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Barbara Kuchler, Stefan Beher (Hrsg.): Soziologie der Liebe

Rezensiert von Prof. Dr. Jochen Schmerfeld, 19.06.2015

Cover Barbara Kuchler, Stefan Beher (Hrsg.): Soziologie der Liebe ISBN 978-3-518-29678-3

Barbara Kuchler, Stefan Beher (Hrsg.): Soziologie der Liebe. Romantische Beziehungen in theoretischer Perspektive. Suhrkamp Verlag (Berlin) 2014. 403 Seiten. ISBN 978-3-518-29678-3. D: 20,00 EUR, A: 20,60 EUR.

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Thema

Die meisten Menschen haben romantische Vorstellungen von der Liebe, die sich mit entsprechenden eigenen Erfahrungen und Wünschen, häufig auch mit bekannten Darstellungen in Literatur, Film und Musik verbinden. Die Soziologie hingegen betrachtet und analysiert die Liebe mit einem nüchternen und ernüchternden Blick und beschreibt sie als soziales Skript, das wir per Sozialisation erlernen und dann immer wieder reproduzieren.

Herausgeber

Barbara Kuchler und Stefan Beher sind Wissenschaftliche Mitarbeiter an der Fakultät für Soziologie der Universität Bielefeld.

Aufbau

Die Beiträge lassen sich grob zwei verschiedenen Theorieparadigmen zuordnen:

  1. das erste betrachtet Liebe als eine gesellschaftliche Konstruktion und geht der Frage nach, wie in Abhängigkeit vom jeweiligen Gesellschaftstyp Liebe anders konstruiert wird.
  2. Das andere versteht Liebe als ein Naturphänomen, das potentiell gefährlich für den Zusammenhalt von Gesellschaften ist und daher in irgendeiner Weise ‚gezähmt‘ werden muss.

So könnte man motiviert möglicherweise von dem Wunsch, sich nicht vollends desillusionieren lassen zu wollen, unterscheiden und seine, wenn auch heimliche Sympathie für die in den 1970er Jahren nicht unpopulären Ansatz, der die potentiell revolutionäre Kraft der Liebe (oder war doch die Sexualität gemeint?) herausstellte, durch die soziologischen Analysen des ‚Phänomens‘ hindurch zu retten versuchen.

Die Herausgeberinnen hatten aber wohl anderes im Sinn, als sie die Beiträge für den Reader zusammenstellten: „Gemeinsam ist allen Texten trotz ihrer Unterschiedlichkeit das Interesse an Aufklärung, an Entzauberung, an der Ernüchterung des Blicks gegenüber der im Alltag üblichen Verklärung und Überhöhung der Liebe.“ (9) Daraus entsteht dann – ganz im Geist der Aufklärung – ein neues Pathos: „Die Liebe muss auf den Boden der soziologischen Tatsachen zurückgeholt, das Pathos muss abgekratzt, der Mythos entzaubert werden.“ (9)

So wird denn aus dem Reader eine Einführung in soziologische Theorieparadigmen anhand des Themas Liebe. Das Buch ist in vier Teile gegliedert:

  1. Im ersten Teil finden sich Texte, die sich mit dem Zusammenhang von Liebe und Gesellschaft beschäftigen,
  2. im zweiten Teil sind Texte aus der interaktionstheoretischen Tradition zusammengestellt unter der Überschrift: Liebe als Interaktion,
  3. im dritten Teil geht es um Liebe als Tausch
  4. und im letzten Teil werden wir Lesende entschädigt für so viel Desillusionierung mit einigen Überlegungen zu einem uns direkt betreffenden Thema: Spannungen und Widersprüche in Liebesbeziehungen.

Inhalt

Vor allem in Teil I: Liebe und Gesellschaft finden sich Ausführungen, in denen der befremdende Blick der Soziologie auf die Liebe beschrieben wird. Weniger im Beitrag von William J. Goode: Die theoretische Bedeutung der Liebe (von 1959), der immerhin davon ausgeht, „dass Liebe potentiell eine Gefahr für Partnerwahl- und Schichtstrukturen darstellt und dass ihr zersetzender Einfluss durch strukturelle Arrangements unter Kontrolle gehalten werden muss“ (55), als vielmehr in den zwei Texten von Niklas Luhmann, die jeweils in Auszügen abgedruckt sind: Liebe (1969) und Liebe als Passion (1982). Luhmann, der ohnehin für seinen befremdenden Blick und ein kontraintuitives Vorgehen bekannt ist, analysiert und beschreibt Liebe als Kommunikationsmedium (neben Wahrheit, Geld und Macht) in der funktional differenzierten Gesellschaft. So ginge es bei der in historischer Perspektive zu beobachtenden Umstrukturierung des Liebens nicht um das individuelle Gefühl, „sondern um das Kommunikationsmedium Liebe, das veränderten gesellschaftlichen Bedingungen angepaßt werden muß“ (85). Das liege ganz auf der Linie einer Entwicklung, als deren Ergebnis die moderne Gesellschaft sich durch eine zweifache Steigerung auszeichne: „durch mehr Möglichkeiten zu unpersönlichen und durch intensivere persönliche Beziehungen“ (86). Es finden sich dann aber auch bei Luhmann Formulierungen, die die romantischen Vorstellungen über Liebe nicht gänzlich zu negieren scheinen – wie etwa diese: „Es wird dann zu Bedingung für die Ausdifferenzierung einer gemeinsamen Privatwelt, daß jeder die Welt des anderen mittragen kann (obwohl er selbst höchst individuell erlebt), weil ihm selber darin eine Sonderstellung zugewiesen ist: weil er in dieser Welt des anderen vorkommt als der, der geliebt wird.“ (91)

Von Theodor W. Adorno sind in diesem Teil Auszüge aus seinen Minima Moralia (1951) abgedruckt, die seine Position zum Thema Liebe wiedergeben: „Soll Liebe in der Gesellschaft eine bessere vorstellen, so vermag sie es nicht als friedliche Enklave, sondern nur im bewußten Widerstand.“ (115) Damit werden zwar auch romantische Vorstellungen infrage gestellt, aber immerhin wird die Vorstellung von Liebe nicht vollständig desillusioniert, es bleibt ein mythischer Rest, wenn auch in gewisser Weise funktionalisiert für den Kampf um eine Veränderung der Gesellschaft.

Der Teil II: Liebe als Interaktion wird mit einem Text von Georg Simmel: Die quantitative Bestimmtheit der Gruppe (1908) eröffnet, der sich mit der ‚einfachsten soziologischen Formation‘: der zwischen zwei Elementen beschäftigt. Dabei wird die Ehe thematisiert und die Besonderheiten der dabei entstehenden Intimitäten zwischen den beiden Partnern: „Daß die Gatten die gleichgültigen ‚Intimitäten‘ des Tages, die Liebenswürdigkeiten oder Unliebenswürdigkeiten der Stunde, die allen anderen sorgfältig verborgenen Schwächen teilen – das legt es nahe, den Akzent und die Substanz des Verhältnisses gerade in dieses zwar völlig Individuelle, sachlich aber doch ganz Irrelevante zu verlegen, und dasjenige, was man auch mit Andern teilt, und was vielleicht das Wichtigste der Persönlichkeit ist, das Geistige, Großzügige, den allgemeinen Interessen zugewandte, Objektive – als eigentlich außerhalb der Ehe liegende zu betrachten, es allmählich aus ihr herauszuschieben.“ (128) Da spricht der Mann und der Wissenschaftler. Und das setzt sich fort, wenn Simmel sich wundert: „Daß zwei so grundverschiedene Wesen wie Mann und Weib eine derartig enge Verbindung bilden; daß der Egoismus des einzelnen so gründlich nicht nur zugunsten des andren, sondern zugunsten des Gesamtverhältnisses, das die Familieninteressen, die Familienehre, vor allem die Kinder einschließt, aufgehoben wird – das ist eigentlich ein Wunder, das geht auf die rationalistisch nicht mehr erklärbaren, jenseits des bewußten Ich gelegenen Grundlagen eben dieses zurück.“ (130) Und schließlich – welcher Mann hatte das nicht schon immer wissen wollen – geht er auch noch auf die Polygamie ein, die er anscheinend mit einer gewissen Ambivalenz betrachtet: „Denn gerade die Zweizahl der Frauen kann im Leben des Mannes zu den schärfsten Konflikten und tiefsten Störungen Veranlassung geben, die sich bei jeder höheren überhaupt nicht erheben. Denn mit dieser setzt eine so gründliche Deklassierung und Entindividualisierung der Frauen ein, eine so entschiedenen Reduktion der Beziehung auf ihre sinnliche Seite (da jede geistigere auch immer individuellerer Natur ist) – daß es im allgemeinen zu jenen tieferen Erschütterungen für den Mann nicht kommen wird, die gerade und nur aus einem Doppelverhältnis fließen können“ (133)

Ronald D. Laing, Herbert Phillipson, A. Russell Lee betrachten in ihrem aus einer therapeutisch interessierten Perspektive entstandenen BeitragInterpersonelle Wahrnehmung‘ (von 1966) nicht eigentlich die Liebe, sondern die Dyade in ihren dann auch für die Liebe bedeutsamen Komplexitäten und Komplikationen, die entstehen, wenn man berücksichtigt, dass die beiden einander jeweils vor dem Hintergrund der eigenen Geschichte wahrnehmen und interpretieren und dabei auch Annahmen machen darüber, was der andere jeweils wahrnimmt und interpretiert. Daraus ergibt sich dann für den ‚Fall‘ Liebe: „Sich geliebt zu fühlen bedeutet, wahrzunehmen und zu interpretieren, d.h. zu erfahren, daß die Handlungen des anderen solche der Liebe sind.“ (139) Darüber hinaus wirkten die beiden auch damit auf den anderen und auf sich selbst: „In dyadischen Beziehungen freilich hat jede auf den anderen gerichtete Handlung Wirkungen auf einen selbst und jede auf einen selbst gerichtete Handlung Wirkungen auf andere.“ (141) Vor diesem Hintergrund wird dann auch vornehmlich thematisiert, wie Liebe zum Problem wird: „Nehmen wir noch einmal an, daß das Kernproblem zwischen zwei Personen Liebe ist. Dann würde meine Sorge vielleicht um meine Liebe zu dir oder deine Liebe zu mir kreisen. Meine Sorge ist vielleicht gar nicht, ob ich dich liebe oder du mich liebst, sondern ob du meine Liebe überhaupt brauchst. Ähnlich besteht deine Sorge möglicherweise gar nicht darin, ob du mich liebst oder ich dich liebe, sondern ob ich deiner Liebe bedarf.“ (160) Zum Glück gibt es Paartherapeuten.

Der Beitrag von Murray S. Davis nimmt trotz des vertraut und wenig wissenschaftlich klingenden Titels: ‚Sag, dass du mich liebst‘ (1973) eine stark verfremdende Perspektive ein. Das wird etwa bei der folgenden Beschreibung deutlich: „Im Prozess des Vertrautwerdens erwerben die Beteiligten schließlich die (implizite) Erlaubnis den Anderen zu berühren. Dies gilt sowohl für die Berührung des Körpers als auch für die Berührung von anderen Attributen der Person. … Als Organe zur aktiven Kontaktherstellung eignen sich Hände, Lippen und Geschlechtsorgane, als Organe zum passiven Kontaktempfang Hände, Arme, Schultern, Lippen, Oberkörper, Brüste und Geschlechtsorgane.“ (173) Im weiteren werden einzelne Schritte in der Entwicklung einer intimen Beziehung detailliert beschrieben und dieses den meisten Menschen gut bekannte und vertraute Geschehen gleichsam seziert und in kleine Teile zerlegt. Im Ergebnis findet man dann eine Beschreibung, in der sich jeder und jede mehr oder weniger selbst mit ihren und seinen Erfahrungen wieder finden kann: „Vorstehend wurde die kommunikative Dimension einer intimen Beziehung in den Blick genommen und eine wichtige Dynamik beim Vertrautwerden von Personen analysiert: der laufende Austausch verbaler und nonverbaler Bestätigungen der Vertrautheit mit dem Anderen. Solche Bestätigungen können einzeln oder in komplexen und widersprüchlichen Paketen abgegeben werden. Sie können sich lautstark oder unübersehbar zur Geltung bringen, oder sie können nur in der latenten Gewissheit bestehen, dass sie, nach bereits erfolgter Anwendung, wiederholt werden können.“ (189)

Der interaktionstheoretische Teil wird abgeschlossen mit einer Arbeit aus der sozialkonstruktivistischen Schule: Peter L. Berger, Hansfried Kellner: Die Ehe und die Konstruktion der Wirklichkeit (1964). Die Autoren verstehen Ehe als einen nomischen Prozess, im Verlaufe dessen die je individuellen ‚Wirklichkeiten‘ aufgelöst und durch eine gemeinsam konstruierte geteilte Wirklichkeit ersetzt werden: „Die Ehe begründet somit eine neue Wirklichkeit. Die Beziehung des Einzelnen zu dieser neuen Wirklichkeit ist jedoch dialektischer Natur – er produziert sie, in Übereinstimmung mit dem Ehepartner – und sie wirkt auf ihn zurück. Die beiden Realitäten der Ehepartner werden dabei zu einer einzigen zusammengefügt.“ (201f) So plausibel weil nachvollziehbar und an der eigenen Erfahrung überprüfbar – sofern man einschlägige Erfahrungen gemacht hat – diese Beschreibung ist, es fehlt in ihr doch etwas, was aufgrund des Buchtitels erwartbar war: die Liebe. Die scheint für eine solche wissenssoziologische Untersuchung keine Rolle zu spielen?

Teil III: Liebe als Tausch

Die Verbindung von Liebe und Tausch mag den romantischen Vorstellungen von Liebe zutiefst widersprechen, dennoch hat wohl jeder Mensch, der schon einmal auf Partnersuche war, eine Vorstellung davon bekommen, dass Erfolg und Misserfolg bei der Suche auch von einer realistischen Einschätzung des eigenen Marktwerts und des anderer potentieller Partner abhängen.

Randall Collins verbindet in: „Liebe und Heiratsmarkt“ (zuerst veröffentlicht 1985) eben diese scheinbar unvereinbaren, weil gegensätzlichen ‚Dinge‘ und begründet dies so: „Normalerweise gilt uns die Liebe als etwas Weltentrücktes, als ein unerklärliches Gefühl, das den Menschen überkommt und sich gegen jede logische Erklärung sperrt“ (218), was aber – so Collins – völlig unrealistisch sei: „ … in Wirklichkeit sind Liebesempfindungen fest in der diesseitigen, sozialen Welt verankert.“ (218) Tatsächlich finde die Partnerwahl, und zwar auch dann, wenn sie nicht zu einer Eheschließung führe, im Kontext eines Markgeschehens statt, „das nach bestimmten Regeln Partner einander zuweist und das steuert, wer mit wem die sexuelle, soziale und ökonomische Beziehung der Ehe eingeht“ (218). Auf diesem Markt würden keine materiellen Güter getauscht, sondern soziale und persönliche Eigenschaften von Menschen. Im Unterschied zu den Märkten der Vergangenheit werde der heutige Markt nicht mehr von den Eltern oder Familien der Heiratswilligen beherrscht und Männer könnten nicht mehr die Preise für Frauen aushandeln. Stattdessen müsse jeder selbst auf dem Markt auftreten „und versuchen, das bestmögliche Geschäft für sich herauszuschlagen“ (231). Dabei müsse jeder Marktteilnehmer seine Ressourcen: sozialer Status, Verdienstaussichten, Aussehen anbieten. Liebe trete als Nebenprodukt des Marktes auf: „Ironischerweise ist es gerade die Erfahrung der Marktteilnahme, die das Gefühl der romantischen Liebe erzeugt … Die intensiven Gefühle, die man am Anfang einer Paarbeziehung erlebt, sind nichts anderes als die Freude darüber, dass man sich erfolgreich durch die Ungewissheiten des Marktes hindurchmanövriert hat.“ (235f)

Auch in Peter M. Blaus „Exkurs über die Liebe“ (von 1964) wird das Phänomen ‚Liebe‘ in Verbindung mit Tauschprozessen gebracht. „Die innere Zuneigung eines Mannes für eine Frau (und ihre für ihn) hängt von den Belohnungen ab, die er in einer Liebesbeziehung mit ihr zu erhalten hofft.“ (245) Ähnlich wie Collins spricht auch Blau vom Marktwert des Individuums, den es beim Dating und auch im intimen sozialen Verkehr erfahre. Die Dauerhaftigkeit einer Bindung hänge davon ab, dass die gegenseitigen Bindungen Hand in Hand gehen würden: „Wenn der eine ungleich stärker engagiert ist als der andere, lädt seine größere Bindung zur Ausbeutung ein oder weckt das Gefühl des Gefangenseins; beides läßt die Liebe erkalten.“ (253)

John W. Thibaut, Harold H. Kelley gehen in ihrem Text von 1959: ‚Die Sozialpsychologie der Gruppe‘ ebenfalls davon aus, dass Personen Belohnungen aus Interaktionen ziehen und dass sie dabei Kosten in Kauf nehmen müssen. Kosten-Nutzen-Kalkulationen bezogen auf Interaktionen werden von den Autoren formal beschrieben, so dass aus ihrer Sicht „die Bildung einer Beziehung abhängt (1) von der Matrix der möglichen Ergebnisse der Interaktion; (2) von der Exploration und stichprobenartigen Prüfung der Möglichkeiten; und schließlich (3) von der Frage, ob die gemeinsam erzielten Ergebnisse über dem CL (alt) [das niedrigste akzeptable Ergebnisniveau, J.S.] der Beteiligten liegen oder nicht“ (264). Auch das Fortbestehen von Beziehungen hänge vom Niveau der Ergebnisse im Vergleich zu dem möglicher Alternativen für die Beteiligten ab. Die Autoren fassen die Ergebnisse ihrer Analyse zusammen: „Zweierbeziehungen werden am ehesten dann eingegangen, wenn sie hohe Ergebnisse versprechen, die mutmaßlich irreversibel sind. Die Bereitschaft zum Eingehen von Beziehungen, deren Haltbarkeit nicht gesichert ist, hängt davon ab, dass man mindestens teilweise die Kontrolle über ihr Ende behält.“ (271)

In dem 1978 erschienen Text über ‚Interpersonelle Beziehungen‘ setzen Harold H. Kelley, John W. Thibaut ihre Analyse am Beispiel eines Paares: Maria und Sergej aus Tolstois Erzählung Familienglück fort und wenden die im vorstehenden Text von 1959 entwickelte Begrifflichkeit an.

Jean-Claude Kaufmann untersucht in ‚Selbsthingabe und Schuldenrechnung‘ (1992) die Verteilung von Hausarbeit bei Paaren. Er geht dabei von der Theorie des Tauschs von Marcel Mauss aus. Es gehe in der Ehe und Paarbeziehung darum, dass Leistung und Gegenleistung in einem für die Beteiligten akzeptablen Verhältnis stehen: „Die Kunst der Ehe besteht darin, die rechte Dosis und die richtige Mischung zu finden. Eine Kunst des Konkreten, denn die Dosierung muss in einer Vielfalt von täglichen Mikrosituationen gefunden werden.“ (285) Die Verhaltensmechanismen des Paares bildeten sich im Rahmen zweier entgegengesetzter Ökonomien aus: „Die Hingabe wurzelt in Gewissheiten und Verdrängung, während die Schuldenrechnung zu Aufrechnung und Verhandlung tendiert. Die Hingabe ist fließend und instabil, eine Art Beziehungsenergie, das Denken in Schuldenkategorien hingegen strebt nach Festlegung von Regeln und einer Art Partnerschaftsrecht.“ (286) Diese entgegengesetzten Logiken würden ständig miteinander vermengt. „Hingabe und Schuldenrechnung vermischen sich in den Feinheiten des Alltagslebens zu einem unentwirrbaren Knäuel und zu einem Spiel mit Grenzen, welches es gestattet, von der einen Beziehungsökonomie zu anderen überzugehen.“ (288) Die Zufriedenheit ergebe sich aus dem einer gerechten Verteilung: „Was zählt, ist der Elan, die ‚Geste‘ … und nicht der exakte Preis der Geschenke.“ (291) Anders als bei Mauss, der die Gabe als nicht profitabel definiert, sei in der Paarbeziehung die Selbsthingabe eine Gabe, die sich unter Umständen auszahle. Das könnte dann – so vermute ich – auch ein Bezug zum Thema Liebe sein, das als solches in Kaufmanns Text nicht auftaucht.

Teil IV: Spannungen und Widersprüche in Liebesbeziehungen

Das scheint ein der alltäglichen Erfahrung sehr nahes Thema zu sein. Dennoch, worum es in den meisten Beiträgen dieses Teils geht, ist der Widerspruch zwischen romantischen Vorstellungen von der Liebe und daraus erwachsenden Erwartungen und Ansprüchen.

Vilhelm Aubert konstatiert in seinenNotizen über Liebe‘ (von 1965), dass die Soziologie vor dem Thema Liebe meist zurück gescheut sei und sieht die Gründe dafür in der Sache der romantischen Liebe selbst: „ Die Liebe ist heilig, denn das Geheimnis ist ihr wesentlich und muss erhalten bleiben, wenn nicht die Sache selbst sich ändern soll.“ (305) Er selbst will die familiensoziologischen Untersuchungen mit den literarischen versöhnen, also die eher funktionalistische Betrachtungsweise mit der romantisierenden und verspricht sich davon: „Viele der unverständlich oder irrational anmutenden Züge des modernen Familienlebens lassen sich besser begreifen, wenn man davon ausgeht, dass das literarische und private Liebesverständnis nicht getrennt von realen Kräften besteht.“ (307) Die Verborgenheit der Liebe und des Sexuallebens stelle ein gravierendes Sozialisationsproblem dar, weil die Vorbereitung der Heranwachsenden durch die Anschauung nicht möglich sei. Daher übernehme hier die Literatur eine wichtige Funktion (das war 1965 so, heute würde man wohl eher auf andere Quellen verweisen). Die Betrachtung der Liebe als Zustand (der Verliebtheit oder auch stärker: vergleichbar einer Krankheit) vermittele zwischen dem Reich der Biologie, der animalischen Natur und dem „Reich des sozial Institutionalisierten“ (315). Liebe werde mit Zufall und Risiko assoziiert: „Das Risiko, das man eingeht, wenn man sich auf eine Person des anderen Geschlechts einlässt, hängt eng mit der Verborgenheit und dem krankheitsartigen Auftreten von Liebe zusammen.“ (318). Liebe gegen alle Vernunft könne ein Weg sein, „die Bedeutung der Liebe im Erleben der Beteiligten zu erhöhen“ (320). Die Irrationalität der Liebe stehe im Widerspruch zu der Institution Ehe, könne aber unter Umständen helfen Brücken über scheinbar unüberbrückbare Gräben zu bauen. Das Verhältnis von Egoismus und Großzügigkeit sein in der Liebe außergewöhnlich ambivalent: „Es wird ein Maß an Egoismus hingenommen, das in anderen Kontexten nicht akzeptabel wäre, und gleichzeitig wird ein Maß an Opferbereitschaft vorausgesetzt, das anderswo nicht unterstellt werden könnte.“ (322) Die Unterscheidung von Körper und Seele spiele in der Liebe ebenfalls eine Rolle, auch wenn es fraglich sei, ob dem der Unterschied von sexuellem Begehren und Liebe entspreche. Aubert schließt mit der Feststellung, „von einer erschöpfenden Behandlung des Gegenstandes noch weit entfernt zu sein“. (337)

Mabel A. Elliott, Francis E. Merrill: Der romantische Fehlschluss (1935) vertreten die These, dass die „Zerrüttung der Ehe“ vor allem auf das zurück zu führen sei, was sie als ‚romantischen Fehlschluss‘ bezeichnen, also die irrige Annahme, das Eheleben entspräche den romantischen Vorstellungen über die Liebe: „Wenn Ehen auf Träumereien aufgebaut werden, braucht man sich über ihr Scheitern nicht zu wundern.“ (339) Dabei werde nicht die Ehe als Lebensform infrage gestellt, sondern nach erfolgtem Scheitern die Suche nach dem ‚richtigen‘ Partner fortgesetzt: „Der Romantiker ist nicht gegen die Ehe, sondern er kommt zu dem Schluss, dass er beim ersten Mal die falsche Wahl getroffen hat und das volle romantische Glück nur mit einem anderen Partner erleben kann.“ (340) Die romantische Liebe sei eine soziale Erfindung, das Ergebnis eines langen sozialen Evolutionsprozesses und sie werde als Vorstellung durch Sozialisation vermittelt. Ehe und romantische Liebe seien in der Vorstellung der Menschen (in der Moderne) unauflöslich miteinander verbunden. Die Familie habe in der Moderne viele ihrer Funktionen verloren, geblieben seien Erziehungsfunktion und emotionale Funktion, darunter falle auch die romantische Liebe, die allerdings bei der Partnerwahl eine zentrale Stellung einnehme. Das führe zu einem Funktionswandel der Familie, in Folge dessen „die Familie sich zunehmend als erotisches Verhältnis ausbildet, wenn man diesen Begriff im breitesten Sinne versteht und alles von der ersten romantischen Annäherung bis zur Geburt und Aufzucht von Kindern darunter versteht.“ (359) Da die Erotik aber unbeständig sei, fordern die Autoren einen realistischen Umgang mit romantischer Liebe: „Verlieben werden sich die Amerikaner immer, aber man kann in diesen Prozess aufklärerisch eingreifen und das Verständnis dafür fördern, dass eine tragfähige Ehe nicht nur auf Romantik gebaut sein kann und dass eine Ehe nicht unbedingt aufgelöst werden muss, nur weil die romantischen Gefühle nachlassen.“ (361)

Ann Swidler: Liebe und Erwachsensein in der amerikanischen Kultur (1980) fragt nach den Ressourcen, „die die Gesellschaft für ein gelingendes Erwachsenenleben zur Verfügung stellt und andererseits nach den Modellen und Bildern, mit denen die neuen Herausforderungen des Erwachsenenseins kulturell verarbeitet werden“ (365). Was ein Erwachsener zu sein habe, hänge in der westlichen Kultur eng mit Liebesvorstellungen zusammen: „In der westlichen Kultur steht die Liebe an einer Zentralstelle, wenn es um die Bewältigung der Aufgaben individueller Identität, moralischer Integrität und sozialer Bindung geht.“ (371) Der ‚Liebesmythos‘ sei gekennzeichnet durch vier Gegensatzpaare: Entscheidung versus Bindung, Ausbruch versus Einbindung, Selbstverwirklichung versus Selbstaufopferung sowie Triebbefriedigung versus Triebkontrolle. Derzeit wandele sich die Liebesideologie komplett: die „jugendliche Sehnsucht nach Ausbrechen, Entscheidung, Selbstverwirklichung und freier Entfaltung von Sexualität“ (396) werde verklärt. Andererseits gebe es aber auch „Modelle des Selbst und der Liebe … die von einem ständigen Prozess der Entwicklung und Veränderung ausgehen und das Auf und Ab des täglichen Lebens, die Bemühung um ein gelungenes Leben auf seinen tieferen Sinn hin abtasten, statt alle Sinnstiftung dem dramatischen Moment des Übergangs von der Jugend zum Erwachsenenalter zu entnehmen“ (398).

Diskussion

Dieser Reader ist in mindestens zwei Hinsichten informativ und interessant, ja streckenweise sogar spannend: er stellt eine Reihe verschiedener soziologischer Ansätze vor – und das mit Originaltexten – und er behandelt ein wohl die meisten Menschen interessierendes Thema: die Liebe. Man lernt als Leser sowohl etwas über die Soziologie in ihrer Breite und Vielfalt als auch darüber, wie die Soziologie dieses Thema behandelt: zumeist verfremdend bis befremdlich und doch verweist sie auf vieles, was aus der Erfahrung der Liebe bekannt sein dürfte und regt damit zum Nachdenken darüber an. Diese aufklärerische Intention – zum Selbstdenken anzuregen – wird gerade dadurch besonders wirksam, dass dieses Buch nicht belehren will, sondern ein Spektrum von Denkansätzen und Denkmöglichkeiten vorführt. Interessant ist auch, wie sich die verschiedenen Beiträge dem Thema auf sehr unterschiedliche Weise nähern, manche frontal, mit einer kritischen Perspektive auf die romantische Liebe, manche auf Umwegen über die Untersuchung von Paarbeziehungen oder -dynamiken – man gewinnt den Eindruck, dass die Liebe kein genuin soziologisches Thema ist, eher ein Nebenschauplatz, auf dem man die Tragfähigkeit und Reichweite des eigenen Ansatzes ausprobieren kann.

Fazit

Das Buch ist interessant sowohl für Studierende, die sich mit soziologischen Ansätzen und Theorien vertraut machen wollen oder sollen, wie auch für diejenigen Leser, die sich dafür interessieren, wie eine Wissenschaft wie die Soziologie mit dem Thema Liebe umgehen kann, wo sie sich schwer tut und wo sie – weil es doch Menschen sind, die sie betreiben – befangen bleibt in den kulturell verbreiteten Vorstellungen von Liebe auch und gerade da, wo man sich um eine besonders distanzierte Position bemüht.

Rezension von
Prof. Dr. Jochen Schmerfeld
Professor für Pädagogik an der Katholischen Hochschule Freiburg

Es gibt 21 Rezensionen von Jochen Schmerfeld.

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Zitiervorschlag
Jochen Schmerfeld. Rezension vom 19.06.2015 zu: Barbara Kuchler, Stefan Beher (Hrsg.): Soziologie der Liebe. Romantische Beziehungen in theoretischer Perspektive. Suhrkamp Verlag (Berlin) 2014. ISBN 978-3-518-29678-3. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/17738.php, Datum des Zugriffs 25.01.2025.


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