Philippe Rothlin, Peter R. Werder: Unterfordert. Diagnose Boreout - wenn Langeweile krank macht
Rezensiert von Dr. Günther Vedder, Dipl.-Päd. Ella Korinth, 20.11.2014

Philippe Rothlin, Peter R. Werder: Unterfordert. Diagnose Boreout - wenn Langeweile krank macht. Redline Verlag (München) 2014. 3., überarbeitete Neu Auflage. 169 Seiten. ISBN 978-3-86881-551-1. D: 17,99 EUR, A: 18,50 EUR, CH: 25,90 sFr.
Thema
Zentrales Thema des Buches ist der Boreout, ein von den Autoren eingeführter Gegenbegriff zum Burnout. Die Betroffenen fühlen sich gelangweilt, unterfordert, gestresst und haben häufig Angst vor dem Verlust ihres Arbeitsplatzes. Dieses Phänomen ist in Organisationen weit verbreitet, wird allerdings kaum wahrgenommen und nicht systematisch bearbeitet.
Autoren
Philippe Rothlin studierte an der Universität St. Gallen Recht und Betriebswirtschaft. Er ist Mitbegründer einer Werbeagentur, war selbständiger Unternehmensberater und arbeitet nun in einem international tätigen Bankenkonzern.
Dr. Peter Werder studierte an der Universität Zürich Publizistik, Philosophie und Musikwissenschaften. Er war Journalist, Unternehmensberater und leitet inzwischen die Kommunikation eines Schweizer Konzerns im Gesundheitswesen.
Entstehungshintergrund
Es handelt sich bei dem Buch um die dritte, überarbeitete Neuauflage des 2007 erstmals erschienenen Bandes Diagnose Boreout. Den Autoren fällt der Verdienst zu, den eingängigen Begriff Boreout in die Diskussion über Belastungen am Arbeitsplatz eingeführt zu haben. Dieses Themen-Branding ist gelungen und hat zu diversen einschlägigen Artikeln in Zeitungen und Fachzeitschriften geführt. Das Buch wurde seit 2007 in mehrere Sprachen (Japanisch, Griechisch, Spanisch…) übersetzt.
Aufbau und Inhalt
Im ersten Kapitel des Bandes Die Arbeitswelt des 21. Jahrhunderts: vom Burnout zum Boreout weisen die Autoren darauf hin, dass der Stress durch Überforderung nur eines von mehreren Belastungsphänomenen im Beruf darstellt. Sie zitieren mehrere Umfragen, die zu dem Schluss kommen, dass sich viele Beschäftigte im Büro langweilen und einen größeren Teil ihrer Zeit am Arbeitsplatz mit aufgabenfremden Tätigkeiten verbringen. Die Freizeit in der Arbeit wird zum Beispiel zum Surfen im Internet und zur Erledigung privater Dinge genutzt.
Anschließend werden unter der Überschrift Der Boreout – Begriff, Elemente und Entwicklung die Unterforderung, das Desinteresse und die Langeweile als zentrale Aspekte von Boreout vorgestellt. Zu diesen Punkten kommen noch Verhaltensstrategien der Betroffenen hinzu, die dazu dienen den Eindruck zu erwecken, es gäbe dennoch genug zu tun. Der Boreout entsteht selten von heute auf morgen, sondern entwickelt sich schleichend über eine längere Periode hinweg.
Das dritte Kapitel Abgrenzungen dient der Erläuterung von Unterschieden zu den Phänomenen Faulheit, Mobbing sowie innere Kündigung. Hier nehmen die Autoren folgende Position ein: wer an Boreout leidet ist nicht von Natur aus faul, sondern wurde durch äußere Umstände faul gemacht. Faulheit ist demnach ein Symptom von Boreout. Mobbing hingegen kann eine Ursache und die innere Kündigung kann eine Folge von Boreout sein.
Danach werden im längsten Kapitel Die Boreout-Strategien diverse Möglichkeiten des Umgangs mit Unterforderung am Arbeitsplatz vorgestellt. Einige Betroffene bearbeiten die wenigen Aufgaben sehr schnell und konzentriert, teilen den Vorgesetzten allerdings nicht mit, dass sie danach zeitliche Freiräume für andere Tätigkeiten haben. Andere gehen genau umgekehrt vor: sie dehnen die überschaubare Arbeit so lange, bis der zur Verfügung stehende Zeitraum komplett ausgefüllt erscheint. Manche Boreout-Kandidaten erwecken sogar den Anschein, dass sie noch Arbeit mit nach Hause nehmen müssen, damit ihnen keine weiteren Aufgaben übertragen werden.
Das Boreout-Paradox (Kapitel 5) besteht darin, dass die Betroffenen an dem Nichtstun festhalten, obwohl sie mittelfristig mit ihrer Situation unzufrieden sind. Die Autoren beschreiben als mögliche Ursache die Angst der Unterforderten, durch mehr Arbeit plötzlich überfordert zu werden. Wer lange Zeit wenig zu tun hatte, gerät schnell in Stress, wenn die Aufgaben wieder mehr werden.
Im Kapitel Die Ursachen des Boreout werden zum Beispiel die falsche Berufswahl, die falsche Arbeitsstelle, das Vorgesetztenverhalten oder auch die Angst vor Veränderungen diskutiert. Es kann durchaus attraktiv sein, das Arbeitsverhältnis aufrecht zu erhalten, das Arbeitsentgelt auch weiterhin zu beziehen und sich tatsächlich am Arbeitsplatz um ehrenamtliche Tätigkeiten zu kümmern. Die Sinnlosigkeit des überwiegenden Nichtstuns kann allerdings auch sehr belasten und zu Frustration führen.
Das siebte Kapitel Die Symptome des Boreout geht unter anderem auf die Müdigkeit, Gereiztheit und Lustlosigkeit der Betroffenen nach Feierabend ein. Dann zeigt sich die Unzufriedenheit viel deutlicher als am Arbeitsplatz und führt in einigen Fällen zu depressiven Verstimmungen.
Wer ist betroffen – und wer nicht? (Kapitel 8) weist darauf hin, dass auf bestimmten Positionen ein Boreout sehr unwahrscheinlich ist, während er auf anderen Stellen deutlich häufiger auftritt. Kaum gefährdet sind nach Meinung der Autoren zum Beispiel Führungskräfte, Landwirte, Industriearbeiter, Kellner oder auch Erzieherinnen. Sie identifizieren sich in der Regel sehr stark mit ihrer Tätigkeit und werden von externen Einflüssen (Wetter, Fließband, Gäste) gesteuert. Zu Boreout kommt es viel eher auf Dienstleistungspositionen mit geringem Arbeitsanfall und bei abhängiger Beschäftigung. Er wird durch eine größere Distanz zum Endprodukt oder durch eine sehr starke Spezialisierung (keine Möglichkeit zum Jobwechsel) zusätzlich gefördert.
Im nächsten Kapitel Die verschiedenen Stadien des Boreout werden fünf plakative Boreout-Typen vorgestellt: der Samariter, der Geselle, der Titanic-Passagier, das Chamäleon und die Made. Die beschriebenen Personen sind sehr unterschiedlich motiviert und in zunehmendem Maß von Unterforderung am Arbeitsplatz betroffen. Ein schwieriger Fall ist zum Beispiel das Chamäleon: Es ist „unterfordert, gelangweilt und desinteressiert, es erledigt deshalb tagsüber unzählige private Angelegenheiten und braucht für alles viel zu lange. Niemand merkt es, denn seine Strategien wirken perfekt“.
Das kurze Kapitel 9 Scheinlösungen helfen nicht weist darauf hin, dass dem Phänomen mit Faulheitsvorwürfen und einer schärferen Kontrolle nicht beizukommen ist.
Stattdessen hilft nur Eigenverantwortung als Mittel gegen Boreout (Kapitel 10), denn jeder Einzelne ist am besten selbst in der Lage verantwortungsvolle Entscheidungen zu fällen.
Im umfangreichen Kapitel 11 Der qualitative Lohn wird ein Weg aus dem Boreout beschrieben, der auf den Elementen Sinn, Zeit und Geld aufbaut. Die Betroffenen werden aufgefordert, nach dem Sinn ihrer Tätigkeit zu suchen und sich selbst zu fragen: Arbeite ich in einem Bereich, der mich wirklich interessiert? Womit will ich meine Zeit verbringen und wo sollen meine Prioritäten liegen? Darüber hinaus sollen sie „das absolute Maximum an Lohn herausholen“. Wer in allen drei Feldern eine befriedigende Antwort findet, ist laut Aussage der Autoren kaum Boreout-gefährdet. Allerdings: wenn alles nichts nützt, dann wird ein Neuanfang in einem anderen Arbeitsbereich vorgeschlagen.
Im Schlusswort (Kapitel 12) erfolgt noch einmal die Aufforderung, nicht alles hinzunehmen, was einem während der Arbeit passiert. Der Boreout ist ein individuelles Problem und jeder Betroffene muss einen eigenen Weg suchen mit den Herausforderungen am Arbeitsplatz umzugehen.
Diskussion
Philippe Rothlin und Peter R. Werder nehmen sich in ihrem Boreout-Buch einer spannenden Thematik an, die wissenschaftlich bisher nur ansatzweise erforscht wurde und in Organisationen kaum konstruktiv bearbeitet wird. Zu den möglichen Belastungen am Arbeitsplatz zählen nicht nur Burnout, Mobbing, Zeitdruck, Stress… sondern auch die Unterforderung im Job. Es ist nach wie vor ein großes Tabu, beruflich nicht genug zu tun zu haben. Was für eine begrenzte Zeit sehr entlastend wirken kann, wird auf Dauer zu einem echten Problem. Die Betroffenen trauen sich aus Angst um die eigene Beschäftigung häufig nicht, ihre Unterforderung publik zu machen. Hinter verschlossenen Bürotüren bearbeiten sie private Aufgaben oder surfen im Internet. Einige haben sich mit dieser Situation arrangiert, andere leiden unter der Langeweile und dem fehlenden Sinn der eigenen Arbeit. Sie gehen abends völlig gestresst nach Hause, obwohl sehr wenig zu tun war. Aus Sicht der Arbeitswissenschaft ist es ein faszinierender Gedanke, dass ein Teil des an vielen Arbeitsplätzen wahrgenommenen Stresses auf Unterforderung zurückzuführen sein könnte.
Unzufrieden werden jene Leser sein, die eine wissenschaftliche Bearbeitung des Themas erwarten (Fragestellung, Hypothesen, Beschreibung der Methodik, empirische Datenerhebung, Datenanalyse und -interpretation). Diesen Ansprüchen genügt der Band nur sehr bedingt, die dreiseitige Literaturliste ist überschaubar und die „Dialoge der Betroffenen“ lassen sich nicht auf korrekt dokumentierte Gespräche zurückführen. Es fehlt eine präzise Unterscheidung zwischen „Boreout“ und „Unterforderung“. Wann wird aus einer vorübergehenden Unterforderung ein krank machender Zustand, der diagnostiziert werden könnte (wie der Buchtitel suggeriert)? Gibt es neben diversen Unterschieden nicht auch sehr viele Gemeinsamkeiten mit den Folgen von Burnout? Weiterhin wird nicht ganz klar, warum sich der Boreout aus den genannten Elementen (Desinteresse, Langeweile…) zusammensetzt und nicht etwa aus ganz anderen Aspekten besteht. Die Eigenverantwortung der Betroffenen wird sehr stark betont, ohne im gleichen Umfang die Verantwortung der Vorgesetzten, der Teams oder gar der gesamten Organisation einzufordern. Was sollen jene Boreout-Kandidaten tun, die durch ihre dauerhafte Unterforderung und ihr Versteckspielen wie gelähmt sind? Oder jene, die bereits mehrfach auf ihre Situation hingewiesen haben, ohne dass sich etwas verändert hätte?
Fazit
Die hier besprochene dritte, überarbeitete Neuauflage 2014 mit dem Titel „Unterfordert. Diagnose Boreout – wenn Langeweile krank macht“ unterscheidet sich nicht wesentlich von der ersten Auflage „Diagnose Boreout. Warum Unterforderung im Job krank macht“ aus dem Jahr 2007. Hinzugekommen sind auf ca. 40 zusätzlichen Seiten einige begriffliche Abgrenzungen, weitere Boreout-Strategien sowie ergänzende Ausführungen zum qualitativen Lohn.
Es handelt sich auch weiterhin um eine journalistisch ansprechend verfasste Ratgeber-Literatur mit diversen fiktiven Beispielen, einprägsamen Boreout-Strategien und netten Typenbildungen. Wer noch nie etwas von Boreout gehört hat, kann sich mit dieser leicht lesbaren Lektüre einen sehr guten Überblick über unterschiedliche Aspekte der Thematik verschaffen.
Das Buch ist verständlich geschrieben und kann für Betroffene, die ihre besondere Belastung noch gar nicht richtig einordnen können, sicherlich eine wertvolle Hilfe darstellen.
Rezension von
Dr. Günther Vedder
Institut für interdisziplinäre Arbeitswissenschaft der Leibniz Universität Hannover
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Dipl.-Päd. Ella Korinth
Institut für interdisziplinäre Arbeitswissenschaft der Leibniz Universität Hannover
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Zitiervorschlag
Günther Vedder, Ella Korinth. Rezension vom 20.11.2014 zu:
Philippe Rothlin, Peter R. Werder: Unterfordert. Diagnose Boreout - wenn Langeweile krank macht. Redline Verlag
(München) 2014. 3., überarbeitete Neu Auflage.
ISBN 978-3-86881-551-1.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/17723.php, Datum des Zugriffs 31.03.2023.
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