Gerhard Roth, Nicole Strüber: Wie das Gehirn die Seele macht
Rezensiert von Elisabeth Vanderheiden, 14.04.2015

Gerhard Roth, Nicole Strüber: Wie das Gehirn die Seele macht. Klett-Cotta Verlag (Stuttgart) 2014. 400 Seiten. ISBN 978-3-608-94805-9. D: 22,95 EUR, A: 23,60 EUR, CH: 32,90 sFr.
Thema
Roth und Strüber gehen in ihrem Buch der Frage nach dem Zusammenhang und dem Zusammenwirken von Seele und Gehirn aus neurowissenschaftlicher Perspektive nach. So geben sie etwa Antworten darauf,
- wo im Gehirn die Seele zu verorten ist
- wie der Aufbau der Persönlichkeit verläuft
- worauf psychische Erkrankungen beruhen
- warum die Wirksamkeit von Psychotherapien nicht gut belegt ist
- warum alte Muster immer wieder unser Verhalten bestimmen und so schwierig zu verändern sind
- warum Menschen mit antisozialen Persönlichkeitsstrukturen nur schwer behandelbar sind
- wie man im Rahmen der Psychotherapie oder mit Medikamenten auf die Psyche einwirken kann.
Autor und Autorin
Gerhard Roth ist Professor für Verhaltensphysiologie und Entwicklungsneurobiologie am Institut für Hirnforschung der Universität Bremen. Er hat zahlreiche Fachartikel im Bereich der Neurobiologie und Neurophilosophie und diverse Fachbücher zum Thema veröffentlicht.
Nicole Strüber arbeitet am Institut für Hirnforschung der Universität Bremen. Sie studierte Neurobiologie und Psychologie und promovierte im Bereich der Entwicklungsneurobiologie.
Aufbau
Das Werk widmet sich neun komplexen inhaltlichen Schwerpunkten:
- Die Suche nach dem Sitz der Seele
- Gehirn und limbisches System
- Die Sprache der Seele: Neuromodulatoren, Neuropeptide und Neurohormone
- Die Entwicklung des Gehirns und die kindliche Psyche
- Persönlichkeit und ihre neurobiologischen Grundlagen
- Das Bewußtsein, das Vorbewusste und das Unbewussste
- Psychische Erkrankungen und Persönlichkeitsstörungen
- Psychotherapien
- Die Wirkungsweise von Psychotherapie aus Sicht der Neurowissenschaften.
Grundlage von Roths und Strübers Überlegungen stellt dabei eine „naturalistische“ Sicht des Seelischen dar, „ derzufolge sich Psyche und Geist in das Naturgeschehen einfügen und dieses nicht transzendieren“. (11). Zugleich ist es ihnen wichtig, in ihren Ansätzen keinen neurobiologistischen Reduktionismus (12) anheim zu fallen, aber auch einen Dualismus von Seele und Gehirn zu vermeiden (19). Eine zentrale Rolle in ihren Ausführungen spielt die „neuronale Sprache der Seele“, also das Wirken der Neuromodulatoren, Neuropeptide und Neurohormone in Bezug auf die Kommunikation zwischen Zellen, Zellverbänden und ganzen Hirnregionen.
Inhalt
Zu Beginn ihrer Ausführungen widmen sich die Autor_innen den unterschiedlichen historischen Zugängen und Antwortversuchen auf die Frage nach dem „Sitz der Seele“. Beginnend bei der antiken und mittelalterlichen Seelenlehre schlagen sie einen Bogen über die neuzeitlichen Antwortversuche hin zu experimenteller Hirnforschung, die seit dem 19. Jahrhundert einen wesentlichen Aufschwung erfuhr. Bedeutsame Erkenntnisse kamen seit Beginn des 20. Jahrhunderts dazu, etwa die Entdeckung der Relevanz bestimmter chemischer Stoffe wie Adrenalin, Noradrenalin und Acetylcholin oder des Dopamins. Besonders wird auch die sogenannte „kognitive“ Wende in der Psychologie Ende der 60er Jahre hervorgehoben, die zum einen die klassische Abwertung von Emotionen im Vergleich zu Wahrnehmungen und kognitiven Leistungen überwand, zum andern durch bestimmte technologische Entwicklungen wie etwa die Positronen-Emmissions-Tomographie oder die Magnetresonanz-Tomographie Gehirnregionen, die zuvor kaum für Experimente zugänglich waren, ohne chirurgische Eingriffe beobachtbar machte. Die Autor_innen kommen dabei zur Schlußfolgerung, dass aus heutiger Sicht die Suche nach dem Sitz der Seele insofern zu einem vorläufigen Abschluss gekommen sei, als dass es keinen eng umgrenzten Ort gibt, „an dem das Seelisch-Psychische lokalisiert ist.“ (42) Aus neurobiologischer Perspektive kommen sie sodann zur Einschätzung, dass es keine Zweifel daran geben kann; „dass das Gehirn die Seele hervorbringt, und zwar auf den ganz unterschiedlichen Ebenen des neuronalen Geschehens, angefangen von den Vorgängen an den Synapsen bis hin zu den Interaktionen des ganzen Gehrirns mit Körper und Umwelt.“
In Kapitel 2 konkretisieren sie diese Ausführungen und benennen explizit das limbische System als „Sitz der Seele“. (45) Es schließt sich eine ausführliche Darstellung des Aufbaus des menschlichen Gehirns an, insbesondere des limbischen Systems unter Einbeziehung des „Vier-Ebenen-Modells“. Diese vier sogenannten Ebenen der Persönlichkeit bestehen aus der unteren limbischen Ebene des vegetativ-affektiven Verhaltens und der mittleren Ebene der emotionalen Konditionierung, Bewertung und Motivation, die zusammen das „unbewusste Selbst“ bilden. Die „bewußte“ Ebene setzt sich zusammen aus der oberen limbischen Ebene, dem „individuell-sozialen Ich“, das um das „kognitiv-kommunikative“ Ich ergänzt wird (64). In Bezug auf die Seele ist das limbische System insofern von grundlegender Bedeutung als das es neben der Steuerung der lebenserhalten Funktionen der Ort für die Bewertung von Verhalten entweder als „positiv“ (zu wiederholen) oder als „negativ“ (zu vermeiden) ist und somit für eine adäquate Anpassung an die Umwelt konstitutiv ist: „Auf der Ebene des Bewußtseins erleben wir das als Emotionen und Motive, die unser Handeln lenken. Dies bildet dann die unmittelbare Grundlage des Seelisch-Psychischen.“ (92).
Kapitel 3 widmet sich der Beschreibung der „neuronalen Sprache der Psyche“, also der Wirkungsweisen von Neurotransmittern, Neuromodulatoren, Neuropeptiden und Neurohormonen. Ausführlich beschrieben werden Dopamin, Serotonin, Noradrenalin, Acetylcholin, Endogene Opiode, Oxytocin, Vasopressin und Glucocorticoide. Es folgt eine Darstellung der sechs sogenannten psychoneuronalen Grundsysteme an:
- das Stressverarbeitungssystem
- das interne Beruhigungssystem
- das interne Bewertungs- und Belohnungssytem
- das Impulshemmungssystem
- das Bindungssystem
- das System des Realitätssinns und der Risikobewertung.
Kapitel 4 widmet sich der Entwicklung des menschlichen Gehirns, insbesondere der Entwicklung der kindlichen Psyche. Einen besonderen Akzent legen die Autor_innen auf die Bedeutung der Bindungserfahrung für die psychische Entwicklung bzw. das seelische Wohlergehen. Denn „im Normalfall bildet sich hier die für usnere Persönlichkeit grundlegende Spannung zwischen Bindung und Autonomie heraus.“ (182). Dabei verweisen sie insbesondere auf das Vorhandensein von „kritischen Perioden“, also von Entwicklungsphasen in der frühen Kindheit, „in denen sowohl sensorisch-kognitive als auch emotional-limbische Zentren besonders empfänglich gegenüber Umwelteinflüssen sind.“ (181). Wichtig ist im Kontext dieser kognitiv-emotionalen Entwicklung vor allem auch die Ausbildung des sogenannten autobiographischen Gedächtnisses, das konstitutiv für die „Ausformung eines Selbst als einer überdauernden Instanz“ ist (182).
Das fünfte Kapitel fragt nach der Entsstehung der Persönlichkeit und den entsprechenen neurobiologischen Grundlagen. Dazu führen die Autor_innen in das von ihnen entwickelte Modell der sechs psycho-neuronalen Grundsysteme ein. Dazu gehören:
- Stressverarbeitung und Persönlichkeit
- Selbstberuhigung und Persönlichkeit
- Belohnung und Belohnungserwartung (Motivation) und Persönlichkeit
- Bindungsverhalten und Persönlichkeit
- Impulskontrolle und Persönlichkeit
- Realitätssinn und Risikowahrnehmung und Persönlichkeit.
Schwerpunkt des sechsten Kapitels sind Begriffsannäherungen an das Unbewusste, das Vorbewusste, das Intuitive sowie das Bewußte einerseits, andererseits aber wird eine Theorie von Geist und Bewußtsein auf neurobiologischer Grundlage entwickelt. Dabei werden Geist und Bewußtsein als ein immaterielles physikalisches System verstanden, „das aus mentalen Feldeern aufgebaut ist, die sich raumzeitlich organisieren und so eine virtuelle Gesamtwelt erschaffen, nämlich unseren Körper, die Welt um ihn herum und den Gesit in seinen vielfältigen Erscheinungsformen. Die ebenfalls immaterielle Grundlage dieser mentalen Felder sind selbstorgnisierende elektromagnetische Felder, wie sie sich im EEG zeigen.“ (240).
Kapitel 7 stellt wichtige psychische Erkrankungen und deren neurobiologische Grundlagen vor allem im Hinblick auf die sich dabei ereignende Gen-Umwelt- Interaktion dar. Im Mittelpunkt der darlegungen stehen Depressionen, Angststörungen, die posttraumatische Belastungsstörung, die Zwangsstörung und die Persönlichkeitsstörungen (inklusive Borderline) und antisoziale Verhaltensstörungen. Dabei kommen die Autor_innen zu der Schlussfolgerung, dass all diese Krankheitsbilder begleitet werden von entsprechenden strukturellen und funktionellen Veränderungen im limbischen System: „In der Regel passen die Annahmen über die Funktionen der fehlregulierten Substanzen und Hirnbereiche gut zu den Symptomen der jeweiliegn Erkrankung, und ein funktionaler Zusammenhang ist sehr wahrscheinlich.“ (296). Genetische Vorbelastungen spielen dabei durchaus eine sehr relevante Rolle, aber auch vorgeburtliche und frühkindliche Erfahrungen wirken sich prägend auf die Entwicklung weitere neuromodulatorischer und regulatorischer Systeme aus, z. B. auf das Cortisol- und das Oxytocinsystem. Roth und Strüber weisen auch auf die dramatische Erkenntnis hin, dass die Auswirkungen früher erfahrungen auf Gehirn und Psyche von einer Generation auf die nächste übertragen werden können. Dieser „transgenerationale Transfer“ liegt im wesentlich begründet in der direkten biologischenVererbung von sogenannten Anfälligkeitsfaktoren, aber auch in den Auswirkungen elterlichen Verhaltens auf das kindliche Gehirn (298).
Im achten Kapitel skizzierenn die Autor_innen vier psychotherapeutische Konzepte: die behaviouristische Verhaltenstherapie, die kognitive Verhaltenstherapie, die Psychoanalyse bzw. psychodynamische Ansätze, wie etwa die Operationalisierte Psychodynamische Diagnostik-OPD, um sie in Kapitel 9 aus neurobiologischer Sicht unter die Lupe zu nehmen. Sie gehen dabei vor allem vier Fragen nach:
- Wie könnten Korrelate einer erfolgreichen Psychotherapie im Gehirn ausshen und wie kann die Hirnforschung sie erfassen?
- Worin bestehen die Kernaussagen der genannten Psychotherapien und wie sind sie aus neurobiologischer Sicht zu beurteilen?
- Wie lassen sich die als psychotherapeutischer Hauptwirkfaktor nachgewiesene „therapeutische Allianz“ und der dabei unterstellte „Placeboeffekt“ neurobiologisch interpretieren?
- Wie ist aus neurobiologischer Sicht die vermutliche Existenz zweier Therapiephasen zu beurteilen?
Fazit
Roth und Strüber definieren in ihrem – höchst faszinierenden – Werk die Seele als „die Gesamtheit der Vorgänge, die sich in unserem bewussten, vorbewusst intuitivem und unbewusstem Fühlen, Denken und Wollen ausdrücken.“ (370). Und kommen zur Schlussfolgerung, dass die in diesem Sinne definierte Seele „nach allen verfügbaren wissenschaftlichen Erkenntnissen untrennbar an Hirnfunktionen gebunden ist. Ihre Eigenschaften und Leistungen formen sich mit der Entwicklung des Gehirns, und mit dem Tod des Gehirns enden diese ’Seelenvermögen’“. (370)
Roth und Strüber ist ein spannendes, informatives und sehr lesenswertes Werk gelungen. Auch wenn religiöse Vorstellungen und Zugangsweisen zur Thematik von der Betrachtung und Auseinandersetzung ausgeschlossen wurden, werden Antworten auf zahlreiche neurobiologisch, aber auch philosophisch Fragestellungen angeboten. Dabei werden stets neben neurobiologischen Perspektiven auch Umweltdimensionen in die Betrachtungen einbezogen, so dass kein Reduktionismus entsteht.
Eine herausfordernde, spannende und inspirierende Lektüre!
Rezension von
Elisabeth Vanderheiden
Pädagogin, Germanistin, Mediatorin; Geschäftsführerin der Katholischen Erwachsenenbildung Rheinland-Pfalz, Leitung zahlreicher Projekte im Kontext von beruflicher Qualifizierung, allgemeiner und politischer Bildung; Herausgeberin zahlreicher Publikationen zu Gender-Fragen und Qualifizierung pädagogischen Personals, Medienpädagogik und aktuellen Themen der allgemeinen berufliche und politischen Bildung
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