zur Messung des Gemeinwohls herangezogen werden sollen“. (S. 134)

Personalentwicklung und -bindung stehen nicht nur darum auf der organisatorischen Tagesordnung von Unternehmen, weil sie den unmittelbar Betroffenen frommt, sondern weil „Freiwilligentätigkeit die Belastbarkeit der Mitarbeiter“ fördert und „Ausgeglichenheit“ schafft. (S. 151) Kurzum: Förderung des ehrenamtlichen Engagements von Mitarbeitern kann längst nicht mehr „nur als Imagepflege“ von Unternehmen und als „Verbesserung der Unternehmensreputation“ abgetan werden (S. 141), vielmehr steigern sie dadurch „ihre Attraktivität und erhöhen ihre Bindungswirkung“ (S. 152), wodurch die „Freiwilligentätigkeit“ zum Aushängeschild wird, durch das sich „Kunden (…) leichter gewinnen und binden“ sowie fähige Mitarbeiter rekrutieren lassen, was angesichts „zunehmenden Fachkräftemangels für die Unternehmen zu einem wettbewerbsentscheidenden Aspekt“ werden kann (S. 142), meint Sabine Remdisch abschließend.

Diskussion

Verantwortung generell und Eigenverantwortung verlangen als geisteswissenschaftlicher Gegenstand in den Diskurs um Ethik und Moral eingebettet oder darauf bezogen zu werden. Wem dieses Ansinnen von der Spitze des Elfenbeinturmes gestellt zu sein scheint, der sollte bedenken, dass sich aus der Höhe besser die ganze Fläche der Niederungen (nicht nur ökonomisch) interessiert verantwortungslosen Handels überblicken lässt, das noch hinter dem Schild ‚Verantwortung‘ sich zu verbergen trachtet oder gar Deckung sucht. Überfällige oder prophylaktische Pazifikation mag dem Ruf nach Verantwortungsübernahme zu Grunde liegen. Das Meinungsklima mag sich dahin gehend verändert haben, dass nächst Politikern auch Banker oder Manager großer Konzerne in Verantwortung gegenüber dem Gemeinwohl (in der Nah- und Fernwelt) zu nehmen sind. Unübersehbar bleibt, dass solche Rufe nach Verantwortung tunlichst nicht an den nervus rerum rühren soll, ans Geld. Der neoliberale Zuschnitt von Eigen- oder Selbstverantwortung bleibt dem Zuschnitt nach auch dem Begriff der Verantwortung anhaften, die somit von der Frage nach Rationalität und objektiven Begründbarkeit als ‚normativer Satz‘ ausgekoppelt ist, was die Philosophie von Plato über Kant bis Habermas beschäftigt hat. ‚Verantwortung‘ soll sich möglichst der Logik des zugrunde liegenden Antriebs anpassen und ihr zudem förderlich sein: Geld heckt Geld, meinte Marx, daran ist nicht zu rütteln. So gerüstet lässt sich Verantwortung trefflich ‚verkaufen‘.

Auf diesen Punkt läuft – und dies mehr als cum grano salis, weil in aller unverblümten Offenheit – der letzte Beitrag von Frau Remdisch hinaus, was nicht ehrenrührig ist, aber kritisch aufgenommen werden darf. Auch steht er in einem nicht übersehbaren Kontrast zu den in einem anderen Beitrag angestellten Überlegungen zur Nachhaltigkeit mit der erhobenen Forderung nach Verteilungsgerechtigkeit und erhöhten Chancen auf ökonomische und soziale Teilhabe, was schon näher am Diskussionshorizont von Ethik und Moral ist. Wo die neuere Philosophie sich dem Prinzip Verantwortung auf dem Weg einer lebensweltlichen Begründung an ein tragfähiges moralisches Handlungsprinzip auf der Folie einer diskursiven und neo-pragmatischen Minimalethik à la Albrecht Wellmer überzeugend nähert (so wesentlich Anna Claas), sollte man vorsichtiger mehr noch mit moralischen Maßstäben in Bezug auf unser ganz alltägliches Sozialleben sein als mit unserem vielleicht antiquierten Schuldverständnis und sich doch wohl weiter als Maria-Sybilla Lotter fragen, was wann als ganz normale „Schusseligkeit“ jenseits moralischer Haftung steht und entschuldbar ist. Damit ist nicht Wertekonservatismus das Wort geredet noch moralischem Rigorismus, sondern auf die Notwendigkeit eines ‚praktisch philosophischen‘, fortlaufenden und dadurch alltagsfähig gemachten Diskurses – auch um scheint´s leichthin Entschuldbares.

Dass auf der Verantwortungsagenda Nachhaltigkeitsorientierung ganz oben steht und Homonegativität etwa immer noch ein Problem ist, welches inzwischen in den Rang eines Ärgernisses absinkt, dass man in Krankenhäusern das Know how auch rangniederer MitarbeiterInnen nutzen sollte und der Abbau der Hierarchie zumal im Sinne des Patientenwohls zweckdienlich wäre, dass und wie auch Universitäten ihr Binnenklima und vor allem ihre Studienorganisationen für den Zweck der Förderung und Unterstützung von Forschung und Innovation zu verändern haben, warum Unternehmen und Organisationen Verantwortung in den Kanon ihrer ‚Binnenkultur‘ aufzunehmen haben, wird sinnvoll in den Beiträgen benannt, vorgetragen, erläutert und vor allem zur Diskussion gestellt. Dass der Aspekt einer tatsächlichen bis in Aussicht zu stellenden Verwertung von Verantwortung zumal im dritten Teil des Bandes favorisiert wird, wogegen einzubringen ist, sie als Ausdruck als einer der Vernunft geschuldeten moralischen Haltung und entsprechendem Verhalten zu fassen, mag der Veranstaltung geschuldet sein, auf der Band und Thema fußen, nämlich University Meets Industry. Solche Kooperationen sind sinnvoll und der übliche populistische Generalverdacht einer Auftragsforschung für optimierte Sozialtechnologie nicht hilfreich. Der auffordernde Hinweis auf philosophische und ökonomiekritische Reflexion und Vergewisserung, wie sie in einigen Beiträgen des Bandes anklingt, darf aufrecht erhalten werden.

Fazit

Informationen zum Begriff der Verantwortung bietet der Band allemal und auch Handreichungen, wie Verantwortung im Hier und Heute praktisch werden kann – für das Hier und Heute. Insofern ist er eine Diskussionsgrundlage weniger, wenngleich auch für PhilosophInnen, die sich an den Beiträgen auf dem Wege zu einer zeitgemäßen Bestimmung von Ethik und Moral abarbeiten könnten, wohl aber für all diejenigen, die in ihrem Alltagsleben und zumal in ihrer beruflichen Praxis den Begriff der Verantwortung nicht nur als Leerformel handhaben, sondern inhaltlich konturiert fassen wollen – und vielleicht dadurch auf seinen auch kritischen Gehalt kommen.

Rezension von
Arnold Schmieder
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ISSN 2190-9245