Kurt Bayertz: Der aufrechte Gang
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 06.11.2014
Kurt Bayertz: Der aufrechte Gang. Eine Geschichte des anthropologischen Denkens. Verlag C.H. Beck (München) 2013. 2. Auflage. 415 Seiten. ISBN 978-3-406-63848-0. 26,95 EUR.
Der aufrechte Gang: Sprungbrett des anthrôpos
Der anthrôpos, der Mensch, ist, so lernen wir bereits seit der griechischen Antike, ist eine „durch seine Zweibeinigkeit charakterisierte Gattung der Lebewesen“. Durch seine Vernunft- und Sprachbegabung habe er Anteil am unvergänglichen und göttlichen Geist. Durch seine aufrechte Körperhaltung stehe er auf der obersten Stufe der scala naturae und nehme dadurch eine Mittelstellung zwischen Gott und Tier ein. Er sei fähig, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden, Allgemeinurteile zu fällen und sittlich zu handeln (S. Föllinger, in: Otfried Höffe, Aristoteles-Lexikon, Kröner-Verlag, Stuttgart 2005, S. 47ff). Soweit zur anthropologischen Bestimmung des Menschseins.
Was ist der Mensch? Diese Frage wird philosophisch, anthropologisch, ethisch, moralisch, biologisch, psychologisch… über die Jahrtausende menschlichen (Nach-)Denkens hinweg immer wieder kongruent und konfrontativ diskutiert und analysiert, und in der neueren Zeit in verstärktem Maße auch neurologisch erforscht. Die Frage, ob der Mensch des Menschen Freund sein könne oder Wolf sein müsse, bestimmt das abendländische Denken. Nicht zuletzt mit der Beantwortung dieser Kontroverse hängt zusammen, welche ethischen und moralischen Einstellungen sich als Lebens- und Verhaltensnormen in einer Gesellschaft entwickeln und gelebt werden sollen (Kurt Bayertz, Warum überhaupt moralisch sein? Verlag C.H.Beck, München 2004, 288 S.). Spätestens seit der von den Vereinten Nationen am 10. Dezember 1948 proklamierten „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“, die als allgemeingültige und nicht relativierbare „globale Ethik“ in das Menschheitsbewusstsein implementiert wurde, wird die „Menschenwürde“ als Fundament eines friedlichen, gerechten und gleichberechtigten Zusammenlebens der Menschen auf der Erde gesetzt: „Die Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnenden Würde und ihrer gleichen und unveräußerlichen Rechte bildet die Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt“ (Deutsche UNESCO-Kommission, Menschenrechte. Internationale Dokumente, Bonn 1981, S. 48ff).
Entstehungshintergrund und Autor
Der aufrechte Gang, als physiologisches Phänomen, wird in der Evolutionstheorie als entscheidende Entwicklungsstufe des anthrôpos hin zum homo sapiens angesehen. Gleichzeitig mit der biologischen Bestimmung wird die physiologische Bedeutung dieser evolutionären Entwicklung hervorgehoben, was sich z. B. in zahlreichen Sprichwörtern und Deutungen zeigt („Wer sichere Schritte tun will, muss sie langsam tun“, Goethe), in Liedern Aufforderungscharakter hat („Wann wir schreiten Seit´ an Seit´“, programmatisches Lied der sozialdemokratischen Arbeiterjugend) und in der Literatur und Kunst in vielfältiger Weise bearbeitet wird; oder zum Ausdruck kommt in Ehrungen, etwa wenn die Humanistische Union den Bürgerrechtspreis „Aufrechter Gang“ auslobt, oder sich Vereine und Bürgerinitiativen den Namen „Aufrechter Gang“ geben.
Der an der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster Praktische Philosophie lehrende Kurt Bayertz stellt fest, dass im Denken der Menschen zwar die Bedeutung des aufrechten Gangs in vielfachen Formen präsent ist; dass aber eine „Geschichte des aufrechten Gangs“ aus anthropologischer und philosophischer Sicht bisher nicht vorliegt. Dies will er mit seinem Buch ändern. Er will damit aufzeigen, welche verschiedenen Interpretationen die Tatsache des menschlichen aufrechten Gangs über die Jahrhunderte hinweg vorgenommen wurden, danach Ausschau halten, wie diese Deutungen in den jeweiligen historischen und kulturellen Zusammenhang gestellt wurden und dadurch die Hauptentwicklungslinien des anthropologischen Denkens aufzeigen.
Aufbau und Inhalt
Das Buch ist in vier Kapitel gegliedert.
Im ersten Teil geht es um „Aufrechte Himmelsbetrachter“, im zweiten um „Verkrümmte Ebenbilder“, um dritten um „Aufrecht kriechende Maschinen“ und im vierten Kapitel um „Freihändige Kulturwesen“. Mit den phraseologischen Benennungen wird schon angedeutet, wie sich Philosophen, Menschen- und Lebensdeuter den Menschen vorgestellt, eingeschätzt und klassifiziert haben, etwa wenn der römische Dichter Ovid in den Metamorphosen über die Entstehung der Welt nachdenkt und als ein Merkmal des Herausgehobenseins des Menschen im Kosmos mit seinem aufrechten Gang erklärt. Auch wenn diese Zuschreibung durch die „Thales-Anekdote“ persifliert wird, die erzählt, dass der griechische Philosoph Thales so intensiv und selbstvergessen auf die Geheimnisse über ihn schaute, dass er dabei die alltäglichen und wirklichen Dinge vernachlässigte und in einen Brunnen fiel, betrachten die Aristoteliker doch die Suche nach dem Menschsein als eine entscheidende, humane Herausforderung: „Aber das eigentliche Wesen des Menschen und was ihm demgemäß im Unterschied von den anderen zu tun oder zu leiden zukommt, das ist es, wonach er sucht und unermüdlich forscht“. Die Reflexionen über die evolutionären und emanzipatorischen Gründe, weshalb der aufrechten, zweibeinigen, körperlichen Haltung des Menschen auch ein geistiges Emporkommen ebenbürdig ist, baut der Autor mit einem Gang durch das philosophische Denken in der Antike auf und ordnet den „aufrechte(n) Gang… als ein verbindliches kosmisches Zeichen (ein), das dem Gemeinwesen nicht anders als dem Individuum seine angemessene Strebensrichtung vorgibt.“.
Im zweiten Teil werden diese Überlegungen aus dem Denken in der Antike weitergeführt in den Betrachtungen über religiöse Schöpfungsmythen und Weltanschauungen. Durch die Aufrichtungen der Götter über den (gebeugten) Menschen lassen den anthrôpos nur allmählich, zögerlich und zugleich im hierarchischen Bewusstsein empor kommen und ihn „krümmen“ vor der Allmacht Gottes und der Katastrophe des Sündenfalls. Dass bei diesem, unveränderlichen Denken diejenigen, die über die Denk- und Ideologiemauern hinausschauen wollten, größte Schwierigkeiten hatten und als Ketzer auf den Scheiterhaufen landeten, zeigt die Geschichte; und die „Krümmung“ des guten Menschen wird erst aufgehoben im Jenseits mit dem Konzilsbeschluss aus dem 6. Jahrhundert: „Wir werden ewig aufrecht gehen“.
Das dritte Kapitel verweist auf den Perspektivenwechsel, der sich im Zeitalter der Aufklärung und Technik abzeichnete. Die aufrechte Haltung des Menschen ist nicht abhängig von Vorrichtungen und Sicherungen, die für leblose Dinge (Maschinen) notwendig sind, um der Gravitationskraft widerstehen zu können. Der Mensch verfügt aus eigener Kraft über seine Körperhaltung. Das Aufbegehren gegen die göttliche Ordnung und Selbstverständlichkeit, etwa, wenn der Florentiner Humanist und Politiker Giannozzo Manetti (1396 – 1459) in seiner Schrift „Über die Würde und Erhabenheit des Menschen“ gegen den Stachel der „reinen“ Lehre löckt, wenn er ausführt, dass die Mittelpunktstellung des Menschen ihm erlaube und sogar gebiete, sich und die Welt zu verändern (und untertan zu machen). Diesen Positionen stehen selbstverständlich auch andere, kontingente Auffassungen, Theorien und Dogmen gegenüber, z. B. Experimente mit der Mechanik, oder die naturwissenschaftlichen Untersuchungen über die Anatomie von Zweibeinigkeit, die zumindest Zweifel am Alleinstellungsmerkmal des aufrecht gehenden Menschen aufkommen ließen. Der französische Aufklärer Voltaire ( 1694 – 1778) stellt den Zeitgenossen in seiner zynischen, auf deren Verstand spekulierenden Weise den Menschen mit folgender Definition vor: „Der Mensch ist ein schwarzes Tier, das Wolle auf dem Kopf hat, fast so geschickt wie ein Affe auf zwei Pfoten geht, weniger stark ist die übrigen Tiere seiner Größe, ein wenig mehr Ideen hat als sie und mehr Fähigkeit, sie auszudrücken…“. Mit Johann Gottfried Herder (1744 – 1803) erreicht das philosophische, klassische Nachdenken über die körperliche und seelisch-geistige Haltung des Menschen den „archimedische(n) Punkt, aus dem heraus die Humanität des Menschen vollständig erklärt werden kann und muss“. Diese Programmatik war natürlich nicht unumstritten, bis schließlich mit Charles Darwins Evolutionstheorie eine gewisse Ordnungssicherheit bei der Betrachtung der Bedeutung des menschlichen aufrechten Gangs eintrat.
Im vierten Teil kommen die Aspekte in stärkerem Maße ins Spiel, bei denen deutlich wird, dass Menschen ihre Existenz dadurch sichern, „dass sie sich eine eigene Welt schaffen: eine ihren Bedürfnissen angepasste Gesellschaft und Kultur“. Dabei gewinnt der Begriff „freihändig“ eine ambivalente Bedeutung. Zum einen sind es die (scheinbar) absoluten Werkzeuge, mit denen sich der Mensch ausstattet, um die Welt für sich „zuzurichten“, zum anderen verliert er seine Unschuld dadurch, dass er mit seinen Geist, seinen Händen und seinen Werkzeugen all das machen will, was er zu können glaubt. Aber siehe da: Die aufrechte Körperhaltung des Menschen wird in den Hierarchien und Ordnungssystemen der Welt zum Statussymbol. Vor dem aufrecht Übergeordneten beugt sich der Untergeordnete. Es dauert (bis heute an), bis sich, wie es in einem Lied heißt, das Mary Roos beim Eurovision Song Contest 1984 sang, ereignen kann: „…doch du wirst sehn / jetzt werde ich erst recht – / Aufrecht gehn“.
Fazit
Die Geschichte vom aufrechten Gang (des Menschen) aus anthropologischer Sicht wird zur Geschichte des anthropologischen Denkens. Kurt Bayertz legt eine spannende, interdisziplinäre, alltagsfähige und intellektuell anspruchsvolle Betrachtung über die Tatsache vor, dass der Mensch mit seinem aufrechten Gang mehr ist als ein anderes Tier auf zwei Beinen. Dabei begibt er sich zum Glück nicht auf die gefährlichen, ideologischen und fundamentalistischen Gleise eines „allmächtigen“ Menschseins, sondern bleibt auf der Straße des „Natürlichen“. Damit zeigt er Perspektiven auf, die die Fähigkeit des aufrecht Gehens des Menschen nicht nur als physische, körperliche Fähigkeit notiert, sondern insbesondere als evolutions- und geistesgeschichtliche Entwicklung – und damit auch als Herausforderung – präsentiert!
Die Geschichte des anthropologischen Denkens ist es wert, auf den baldigen Weihnachtsgabentisch für Menschen zu legen, die über sich, ihr Dasein und ihre Verantwortung für ein gutes, gelingendes Leben für alle Menschen auf der Erde nachdenken! Als Ergänzung könnte man sich vorstellen, das „Mensch-in-der-Welt-sein“ nicht mehr (nur) anthropisch, sondern (auch) mundan zu begreifen und mit der Welthaftigkeit der menschlichen Existenz eine weitere Konkretionsform hinzuzufügen (Wolfgang Welsch, Homo mundanus. Jenseits der anthropischen Denkform der Moderne, 2012, www.socialnet.de/rezensionen/14323.php).
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 06.11.2014 zu:
Kurt Bayertz: Der aufrechte Gang. Eine Geschichte des anthropologischen Denkens. Verlag C.H. Beck
(München) 2013. 2. Auflage.
ISBN 978-3-406-63848-0.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/17706.php, Datum des Zugriffs 08.09.2024.
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