Andrea Hensgen: Praxishandbuch Märchen
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 12.03.2015

Andrea Hensgen: Praxishandbuch Märchen. Hören - Verstehen - Verwandeln. Lambertus Verlag GmbH Marketing und Vertrieb (Freiburg) 2015. 200 Seiten. ISBN 978-3-7841-2690-6. D: 19,00 EUR, A: 19,20 EUR, CH: 28,50 sFr.
Mensch Märchen
„Es ist eine rätselhafte Sache um die menschlichen Leidenschaften, und Kindern geht es damit nicht anders als Erwachsenen. Diejenigen, die davon befallen werden, können sie nicht erklären, und diejenigen, die nichts dergleichen erlebt haben, können sie nicht begreifen“ (Michael Ende, Die unendliche Geschichte. Von A bis Z mit Buchstaben und Bildern versehen von Roswitha Quadflieg, München 1978, S. 11). Märchen sind phantastische Geschichten, bei denen eindeutig zwischen Gut und Böse unterschieden wird, die aus der Phantasie der Menschen entstanden sind und mündlich und schriftlich von Generation zu Generation weitergereicht werden. Märchen kommen in allen Kulturen und zu allen Zeiten vor. Und Märchenerzähler, Männer und Frauen, strahlen, wenn sie ihr Hand(Mund-)werk beherrschen, eine Anziehungs- und Anhörungskraft aus, der sich Menschen, wenn sie empfänglich für Emotionen sind, nicht entziehen können. Der US-amerikanische Psychoanalytiker und Kinderpsychologe Bruno Bettelheim (1903 – 1990) hat sich mit seinem 1976 veröffentlichten Buch „Kinder brauchen Märchen“ dafür eingesetzt, Kindern Märchen vorzulesen, weil in ihnen Eindeutigkeiten zum Ausdruck gebracht und Hoffnungen geweckt werden. Die Entwicklungspsychologin Charlotte Bühler (1893 – 1974) hat in ihrem 1918 erschienenem Buch „Das Märchen und die Fantasie des Kindes“ darauf hingewiesen, dass Struktur und Elemente des Märchens Vorstellungskräfte beim Heranwachsen von Kindern in besonderer Weise fördern. In der Märchenforschung, die in der Literaturwissenschaft und in den Sozialwissenschaften verankert ist, wird immer wieder nach der Bedeutung, den Vorteilen, aber auch den Nachteilen in Märchenerzählungen gefragt.
„Märchen wird es immer geben“, das ist die eine Version; die andere „Märchen waren gestern“. Denn wer hat heute schon Zeit und Muße, Kindern Märchen vorzulesen! Zumal „Fantasy“ allzeit bereit vorliegt, mit Elben, Orks, Zwergen, Hooks, Goblins, Mage Wars Storys, Monsters, Zombies, Ghostes, Aliens und Magiern sehgerecht aufbereitet. Wer sich die Mühe (und das Vergnügen) macht, kleinen Kindern Märchen vorzulesen und dabei erlebt, wie gebannt und aufmerksam sie die geschilderten Ereignisse verfolgen und danach ihre Gedanken und Phantasien sprudeln lassen, wird zum Märchenbuch eine andere Einstellung gewinnen, als zu den medial und spektakulär präsentierten Unterhaltungen. Dabei soll nicht die Kritik an der Medienüberflutung im Vordergrund stehen, die unsere Kinder überschwemmt; vielmehr wird der Blick gerichtet auf die Entwicklungs- und Bildungsmöglichkeiten, die Erzieherinnen und Erzieher mit Märchenbüchern haben. Vorlesen (und lesen) nämlich schaffen Fähigkeiten und Fertigkeiten, die in der Hektik einer aufbereiteten, „business as usual“ – und „Ich-kann-alles-haben-und-das-sofort“ – Mentalität verloren zu gehen droht: Konzentrationskompetenz und Dialogfähigkeit.
Entstehungshintergrund und Autorin
Ausgebildete Erzieherinnen und Erzieher in den Kitas wissen natürlich über die Bedeutung von (Märchen-) Erzählungen für die Entwicklung des Kindes; ebenso GrundschullehrerInnen. Inwieweit auch Erziehungsberechtigte in der Familie und im Verwandtenkreis Bildungs- und Erziehungsaufgaben adäquat wahrnehmen (können), darüber hat ein Autorenteam des Berliner Instituts für Frühpädagogik einige Fragezeichen gesetzt (Petra Völkel / Anne Wihstutz, Hrsg., Erziehungs- und Bildungspartnerschaft im Elementarbereich, 2014, www.socialnet.de/rezensionen/17201.php). Es bedeutet deshalb nicht, „Eulen nach Athen zu tragen“, wenn die Kinderbuchautorin und Fortbildnerin Andrea Hensgen das „Praxishandbuch Märchen“ vorlegt, und zwar für Kita und Grundschule. Dabei fokussiert sie die Aufmerksamkeit auf Märchenerzählungen aus dem Bewusstsein, dass „jedes Kind ( ) an Anregungen aus(schöpft), was sein Empfinden berührt und was sein geistiges Vermögen zu fassen versteht“. Sie sieht in den Beschäftigung mit Märchen und Erzählungen die besondere Chance, dass Kinder in ihrem Reifungsprozess Sprachkompetenz erwerben und gewissermaßen soziale Kompetenzen (nebenbei) erfahren. Sie legt dem Handbuch vier methodisch-didaktische Schritte zugrunde: Übungen zur Sprache – Fragen zum Verständnis – Übungen zum Gestalten – Impulse zum Weiterdenken.
Aufbau und Inhalt
Neben der Einführung, in der die Autorin die Bedeutung der Märchen für die Entwicklung des Kindes diskutiert und die methodischen Schritte für die praktische Arbeit erläutert, werden in sieben weiteren Abschnitten Kompetenzen, Verhaltensweisen und Einstellungen aus dem Alltagserleben der Kinder thematisiert und mit einer Frage versehen. Jeweils zwei Märchen thematisieren die Frageaspekte, denen eine Reihe von ausdifferenzierten Arbeitsanregungen zu den oben genannten vier didaktisch-methodischen Schritten zugeordnet werden:
- Innere und äußere Werte: Warum mag ich meinen Freund? (Märchen: Aschenputtel / Die Prinzessin auf der Erbse).
- Der Mut zur eigenen Meinung: Mache ich, was alle machen? (Des Kaisers neue Kleider / Der Fischer und seine Frau).
- Der Nutzen der Gemeinschaft: Wie soll ich das denn schaffen? (Der Wettlauf zwischen dem Hasen und dem Igel / Die Bremer Stadtmusikanten).
- Vertrauen in die eigenen Stärken: Und wenn Mama und Papa mir nicht helfen? (Hänsel und Gretel / Der kleine Däumling).
- Den Sinn von Verboten verstehen: Und wenn ich mache, was Mama mir verboten hat? (Rotkäppchen / Die sieben Geißlein).
- Der Neid auf den Besitz eines anderen: Und wenn ich will, was mir gar nicht gehört? (Schneewittchen / Goldmarie und Pechmarie).
- Vom Sinn des Wartens: Warum nicht jetzt sofort? (Dornröschen / König Drosselbart).
Fazit
Das Praxishandbuch „Märchen“ ist eine wahre Fundgrube für Erziehungsfachkräfte. Die Autorin hat es vermieden, langatmige theoretische Erklärungen und Analysen zu den didaktischen Bedeutungen von Märchenarbeit zu liefern. Das erscheint nicht als Missachtung der Bedeutsamkeit vom Einklang von Theorie und Praxis in der Bildungs- und Erziehungsarbeit; vielmehr verweist sie in einem ausgewählten Literaturverzeichnis auf eine weiterführende Auseinandersetzung. Weil ein Handbuch per se nicht geschrieben ist, um es Seite für Seite und von Anfang bis zum Ende zu benutzen, sondern die Praktiker in den Kitas und Grundschulen Themen frei auswählen und variieren sollen, dient ein Sachregister am Ende dazu, das Buch kreativ und situationsgerecht zu benutzen.
Das Praxishandbuch ist von einer theoriekompetenten Praktikerin für Praktikerinnen und Praktiker in der familialen und institutionalisierten Früherziehung geschrieben!
Replik: Das (populär-)wissenschaftliche Buch von Charlotte Bühler: „Psychologie im Leben unserer Zeit“ (1962) war in den 1960er Jahren Standardwerk in der Lehrerausbildung. Die „psychologischen Denkschulen“, wie sie vor allem in der Zeit von 1900 bis in die 1940/50er Jahre von Karl Bühler in die Praktische Psychologie eingeführt und in der Aufbruchstimmung des hirnpsychologischen „Machbarkeits“- Denkens eher ad acta gelegt wurden, erfahren im kommunikationswissenschaftlichen Diskurs wieder eine neue Aufmerksamkeit (vgl. dazu: Achim Eschbach, Hrsg., Karl Bühler. Sprache und Denken, 2015, www.socialnet.de/rezensionen/18418.php).
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
Mailformular
Es gibt 1689 Rezensionen von Jos Schnurer.