Harro Dietrich Kähler, Petra Gregusch: Erstgespräche in der fallbezogenen Sozialen Arbeit
Rezensiert von Prof. Dr. Wolfgang Klug, 30.01.2015
Harro Dietrich Kähler, Petra Gregusch: Erstgespräche in der fallbezogenen Sozialen Arbeit. Lambertus Verlag GmbH Marketing und Vertrieb (Freiburg) 2015. 6., überarbeitete und erweiterte Auflage. 284 Seiten. ISBN 978-3-7841-2606-7. 24,90 EUR.
Thema
„Als Erstgespräch in der Sozialen Arbeit wird das erste Beratungsgespräch zwischen KlientIn und SozialarbeiterIn oder SozialpädagogIn bezeichnet. Die Anfangsphase dieser Zusammenarbeit prägt entscheidend den weiteren Verlauf ihrer Beziehung zueinander. Insofern kommt diesem Anfang eine Schlüsselfunktion für die Qualität der beruflichen Praxis in vielen Teilbereichen der Sozialen Arbeit zu. Das Buch soll einer ersten allgemeinen Orientierung über grundlegende Probleme und Möglichkeiten bei der Gestaltung von Erstgesprächen dienen, ohne dabei auf spezielle Arbeitsfelder explizit einzugehen.“ (Klappentext)
Autor und Autorin
Prof. Dr. Harro Dietrich Kähler, em. Professor am Fachbereich Sozialarbeit der Fachhochschule Düsseldorf, Gründer und Redakteur des socialnet Rezensionsdienstes.
Dr. Petra Gregusch, Dozentin für Soziale Arbeit an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften.
Vorbemerkung
„Bücher sind Schiffe, welche die weiten Meere der Zeit durcheilen“, soll einmal Francis Bacon gesagt haben, und wenn der Rezensent das zu besprechende Buch betrachtet, so ist das zweifellos wahr: Vor ihm liegen drei Ausgaben, die 2., die 4. und jetzt die 6., die sich nicht nur durch ihren Umschlag unterscheiden. Dem Rezensenten sind die früheren Auflagen gute Freunde geworden in der Ausbildung von Studierenden, sodass er die jetzt gemeinschaftlich von Kähler und Gregusch bearbeitete neue Auflage nicht ohne innere Rührung sieht. Er stellt sich die Frage, ob ein seiner Meinung nach (zeitlos) gutes Buch durch die Neugestaltung verbessert, verschlimmbessert oder gar verschlechtert wird. Dies ist auch insofern eine interessante Frage, weil die Neugestaltung wohl wesentlich das Werk von Petra Gregusch ist, da Harro Kähler, wie das Vorwort bekennt, keine Kapazitäten für eine Neuauflage hatte, und für die Neu-Autorin insofern die Herausforderung darin bestand, aus dem vorliegenden Buch ohne Substanzverlust eine verbesserte Auflage zu gestalten.
Information zu früheren Auflagen
Es liegen bereits Rezensionen zur 5. Auflage vorhanden:
- Prof. Dr. Katja Nowacki. In: socialnet Rezensionen unter www.socialnet.de/rezensionen/8834.php
- Prof. Nina Wyssen-Kaufmann. In: socialnet Rezensionen unter www.socialnet.de/rezensionen/9326.php
Der Verlag stellt dankenswerterweise die 4. Auflage (2001) als PDF zur Verfügung, sie ist allerdings nicht unter der im Buch angegebenen Web-Adresse downzuloaden, sondern man muss sich etwas durchklicken. Hier der korrekte Link: www.lambertus.de/assets/adb/8f/8fece0c6a0ccf869.pdf
Änderungen zur 5. Auflage
Der Titel wurde der derzeitigen sozialarbeiterischen Terminologie angepasst.
Das Cover der ersten beiden Auflagen präsentiert zwei Lampen auf schwarzem Hintergrund, die leuchtende Kreise werfen, die 4. Auflage firmiert in einem hellroten, mit Buchstabenkombinationen gemusterten Umschlag mit einem nachdenklichen (?) Klienten, die nunmehr 6. Auflage zeigt zwei leere Stühle. Aber gut, wegen eines Umschlags liest man ja kein Buch.
Die Lesbarkeit ist erheblich verbessert. Die Fußnoten wurden zumeist in den Text, die Fallbeispiele in gut lesbare Kästen integriert.
Die Literatur wurde aktualisiert und bedeutend erweitert.
Inhaltliche Veränderungen
Die wesentlichen Teile des Textkorpus der 5. Auflage blieben erhalten, der Vergleich der Gliederungen beider Auflagen zeigt insbesondere im 3. Kapitel Veränderungen; die gravierendsten werden im Folgenden kurz dargestellt.
Eine einschneidende Veränderung nimmt die neue Auflage unter 2.4.3 „Professionelle Soziale Arbeit“ vor. Das ursprünglich 3. Kapitel (Überschrift „Arbeitsbündnisse als Ziele von Erstgesprächen“) hielt für das Buch in der 2. Auflage eine „Konzeption der sozialen Einzelfallhilfe im Sinne des Case Managements in ökosozialer Perspektive“ (S. 44) fest, die 4. Auflage änderte dies bereits in „Bestandsaufnahme, Vertrauensbildung und Anbahnen von Arbeitsbündnissen in Erstgesprächen“, die 6. Auflage ersetzt „Bestandsaufnahme“ durch „Situationsklärung“. Die ökosoziale Grundlage der früheren Auflagen wird in der 6. Auflage durch eine systemische Theorie in der Tradition von Staub-Bernasconi und Obrecht ersetzt. Eine weitere bedeutende Veränderung ist die Konstruktion der Erstgespräche als „Kernelement sozialer Diagnostik“. Die dritte gravierende Veränderung ist das Kapitel über „Beziehungsgestaltung“ (3.3), indem auf ca. 15 Seiten Beratungstheorien u. a. von Rogers, Schmidt (Hypnosystemische Therapie), Grawe (Ressourcenaktivierung), Kanfer (Selbstmanagement) und systemische Ansätze mit z. T. sehr langen Originalzitaten dargestellt werden.
Weitere Veränderungen sind nicht so offenkundig, aber mindestens ebenso bedeutend: Die in den früheren Auflagen deutlich herausgearbeitete Abneigung des Erstautors gegen Standardisierungen sind getilgt und ins Gegenteil verkehrt: Es wird darauf hingewiesen, dass Standardisierungen nötig sind (S. 222). Zudem werden an vielen Stellen empirische Studien für die Wirksamkeit verschiedener Maßnahmen zitiert.
Das 8. Kapitel (Resümee und Ausblick) ist neu gefasst, es ist wesentlich griffiger als die ursprüngliche Fassung.
Diskussion
Um es vorweg zu sagen: Meine „Lieblingskapitel“, mit denen Studierende praxisbezogen und mithilfe empirischen Materials viel über Beratungsmethodik lernen bzw. Praktiker die eigene Praxis reflektieren können, sind nicht nur vollständig erhalten, sondern aktualisiert und mit viel neuer Literatur angereichert auch in der neuesten Auflage übernommen worden. Dafür ist den Autoren zu danken, denn in meiner Lehrtätigkeit haben sich diese Kapitel mehr als bewährt, sie sind zu einem unverzichtbaren Bestandteil meiner Lehre geworden. Es ist ein Verdienst des Erstautors, sich der Mühen der empirischen Sammlung und praxistauglichen Ordnung von Erstgesprächen unterzogen zu haben; dieses Material ist von zeitloser Bedeutung, weil es typische Gesprächssituationen authentisch darstellt. Wenn im Folgenden (sanft und sparsam) Kritik geäußert wird, ändert dies nichts an der hohen Wertschätzung für dieses Buch.
Es gibt drei „neuralgische“ Punkte, die sich durch alle Auflagen ziehen, von denen nun zwei augenfällig durch die Zweitautorin angegangen werden:
1. neuralgischer Punkt: Die Urausgabe war mit dem erkennbaren Ziel, ein Buch für Praktiker zu sein, deutlich zu wenig wissenschaftlich fundiert. Der genannte ökosoziale Ansatz wurde kaum ausreichend dargelegt. Diesen Mangel kann man den ersten Auflagen nicht vorwerfen, zu seiner Entstehungszeit war die Sozialarbeitswissenschaft in Deutschland noch in den Kinderschuhen. In der 4. Ausgabe wird mit einer überaus reichhaltigen Zitation von Fine/Glasser (1996) ein weiterer praxisbezogener Akzent gesetzt, der die genannten Dilemmata nicht behebt (und es vielleicht auch gar nicht will), da Fine/Glasser ebenfalls sehr praxeologisch vorgehen und keinen Ersatz für eine systematische sozialarbeitswissenschaftliche Grundlage darstellen. Mit der Entscheidung der 6. Auflage für das Züricher Sozialarbeitsmodell als sozialarbeitswissenschaftlichen Grundlage ist dieser Mangel tatsächlich behoben, wenngleich natürlich die Frage im Raum steht, ob man einem Praxismodell problemlos ein anderes Theoriemodell zugrunde legen kann, ohne dass sich nicht auch das Praxismodell ändern müsste. Das Vorgehen, die Methodik unverändert zu belassen, die theoretische Grundlage aber zu ändern, nährt vielleicht doch die Vorurteile der Kritiker von Sozialarbeitswissenschaft, die Sozialarbeits-Theorien als einen riesigen Popanz auffassen, der keine Auswirkungen auf die Praxis hat. Um richtig verstanden zu werden: Es gibt von meiner Seite keinerlei Probleme mit dem systemischen oder dem ökosozialen Ansatz, beide sind in der Wissenschaft Sozialer Arbeit akzeptiert, die Entscheidung der Zweitautorin ist also durchaus nachvollziehbar und auf der Höhe der Zeit. Aber für jemanden, der lehrt, dass aus einem spezifischen theoretischen Ansatz eine spezifische Methodik folgen sollte (z. B. Ökosozialer Ansatz und Case Management), ist das Faktum, dass man eine Theorie bruchlos auswechseln kann, zumindest diskussionswürdig. Trotzdem bleibt es natürlich ein Gewinn dieser Auflage, dass ein klarer Mangel beseitigt wurde. Das geschilderte Problem erkennt ohnedies nur der, der wie ich alle Auflagen nebeneinander legt.
2. neuralgischer Punkt: Bislang fehlte eine Darstellung eines zugrunde liegenden Beratungsverständnisses. Die Rezensentin Kollegin Nowacki hat angemerkt, dass der „Einbezug ausgewählter methodischer Beratungsansätze den Aspekt der Gestaltung von Erstgesprächen bereichern würde“. Sie nennt exemplarisch Rogers (1994) und für schwierige Gesprächssituationen Sachse (2009). Diese Kritik ist berechtigt, und sie wurde offenbar von den Autoren gesehen. Aber das, was da unter der Überschrift „Vertrauen und Vertrauensbildung und Beziehungsgestaltung in Erstgesprächen“ zwischen den Seiten 76 und 92 steht, ist nicht nur in der Überschrift sprachlich nicht ideal, das Kapitel ist nicht gut gegliedert und sprachlich überaus anspruchsvoll, es überfordert vor allem das Thema des Buches (und ich fürchte, manchen Leser). Es ist der Versuch eines Entwurfes einer allgemeinen Beratungstheorie, die sich wie eine kleine (mit überlangen Originalzitaten angereicherte) Dissertation liest und viele psychologische und psychotherapeutische Ansätze in Kurzfassung einbezieht. Wer diese kennt (Rogers, Grawe, Kanfer, Schmidt) wird sich leicht durchfinden, und es sind durchaus äußerst wertvolle Hinweise darin (z. B. Ressourcenaktivierung, Motivationsarbeit). Aber wer noch nichts vom „Streben nach einer symmetrischen Beziehung“ als „prinzipielle Strukturparallelität von Fähigkeiten“ (S. 85) oder „Herstellung von Kompetenzvertrauen durch Erwartungsinduktion“ (S. 87) gehört hat, wird sich schwertun, dem – in jeder einzelnen Theorie korrekt dargestellten – Gesagten zu folgen. Insofern stellt sich hier die Frage nach der Zielgruppe, für die das Buch geschrieben ist. Für die Praktiker, die Kapitel 4 und 5 mit Gewinn lesen, wo es um grundlegende Beratungstechniken geht, wäre ein klares, an einigen wenigen, klar dargestellten Beratungstheorien orientiertes beraterisches Grundverständnis wahrscheinlich ausreichend gewesen.
3. neuralgischer Punkt: die Begrifflichkeit „Erstgespräch“. Schon Kollegin Wyssen-Kaufmann wies bei der vorigen Auflage auf ein Problem hin: „Es könnte eine deutlichere analytische Unterscheidung zwischen Anamnese und Erstgespräch erarbeitet werden, da Kähler die Begriffe Anamnese und Erstgespräch synonym (48-49 und vgl. 1987, S. 249 f.) verwendet. Dies wahrscheinlich deshalb, weil Anamneseerhebungen oftmals im ersten Kontakt mit dem Klienten oder Adressaten stattfinden. Dennoch ist diese Gleichsetzung analytisch fraglich: Erstgespräche bezeichnen ein zeitliches Ordnungsprinzip, es geht um den Beginn einer potentiellen, langfristigen Beziehung zwischen Sozialarbeitenden und Klientel, die unterschiedlichen Charakter haben kann. Die Anamnese folgt dagegen einem inhaltlichen Ordnungsprinzip, ihre Funktion ist die Informationsgewinnung und -verarbeitung über vorliegende Probleme für weitere Entscheidungen und die Interaktion zwischen Klienten und Sozialarbeiterin.“ Diesem Problem liegt wohl eine analytische Unschärfe des Begriffs „Erstgespräche“ zugrunde, die sich auch in der vorliegenden Auflage nicht verändert hat. Beispielhaft wird das Nebeneinander von zeitlicher und inhaltlicher Perspektive im Klappentext: „Als Erstgespräch in der Sozialen Arbeit wird das erste (sic!) Beratungsgespräch zwischen KlientIn und SozialarbeiterIn oder SozialpädagogIn bezeichnet. Die Anfangsphase (sic!) dieser Zusammenarbeit prägt entscheidend den weiteren Verlauf ihrer Beziehung zueinander.“ Das Gleichsetzen inhaltlicher und zeitlicher Prinzipien führt nicht nur zu sprachlicher Verwirrung. Wie soll man etwa einen Satz verstehen wie „Danach gehen wir auf das Beenden von Erstgesprächen ein, und behandeln hierunter sowohl die Gestaltung einzelner Erstgespräche wie des gesamten Erstgesprächs“ (S. 231)? Sind also Erstgespräche Teile des Erstgesprächs? Kann es gar sein, dass die (einzelnen) Erstgespräche zwar beendet sind, aber das (gesamte) Erstgespräch noch andauert? Täte man sich nicht leichter, wenn man für die Phase (erste Gespräche bis zum Abschluss eines Arbeitskontraktes) die Phase auch als solche benennen würde (z. B. Eingangsphase oder Anfangsphase) und „Erstgespräch“ wirklich für die ersten Gespräche in einem neu beginnenden Beratungssetting verwenden würde? Dann wäre auch klar, dass in die Eingangsphase sehr wohl eine strukturierte Diagnostik gehört, in das erste Gespräch wohl eher nicht.
Ein Verdienst der vorliegenden Auflage zum Schluss: Mit der klaren (handlungs-) wissenschaftlichen Ausrichtung hat die Auflage Mängel beseitigt, über die der Freund früherer Auflagen hinweglesen musste, so beispielsweise die offenkundige Abneigung des Erstautors gegen Standardisierungen und strukturiertes Vorgehen. Die Stellen, in denen er seine eigene Struktur fast schon wieder der Beliebigkeit preisgibt, sie als „Merkhilfe“ (S. 190 in der 4. Auflage) bezeichnet, an das man sich nicht sklavisch halten könne/müsse (an was muss man sich in der Sozialarbeit schon sklavisch halten …?), wurden dankenswerterweise getilgt und durch eine klares Bekenntnis zur Struktur, zur Evidenz und zur Systematik ersetzt. Dafür gebührt der Zweitautorin ausdrückliches Lob und Anerkennung.
Fazit
Dieses Buch ist und bleibt ein „Muss“ für Ausbildung und Praxis, in seiner empirischen und praxisorientierten Ausrichtung ist es ebenso eine Art „Beichtspiegel“ für erfahrene Berater wie Anleitung und Reflexionshilfe für Studierende und Berufsanfänger. Es ist und bleibt eines meiner Lieblingsfachbücher, das ich jedermann und jederfrau in der Sozialen Arbeit empfehlen möchte.
Rezension von
Prof. Dr. Wolfgang Klug
Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt
Fakultät Soziale Arbeit
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Zitiervorschlag
Wolfgang Klug. Rezension vom 30.01.2015 zu:
Harro Dietrich Kähler, Petra Gregusch: Erstgespräche in der fallbezogenen Sozialen Arbeit. Lambertus Verlag GmbH Marketing und Vertrieb
(Freiburg) 2015. 6., überarbeitete und erweiterte Auflage.
ISBN 978-3-7841-2606-7.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/17681.php, Datum des Zugriffs 03.11.2024.
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