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Frank Häßler, Wolfram Kinze et al. (Hrsg.): Praxishandbuch Forensische Psychiatrie

Rezensiert von Dr. phil. Gernot Hahn, 10.04.2015

Cover Frank Häßler, Wolfram Kinze et al. (Hrsg.): Praxishandbuch Forensische Psychiatrie ISBN 978-3-95466-130-5

Frank Häßler, Wolfram Kinze, Norbert Nedopil (Hrsg.): Praxishandbuch Forensische Psychiatrie. Grundlagen, Begutachtung, Interventionen im Erwachsenen-, Jugendlichen- und Kindesalter. MWV Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft (Berlin) 2014. 2., Auflage. 850 Seiten. ISBN 978-3-95466-130-5. D: 159,95 EUR, A: 164,40 EUR, CH: 189,00 sFr.

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Thema

Auf über 840 Seiten bietet das Praxishandbuch in zweiter Auflage in 80 Beiträgen ein umfassendes Nachschlagewerk zu allen Belangen forensischer Psychiatrie, ethischen und historischen Aspekten, den Grundlagen des Fachs, Fragen der Begutachtung und Behandlung. Neben strafrechtlichen Aspekten werden sozial-, familien- und zivilrechtliche Fragestellungen angesprochen, in einer durchgängigen Perspektive auf das Kindes-, Jugendlichen- und Erwachsenenalter.

Herausgeber und Autoren

Die Herausgeber des Bandes arbeiten als Klinikdirektor der Universitätsklinik für Psychiatrie, Neurologie, Psychosomatik und Psychotherapie im Kindes- und Jugendalter in Rostock (Frank Häßler), Leiter der Abteilung für Forensische Psychiatrie an der Psychiatrischen Klinik und Poliklinik der Ludwig-Maximilians-Universität München (Norbert Nedopil) und -bis zu seinem Ruhestand im Jahr 2007- als Chefarzt der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik und Ärztlicher Direktor des Asklepios Fachklinikums in Lübben.

Die einzelnen Fachbeiträge des Bandes wurden von 48 namhaften Experten aus Forensischer Psychiatrie, Kinder- und Jugendpsychiatrie, Medizingeschichte, Sexualmedizin und Justiz verfasst.

Aufbau

Der 2,5 kg schwere Band ist in zwei Abschnitte unterteilt.

  1. Unter der Überschrift „Basiswissen“ werde zunächst die historische Dimension der Forensischen Psychiatrie, der Kinder- und Jugendpsychiatrie und des Jugendstrafrechts, ethische Aspekte der Kinder- und Jugendforensik und umfassende Grundsätze zur forensisch-psychiatrischen Begutachtung erörtert.
  2. Der Abschnitt „Praxiswissen“ umfasst grundlegende Überlegungen zur strafrechtlichen Verantwortlichkeit, geht auf spezielle Deliktgruppen und Tätertypologien ein, beschreibt unterschiedliche Behandlungsoptionen, Aspekte der kriminalprognostischen Einschätzung, sozial- und familienrechtliche Aspekte, den Themenbereich der Geschlechtsidentitätsstörungen und Transsexualität, beinhaltet einen Abschnitt zu Unterbringungsverfahren, Überlegungen zur Begutachtung der Glaubhaftigkeit von Aussagen, sowie abschließend einen Abschnitt zu internationalen Perspektiven der Jugend- und Erwachsenenforensik.

Zu Abschnitt I: Basiswissen

Das in diesem Abschnitt zusammengefasste Basiswissen wird in drei Unterabschnitten zur „Vorgeschichte“, „Grundsätzen für Gutachten und Gutachter“ und zu „Erwartungen und Anforderungen“ im Jugendstrafverfahren präsentiert. Die Beiträge geben einen Überblick zur Geschichte der Forensischen Psychiatrie, insbesondere zur Forensischen Kinder- und Jugendpsychiatrie und gehen auf ethische Aspekte der Kinder- und Jugendforensik ein. Der Bedeutung sachverständiger Gutachten (und Gutachter) im Strafverfahren wird in acht Unterkapiteln nachgegangen, bevor diese Aspekte im folgenden Abschnitt aus juristischer Perspektive und mit Überlegungen zur besonderen Situation jugendlicher Straftäter vertieft werden.

Zu Abschnitt II. Praxiswissen

Der zweite Abschnitt führt zunächst in die Grundlagen der strafrechtlichen Verantwortlichkeit kein, streift die Aspekte Reife und Entwicklungsstand bzw. Reifebeurteilung, benennt die empirischen Erkenntnisse zur Kinder- und Jugenddelinquenz, Grundsätze des Jugendstrafrechts, erörtert die forensische Relevanz psychiatrisch-psychologischer Diagnosen in Strafverfahren und geht auf die besonderen Belange heranwachsender Straftäter und die spezifischen Merkmale bei Angeklagten mit Migrationshintergrund ein.

Darauf aufbauend werden im folgenden Unterabschnitt Aspekte der strafrechtlichen Verantwortlichkeit mit Bezug auf spezielle Delikte bzw. Deliktgruppen ausformuliert. Die Einzelbeiträge gehen auf Diebstahlsdelikte, Gewalt- und Tötungsdelikte, den Bereich der Sexualdelinquenz, Brandstiftung, Kfz-Delikte, Formen polytroper Kriminalität und Straftaten die in Verbindung mit Suchtmitteln begangen werden ein. Die Autoren geben hier nach einem genormten Raster, fast im lexikalischen Stil, einen Überblick zur Rechtsnorm, Definition, Epidemiologie, Tat- und Tätertypologien und Forensischen Besonderheiten der genannten Deliktgruppen, wobei fachübergreifend auf alle Altersstufen und die damit verbundenen Besonderheiten eingegangen wird.

Der folgende Abschnitt geht auf unterschiedliche Störungsbilder und deren Forensische Relevanz ein. Der zwölf Kapitel umfassende Unterabschnitt beschreibt organisch bedingte Störungen, Abhängigkeitserkrankungen, schizophrene Psychosen, affektive Störungen, neurotische und Belastungsstörungen, Intelligenzminderung, Entwicklungsstörungen, hyperkinetische Störungen, sowie Störungen des Sozialverhaltens und deren jeweilige forensische Relevanz.

In einem eigenen Unterkapitel wird der Frage nach Ursachenkomplexen im Zusammenhang mit der Delinquenzentstehung nachgegangen. In zwei Beiträgen werden soziologische, kriminologische, psychologische und neurobiologische Erklärungsansätze zur Delinquenzgenese erörtert und wird auf die Besonderheiten in der Gruppe der Intensiv- und Serientäter eingegangen.

Drei Einzelbeiträge gehen im Abschnitt „Spezialisierte Behandlung von Straftätern“ auf die Interventionsmöglichkeiten der Therapie straffällig gewordener psychisch kranker Menschen ein. Die Texte zur Behandlung im Erwachsenen- und Jugendmaßregelvollzug und zur Therapie bei Sexualdelinquenz präsentieren den state of the art in den jeweiligen Feldern und verschaffen jeweils einen umfassenden Überblick zur jeweiligen Thematik.

Dem in der Forensischen Psychiatrie herausragenden Themenbereich der Kriminalprognostik ist der nächste Abschnitt gewidmet. Vier Einzelbeiträge befassen sich mit den Grundlagen kriminalprognostischer Bewertung, deren Methoden, den besonderen Aspekten der Behandlungsprognostik und Fragestellungen bei Lockerungsentscheidungen (Erprobung im Behandlungssetting, Entlassung aus der stationären Unterbringung) im Erwachsenenmaßregelvollzug.

Neu aufgenommen wurden zwei Beiträge zur Sicherungserwahrung und zur Überwachung mittels der elektroinschen Fußfessel, welche in der neuen Auflage des Handbuchs in einem Abschnitt „Neue Formen der Sicherung“ zusammengefasst wurden und die rechtlichen, sowie formalen Bedingungen und den Nutzen dieser Sicherungsformen erörtern.

Ebenfalls neu aufgenommen findet sich in der 2. Auflage des Praxishandbuchs ein Abschnitt zu psychisch kranken Straftätern im Regelvollzug. Zwei Beiträge gehen auf die Aspekte der psychischen Gesundheit Jugendlicher und Heranwachsender im Regelvollzug und auf psychisch kranke Erwachsene im Regelstrafvollzug ein, benennen die empidemiologischen Grundlagen, Wirkfaktoren der Haftsituation und spezielle Gefährdungsmomente in verschiedenen Vollzugsformen.

In drei weiteren Unterabschnitten werden Fragestellungen der Sozialrechtlichen Begutachtung, der Begutachtung im Familienrecht und im Zusammenhang mit der Begutachtung bei Transsexualität/Störung der Geschlechtsidentität erörtert. Die 15 Kapitel gehen auf die besonderen Anforderungen der Begutachtung ein. Dabei stehen die rechtlichen Rahmenbedingungen und die besonderen Fragestellung bei der ärztlichen Begutachtung bei Behinderung, bei Pflegebedürftigkeit, Eingliederungshilfe, Opferentschädigung und in der Frühförderung, sowie Problemstellungen im Sorge- und Umgangsrecht, Betreuung und Vormundschaft, sowie im Unterbringungsverfahren und die besonderen Aspekte und Probleme in der Anwendung des Transsexuellengesetzes im Mittelpunkt.

Im letzten auf die deutsche Rechtspraxis bezogenen Abschnitt werden Fragestellungen der Glaubhaftigkeitsbegutachtung erörtert. Die hier versammelten sechs Kapitel benennen die juristischen Rahmenbedingungen, die Stellung der Gutachter im Gerichtsverfahren, Methoden der Glaubhaftigkeitsbeurteilung, Durchführung der Begutachtung, sowie Formulierung und Gestaltung des Gutachtens.

Der letzte Abschnitt des Handbuchs eröffnet eine internationale Perspektive und fragt nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen Jugend- und Erwachsenenforensik im internationalen Vergleich. In fünf Kapiteln erschließen sich die juristischen und formalen Besonderheiten in Österreich, der Schweiz und in Polen, sowie eine Systematik zur Begutachtung der Schuldfähigkeit und Kriminalprognose im deutschen Strafrecht.

Zielgruppe

Das Praxishandbuch verfolgt einen fachübergreifenden, auf alle Altersgruppen bezogenen delikt- und störungsspezifischen Ansatz und spricht damit das gesamte Fachpersonal in den Bereichen Kinder- und Jugendpsychiatrie, Allgemeinpsychiatrie, Forensische Psychiatrie, aber auch in Arbeitsfeldern des Allgemeinen Sozial- und Gesundheitsdienstes und des (Jugend-)strafvollzugs und in der Justiz an. Die ausführliche Darstellung gutachterlicher Fragestellungen zielt auf die in den genannten Bereichen tätigen medizinischen und psychologischen Gutachter. Als Praxishandbuch wenden sich die Herausgeber ebenfalls an Studierende der genannten Fachgebiete.

Diskussion

Das Vorhaben alle relevanten Aspekte der Forensischen Psychiatrie in einem Handbuchband zu publizieren ist anspruchsvoll. Dabei die Besonderheiten und Unterschiede bei Kindern und Jugendlichen, bzw. Erwachsenen angemessen darzustellen erscheint als fast unlösbare Aufgabe. Den Herausgebern des Praxishandbuchs Forensische Psychiatrie ist beides gelungen. Durch eine einheitliche Struktur werden alle Aspekte in Diagnostik, Therapie und forensischer Begutachtung für diese Zielgruppen erfasst und übersichtlich dargestellt. In der zweiten Auflage wurden dafür entsprechende Erweiterungen vorgenommen (der Band umfasst jetzt über 840 Seiten), neue Kapitel zu Sexualstraftaten und sexualdelinquent gewordenen Menschen, Substanzmissbrauch, psychisch kranken Menschen im Regelvollzug und zu Behandlungsformen im Maßregelvollzug aufgenommen.

Die einzelnen Kapitel wurden für die aktuelle Auflage entsprechend an den neuen Kenntnisstand überarbeitet und angepasst, die Zahl der beteiligten FachautorInnen hat sich dabei erheblich erhöht. Wie bereits in der Erstauflage wird die gesamte Bandbreite der Forensischen Psychiatrie des Kindes-, Jugend- und Erwachsenenalters fachlich kompetent und mit einem erstaunlichen Praxisbezug dargestellt wird.

Die klare Gliederung des Praxishandbuchs in einen Grundlagen- und Praxisteil, sowie die Untergliederung weiterer Unterabschnitte (z. B. mit störungsspezifischer und deliktorientierter Ausrichtung) erlauben eine rasche Orientierung, was durch das im Anhang verfügbare Stichwortverzeichnis zusätzlich unterstützt wird. Der aus der Erstauflage übernommene Aufbau des Handbuchs in einen Grundlagen- und Praxisteil erlaubt eine rasche Orientierung, führt in Grundlagenfragen ein und vertieft entsprechende Praxisgebiete.

Der auch in der zweiten Auflage konsequent umgesetzte fach- und altersübergreifende Ansatz erschließt die Bereiche der (Forensischen) Kinder- und Jugendpsychiatrie und Forensischen Erwachsenenpsychiatrie und ermöglicht so die Entwicklung einer gemeinsamen Perspektive moderner Forensischer Wissenschaft. Mit einem Umfang von über 840 Seiten kommt das Werk an die Grenzen der Lesbarkeit.

Das gewichtige Werk erweist sich, trotz klarer Gliederung im Aufbau, schon aus Gewichtsgründen als schwer erfassbar. Die Verlagspraxis, bereits nach relativ kurzer Laufzeit der Vorauflage eine im Preis nochmals verteuerte Neuauflage in Printform zu publizieren ist nachvollziehbar, jedoch wenig kundenfreundlich. Wünschenswert wäre hier eine günstige Onlineversion des Handbuchs, was entsprechende Ressourcen schonen würde. Unabhängig von der Publikationsform bietet das Praxishandbuch ein umfassendes Nachschlagewerk, das in der forensisch-psychiatrischen Praxis zuverlässige und höchst kompetente Informationen vermittelt.

Fazit

Ein Muss für alle in der Forensischen Begutachtung und Behandlung Tätigen Berufsgruppen. Spätestens mit der zweiten Auflage hat das Praxishandbuch Forensische Psychiatrie den Rang eines Standardwerks gewonnen. Unverzichtbar in der täglichen Arbeit mit psychisch erkrankten, straffällig gewordenen Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen.

Rezension von
Dr. phil. Gernot Hahn
Diplom Sozialpädagoge (Univ.), Diplom Sozialtherapeut
Leiter der Forensischen Ambulanz der Klinik für Forensische Psychiatrie Erlangen
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Es gibt 180 Rezensionen von Gernot Hahn.

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ISSN 2190-9245