Linda Supik: Statistik und Rassismus
Rezensiert von Prof. Dr. Uwe Helmert, 14.07.2015

Linda Supik: Statistik und Rassismus. Das Dilemma der Erfassung von Ethnizität. Campus Verlag (Frankfurt) 2014. 411 Seiten. ISBN 978-3-593-50197-0. D: 39,90 EUR, A: 41,10 EUR, CH: 53,90 sFr.
Thema
Im Jahr 2000 stärkte die Europäische Union mit der Verabschiedung des Antidiskriminierungsgesetzes (ADG) das Verbot der rassistischen Diskriminierung. Der Bedarf, Daten über die Ethnizität der Menschen zu erheben, ist dadurch deutlich gewachsen. Die zentrale Frage der Untersuchung ist, welche Auswirkungen die Erhebung von Ethnizitätsdaten an und für sich genommen hat, abgesehen von der Möglichkeit, Diskriminierung messbar zu machen. Im weiteren geht es um die folgenden Fragestellungen: Wie genau funktioniert diese Technologie der statistischen Erfassung von Rasse/Ethnizität? Wie und von wem werden die Entscheidungen getroffen, welche Taxonomie und welche Kategorien aufgenommen werden? Welche rassifizierten/ethnisierten Subjektpositionen werden dadurch geschaffen, weil sie zum Beispiel zwischen die verordneten fallen? Welche Möglichkeiten haben in dieser Weise regierte Menschen, auf die Kategorisierung Einfluss zu nehmen oder sich zu entziehen oder zu verweigern? Die Autorin geht diesen Fragestellungen am Beispiel des britischen Zensus seit dem Jahr 1841 nach. Sie macht aber Rassismus auch als strukturelles Problem europäischer Gesellschaften thematisierbar, sichtbar und gezielt bekämpfbar.
Autorin
Dr. Linda Supik arbeitet als Research Fellow im Forschungsschwerpunkt Interkultur am Kulturwissenschaftlichen Institut (KWI) Essen.
Entstehungshintergrund
Bei dem Buch handelt es sich um die leicht gekürzte und überarbeitete Dissertationsschrift der Autorin, die 2013 an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt am Main angenommen wurde.
Aufbau
Die Studie umfasst die folgenden acht Kapitel:
- Einleitung
- Erfassen – Statistik als biopolitische Erfassungstechnologie der Bevölkerung
- Zählen und Ordnen
- Messen – Ethnizitätsdaten erheben? Mittelbare und institutionelle Diskriminierung messen
- Entstehung und Wandel der Ordnung von Rasse/Ethnizität im Zensus von Wales und England
- Zur Vorgehensweise bei der Sekundäranalyse der ONS-NutzerInnenbefragung
- Tickbox Politics – Ergebnisse der Sekundäranalyse
- Statistik und Rassismus – der Wille zum Wissen oder zum Nicht-Wissen
Im ersten Teil (Kapitel 2-4) der Studie wird die theoretisch-konzeptuelle Grundlage erläutert. Im zweiten Teil (Kapitel 5-8) geht es um die empirisch angelegte Untersuchung zur Ethnischen Ordnung im Zensus von England und Wales.
Inhalt
In Kapitel 2 beschäftigt sich die Autorin mit der amtlichen Statistik und Volkszählungen als Regierungstechnik und setzt sich mit der Geschichte der Statistik als Herrschaftsinstrument auseinander. Schlaglichtartig wird dabei auch die Rolle der amtlichen Statistik im Nationalsozialismus behandelt. Im nationalsozialistischen Deutschland spielte die „restlose Erfassung“ (Aly/Roth 2005) der Bevölkerung eine zentrale Rolle beim bürokratisch angeleiteten Massenmord an den europäischen Juden und anderen Minderheiten.
In Kapitel 3 wird zunächst die spezifisch diskursive Macht von Zahlen und in Zahlen gefasstem Wissen erläutert, um die Frage zu beantworten, was quantifiziertes Wissen gegenüber verbalem Wissen auszeichnet. Danach werden zwei Teiltechnologien der statistischen Erfassung genauer betrachtet: die Taxonomien der Ethnizität und die Taxonomien der Migration.
In Kapitel 4 wird der Blick auf die Anwendungsseite von Statistiken über Rasse/Ethnizität gerichtet. Zunächst werden die verschiedenen Verwendungszwecke von Ethnizitätsdaten typisierend und skizzenhaft voneinander unterschieden, um zu verdeutlichen, dass die Mehrzahl von staatlichen Regierungsprogrammen, in denen solche Daten zum Einsatz kommen, eher dem Ziel der Diskriminierung als der Gleichbehandlung dient. Im nächsten Schritt wird das derzeit entstehende EU-Programm der Antidiskriminierungspolitik in seinen gesellschaftlichen Entstehungskontext gestellt. Danach geht es konkret um die Messung von Diskriminierung. Hier zeigt sich, wie die der statistischen Erfassungstechnologie immanenten Effekte, die bei der statistischen Erfassung von Rasse/Ethnizität zu rassistischen Effekten werden, in ein Dilemma münden.
Statistische Ämter stellen die von ihnen im Zensus oder anderwärtig erhobenen Daten generell für Regierungszwecke zur Verfügung. Sie werden dabei bewusst auf Vorrat gehalten. Verwendungszwecke bestehen unter anderem in der Migrationspolitik, der Sicherheitspolitik (Kriminalität und Terrorismus) und in der Integrationspolitik. Mit anderen Worten: Ethnizitätsdaten werden nicht nur zur Bekämpfung von Diskriminierung, sondern vor allem und in erster Linie zur gezielten, staatlichen Diskriminierung eingesetzt. Der sicherlich größte Einsatzbereich in Einwanderungsländern, wie z. B. Deutschland, ist die Beobachtung, Überwachung und Kontrolle von Migration. Im Hinblick auf die EU geht es um die Verhinderung oder zumindest Begrenzung der Einwanderung in die EU und die gezielte Selektion einiger weniger, insbesondere hochqualifizierter MigrantInnen, und außerdem um die Selektion nach Herkunftsländern. In der Europäischen Union werden im Rahmen der nationalen Volkszählungen in den meisten Mitgliedsstaaten keine Ethnizitätsdaten erhoben, und es bestehen weiterhin große Vorbehalte dagegen. Britannien bildet hier einen Ausnahmefall. Dort hat sich im Verlaufe einiger Dekaden eine Ethnic Monitoring Praxis entwickelt und etabliert, die inzwischen kaum mehr infrage gestellt wird.
Im zweiten, dem empirischen, Teil der Studie beschäftigt sich die Autorin mit den Ethnizitätskategorien des britischen Zensus. Dazu wird in Kapitel 5 zunächst festgestellt, dass es in Britannien seit 1841 in jedem Zensus eine Frage nach dem Geburtsort gegeben hat, und von 1851 bis 1961 gab es eine Frage nach der Nationalität im Sinne von Staatsangehörigkeit. Diese Frage wurde dann seit 1971 nicht mehr gestellt. Stattdessen wurde im 1971er Zensus eine Frage zum Geburtsort der Eltern aufgenommen. Seit dem Zensus von 1991 ist eine Frage nach Ethnizität im Sinne einer subjektiven Selbstauskunft enthalten. Legitimiert wird diese Frage mit dem Erfordernis, Diskriminierung besser messbar zu machen. Im Zensus von 2011 hat sich die Ethnizitätsfrage wiederum verändert. Es wurden zusätzlich die Kategorien „Gypsy or Irish Travellors“ innerhalb der Metakategorie „Weiss“ und „Arabisch“ innerhalb der Metakategorie „Andere ethnische Gruppen“ aufgenommen. Die heftigen Debatten über die Ethnizitätsfrage im Zensus in Britannien bis zum Jahr 2000 verloren nach der Jahrtausendwende an Dynamik. Diese grundsätzliche Debatte scheint mittlerweile abgeschlossen zu sein. Es lassen sich nur noch wenige Beiträge finden, die das Unterfangen allgemein in Frage stellen.
In den Kapiteln 6 und 7 wird die von der Autorin durchgeführte Sekundäranalyse der ONS-NutzerInnenbefragung von 2006/07 dargestellt. Es werden Portraits der Antworten für die folgenden Organisationen präsentiert: African Women´s Group Aberdeen, Federation of Irish Societies, sowie das Sichelzell- und Thalassämiescreeningsprogramm des Nationalen Gesundheitssystems (NHS).
Kapitel 8 enthält das Fazit der Untersuchung: Statistik und Rassismus – der Wille zum Wissen oder Nicht-Wissen? Die vorliegende Studie fragte danach, welche Auswirkung die Erhebung von Ethnizitätsdaten auf die gesellschaftliche Wahrnehmung von Rassismus hat? Menschen, bildlich gesprochen, in Schubladen zu stecken, also kategorial zu ordnen, ist an sich schon ein Akt der Diskriminierung. Dies ist kein neues Dilemma. Aber angesichts der neueren Antidiskriminierungsgesetzgebung der EU und der sich in diesem Zusammenhang aktuell und praktisch stellenden Frage nach Gleichstellungsdaten und Equality Monitoring wird es in der vorliegenden Studie einer erneuten und intensiveren Reflexion unterzogen. Die amtliche Statistik stellt die Bevölkerung als les- und regierbare Entität her und macht sie weiteren Programmen des Regierens zugänglich. Abschließend formuliert die Autorin die folgenden fünf Fragen:
- Welcher Einfluss kann darauf genommen werden, ob statistische Erhebungen bzw. das zur Verfügung Stellen der eigenen Daten freiwillig oder verpflichtend ist?
- Wie viel und welchen Einfluss können potentielle Antwortende darauf ausüben, in welcher Form ihre Antwort registriert wird.
- Inwieweit haben Antwortende die Möglichkeit, die für sie zutreffende Antwort selbst zu bestimmen? Das Gegenteil wäre die Fremdkategorisierung.
- Inwieweit können Antwortende kontrollieren, was nach der Erhebung mit ihren Daten weitergeschieht?
- Welche Möglichkeiten bestehen, über einen defensiven Ansatz auf der individuellen Ebene in Bezug auf persönliche Daten hinaus zu gehen, hin zu Arrangements, die die Informationsgesellschaft ernsthaft demokratisieren?
Zielgruppen
Zielgruppen für das Buch sind Statistiker, Demografen, Historiker, Soziologen und Politologen.
Fazit
Am Beispiel des seit 1841 erhobenen britischen Zensus zeigt Linda Supik, dass die statistische Erfassung von Ethnizität unvermeidlich rassifizierende Effekte hervorbringt. Sie macht aber gleichzeitig Rassismus auch als strukturelles Problem europäischer Gesellschaften thematisierbar, sichtbar und gezielt bekämpfbar.
Ein sehr lesenswertes Buch für alle, die sich anhand der Situation in Großbritannien, intensiver mit dem Problemkreis Statistik und Rassismus auseinandersetzen möchten.
Rezension von
Prof. Dr. Uwe Helmert
Sozialepidemiologe
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