Daniel Kahneman, Thorsten [Übers.] Schmidt: Schnelles Denken, langsames Denken
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 11.11.2014
![Werk bestellen Cover Daniel Kahneman, Thorsten [Übers.] Schmidt: Schnelles Denken, langsames Denken ISBN 978-3-88680-886-1](/images/rezensionen/cover/17709.jpg)
Daniel Kahneman, Thorsten [Übers.] Schmidt: Schnelles Denken, langsames Denken. Siedler Verlag (München) 2012. 621 Seiten. ISBN 978-3-88680-886-1. 26,99 EUR.
Thema
„Die meisten Eindrücke und Gedanken tauchen in unserem Bewusstsein auf, ohne dass wir wüssten, wie sie dorthin gelangten“, diese eher als unspezifisch und schwammig anmutende Aussage könnte man als Sprech abtun, würde sie nicht ein Zipfelchen eines Denkprozesses erkennen lassen, der sich damit befasst, Fehler in unserem intuitiven Denken auf die Spur zu kommen. Von der Antike an, und sicherlich schon vorher und über alle Zeiten hinweg, haben Menschen darüber nachgedacht, wie die intellektuelle Erkenntnistätigkeit, das Denken, als dianoia, Verstand, zustande kommt, der den anthrôpos vom zôon, dem Tier, unterscheidet und ihn auf die oberste Stufe der scala naturae stellt (Otfried Höffe, Aristoteles-Lexikon, Stuttgart 2005, 640 S.). Denn es ist die Fähigkeit, Gutes von Bösem zu unterscheiden und eine eigene, rationale Entscheidung treffen zu können, die uns zu Menschen macht. Es ist das intuitive Denken, das in den Wissenschaften bewusst angewandt wird und im Alltag oftmals eher unbewusst abläuft. Warum das aber so ist, darüber wird intellektuell viel nachgedacht und mit traditionellen Methoden und modernen Konzepten geforscht.
Entstehungshintergrund und Autor
Es sind nicht nur die Philosophen, sondern auch die Anthropologen, Psychologen, Neurologen, Pädagogen - und Ökonomen, die darüber nachdenken, welche Bedeutung die Intuition im menschlichen Bewusstsein hat. Die Aufmerksamkeit und das Erstaunen der Welt besonders auf Denkvorgänge, die aus den ökonomischen Forschungen entstanden sind, zeigte sich insbesondere dadurch, dass im November 2009die US-amerikanische Wirtschaftswissenschaftlerin Elinor Ostrom für ihr Konzept des „Gemeingut-Denkens“ den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften erhielt (Elinor Ostrom, Was mehr wird, wenn wir teilen. Vom gesellschaftlichen Wert der Gemeingüter, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/11224.php). Zwar nicht erst dadurch, aber wohl in besonderem Maße, erhielt im individuellen und gesellschaftlichen, öffentlichen und politischen Leben die Frage nach der Bedeutung von Philosophie, Psychologie und Soziologie beim ökonomischen Denken und Handeln einen bedeutsamen Stellenwert.
Bereits 2002 wurde der israelisch-US-amerikanische Psychologe und Hochschullehrer Daniel Kahneman, zusammen mit seinem Kollegen Vernon L. Smith mit den Wirtschafts-Nobelpreis ausgezeichnet. Kahnemans „Prospect Theory“, die er zusammen mit Amos Tversky entwickelte, erklärt, wie Entscheidungsfindungen in Situationen der Unsicherheit und bei Risiken zustande kommen. Die ökonomische Entscheidungstheorie wird insbesondere in der Verhaltensökonomik angewandt. Kahneman publizierte seine Gedanken dazu in der amerikanischen Originalausgabe „Thinking, fast and slow“, 2011. Der Pantheon-Verlag in der Verlagsgruppe Random House FSC bringt das Buch als Paperback in der siebten Auflage nun 2014 neu heraus.
Aufbau und Inhalt
Die intellektuellen, emotionalen, mentalen, bewussten und unbewussten Denkprozesse unterliegen Phänomenen, die sich, nach Kahneman, in zwei unterschiedlichen Kategorien und Denksystemen darstellen lassen: Intuitives und bewusstes Denken. Die neueren, neurologischen und psychologischen Forschungsergebnisse zeigen, „dass das intuitive System einflussreicher ist, als dies nach unserem subjektivem Erleben der Fall zu sein scheint“, also gewissermaßen als geheimer Urheber von vielen Entscheidungen und Urteilen gelten kann. Neben der Einleitung, in der der Autor eine kurze Bestandsaufnahme der Erkenntnisse über unser Denken vornimmt, wird das Buch in fünf Kapitel gegliedert: Im ersten Teil werden „Zwei Systeme“ vorgestellt und diskutiert; im zweiten geht es um „Heuristiken und kognitive Verzerrungen“, im dritten um „Selbstüberschätzung“, im vierten um „Entscheidungen“, und im fünften Kapitel um „Zwei Selbste“.
Im ersten Teil konfrontiert der Autor den Leser mit zwei Seh- und Denkaufgaben. Die erste Frage bezieht sich auf ein SW-Foto, auf dem eine sichtlich wütende Frau abgebildet ist. Welche Reaktionen vollziehen sich bei der Betrachtung des Bildes? Die zweite Aufgabe besteht darin, eine Multiplikationsaufgabe zu lösen. Die beiden Aufgaben sollen den Unterschied zwischen schnellem und langsamem Denken deutlich machen. Die Zusammenhänge und Unterschiede werden in den folgenden Ausführungen dargelegt. Es sind Konflikte, die bewusst und unbewusst auftreten, Gewissheiten und Ungewissheiten, Fiktionen, Sicherheiten und Illusionen. Es melden sich Bedenken und Aufmerksamkeit, und es zeigen sich Anreize, Anstrengung, Herausforderungen und Kontrollmechanismen. Es werden Vorstellungsbegriffe thematisiert, die zu ganz bestimmten, unbewussten Reaktionen führen, eine „kognitive Leichtigkeit“ veranlassen, Normverhalten herausfordern, Zweifel erzeugen, Kritik bewirken, Routine in Gang bringen und zu voreiligen Schlussfolgerungen führen. Die Reaktionen auf die vielfältigen, beispielhaften Aufgaben und Überlegungen lassen sich als „langsames Denken“, wie auch als „schnelles Denken“ identifizieren. Der Autor benennt diese als System I und II. Lösungsmöglichkeiten darüber, wie intuitive Meinungen über komplexe Sachverhalte aussehen könnten, werden jeweils im Anschluss an die Unterkapitel in Merkmallisten zusammengefasst, die den Überblick erleichtern und die mentalen Ereignisse deutlich machen.
Im zweiten Kapitel wird die Frage aufgeworfen, warum es so schwierig ist, statistisch zu denken, im Gegensatz zu assoziativem oder metaphorischem Denken. Es geht um „Heuristiken“, also um die Fähigkeiten, mit begrenztem Wissen und unvollständigen Informationen zu Lösungen zu kommen, die mehr sind als Zufälligkeiten. Mit der Urteilsheuristik kann es gelingen, gesicherte Meinungen auszudrücken und Entscheidungen zu treffen. Die Elemente und Wirkungsweisen bei der Verfügbarkeitsheuristik, der Repräsentativitätsheuristik und der Ankerheuristik werden in Fallbeispielen und Denkaufgaben präsentiert.
Im dritten Kapitel geht es ans Eingemachte: Es wäre ja schon viel gewonnen, würde wenigstens unser Denken von dem radikalen „Ich weiß, dass ich nichts weiß!“ abgemildert durch die Erkenntnis „Ich weiß, dass ich nicht alles weiß!“. Aber unsere Unfähigkeit, das ganze Ausmaß unseres Unwissens und unserer Unfähigkeit, unser ungeklärtes und unwissendes Verhältnis zwischen Natur und Entwicklung einzugestehen, führt eben dazu, unsere Möglichkeiten und uns selbst zu überschätzen. Die zaghafte und eher in der Realität beiseite gestellte Frage, ob der Mensch alles machen darf, was er zu können glaubt, zeigt in aller Deutlichkeit, dass wir einer Illusion unseres Verstehens unterliegen. Dabei verlassen wir uns auf scheinbar sicheres Expertenwissen, auf die Wahrhaftigkeit von institutionellem Wissen, Formeln und Daten und dem selbstverschuldeten Ausgeliefertseins von unhinterfragten und ehernen Gewissheiten.
Im vierten Kapitel wird die Frage nach den Automatismen und Zwängen, in den verschiedenen Lebenssituationen und im ökonomischen Handeln Entscheidungen zu treffen, zuerst mit dem Stickum „Irrtümer“ belegt. Als Lösung aus dem Dilemma wird vom Autor die „Prospekt Theory“ als „Neue Erwartungstheorie“ eingeführt, mit der Zwänge und Selbstverständlichkeiten auf die Probe und in Frage gestellt werden. Es sind Fragen, wie rationale und irrationale Entscheidungen zustande kommen, und wie zu bewerten sind, dass dabei das ökonomische Handeln im rationalen Bewusstsein vorgenommen wird. Es geht darum, Wahrscheinlichkeiten zu verändern und Risikostrategien zu entwickeln, und Umkehrungen und Umdenken zu ermöglichen.
Das fünfte Kapitel handelt von den „Selbsten“, nämlich dem erlebten und dem erinnernden Selbst. Dabei wird die Bedeutung und Erfahrungen von Erinnerungen im menschlichen Dasein diskutiert und psychologisch nach dem Wert des Gedächtnisses in jeweiligen individuellen, kulturellen und gesellschaftlichen Zusammenhängen gefragt. Hier gewinnt eine Eigenschaft Bedeutung, die als „erlebtes Wohlbefinden“ bezeichnet wird und auf der uralten Vorstellung vom guten, befriedigenden Leben beruht: Lebenszufriedenheit. „Die Ziele, die sich Menschen für sich selbst setzen, sind so wichtig für das, was sie tun, und wie sie es gefühlsmäßig erleben“. Die Anklänge an die im Zusammenhang mit den Glücksvorstellungen, -empfinden und -erwartungen diskutierten Erkenntnissen sind dabei deutlich.
Als Anhang werden zwei Aufsätze abgedruckt, die Daniel Kahneman zusammen mit Amos Tversky (1937 – 1996) geschrieben hat und in denen die Grundlagen der „Prospect Theory“ gelegt wurden, die schließlich zur Verleihung des Nobelpreises für Wirtschaftswissenschaften an Daniel Kahneman (2002) geführt haben: „Urteile unter Unsicherheit: Heuristiken und kognitive Verzerrungen“ (1974) und „Entscheidungen, Werte und Frames“ (1984).
Fazit
Die auf den zwei (Denk-)Systemen des intuitiven, schnellen und des rationalen, langsamen Denkens beruhenden, psychologischen Theoriebildungen über Verzerrungen und Fehler in unserem intuitiven Denken, das (mehrheitlich) unser Denken und Handeln bestimmt, dürfen nicht als ein Manko und als Herabsetzung des menschlichen Intellekts verstanden werden; vielmehr bedarf es eines Verständnisses und Bewusstseins darüber, wie Urteile und Entscheidungsprozesse im individuellen und gesellschaftlichen Handeln zustande kommen. Dass dabei ökonomische Entscheidungen einer besonderen Beachtung verdienen, ergibt sich schon daraus, dass der homo oeconomicus lokal und global nach wie vor virulent ist. Erst wenn es gelingt, die vielfältigen Entscheidungen, die unser alltägliches wie kollektives Leben erforderlich machen, einer konstruktiven Kritik zu unterziehen und sie mit einer differenzierten Sprache zu benennen, können präventive Maßnahmen gegen Fehlentscheidungen vorgenommen werden; und zwar im Vertrauen darauf, dass eine „Entscheidung danach beurteilt wird, wie sie zustande kam, und nicht nur danach, was dabei herauskam“.
Das Buch des Nobelpreisträgers Daniel Kahneman ist im echten Sinne ein „Denk-Lehr-Buch“. Die zahlreichen (Fall-)Beispiele und Denkaufgaben, wie auch die jedem Teil und Unterkapitel zum Schluss angehängten, alltagstauglichen und praxis- und theoriebestimmten Zitate und Erläuterungen, verpflichten die Leser immer wieder zum Selbstdenken, als eine Herausforderung, die als ein Mittel gegen den Momentanismus der Existenz „agonales Denken“ bezeichnet wird (Karl Heinz Bohrer, Selbstdenker und Systemdenker. Über agonales Denken, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/12903.php). So kann ohne Einschränkungen empfohlen werden, dass Studierende der Sozial-, Kultur- und Wirtschaftswissenschaften das Buch in die Hand nehmen, dass ökonomische Entscheider und Manager es sich zu Gemüte führen, und dass sich Politiker und in der Gesellschaft Agierende mit den Überlegungen zum langsamen und schnellen Denken auseinander setzen.
Die umfangreiche Quellenliteratur und das Sachregister tragen dazu bei, die nicht leichte Lektüre erkenntnisleitend und gewinnbringend für individuelles und kollektives Denken und Handeln fruchtbar werden zu lassen.
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
Mailformular
Es gibt 1689 Rezensionen von Jos Schnurer.