Arno Gruen: Wider den Gehorsam
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 19.11.2014
Arno Gruen: Wider den Gehorsam. Klett-Cotta Verlag (Stuttgart) 2014. 97 Seiten. ISBN 978-3-608-94891-2. D: 12,00 EUR, A: 12,40 EUR, CH: 17,90 sFr.
Thema
Gehorsamkeit ist die Unterwerfung des eigenen Willens unter den eines anderen. Die Wortbedeutung „Gehorsam“ unterliegt gesellschaftlichen, kulturellen und ideologischen Bedingungen, wie sich dies in Sprichwörtern, Volksliedern, politischen Programmen, in Theaterstücken und in der Literatur ausdrückt; da wird „militärischer Gehorsam“ vom Soldaten gefordert; das Kind soll den Eltern gehorchen; die Gläubigen von Religionsgemeinschaften sollen die religiösen Gebote befolgen;; von „Gehorsamspflicht“ wird gesprochen, wenn es darum geht, die Gesetze einzuhalten, die für ein Gemeinschaftsleben notwendig sind; und „Kadavergehorsam“ wird bezeichnet, wenn jemand seinen eigenen Verstand und seine Kritikfähigkeit an Regeln abgibt, die andere Autoritäten aufstellen und einfordern. Die Auseinandersetzung mit dem Begriff und die Einstellung muss also differenziert geführt werden: Eine „solidarische Gehorsamkeit“, bei der eigene, egoistische Erwartungshaltungen zugunsten von gesellschaftsförderlichen und demokratischen Zielsetzungen und Perspektiven zurückgestellt werden, ist ohne Zweifel anders zu bewerten, als eine an die herrschende Macht und Ideologie abgegebene Anpassung.
Unser Verständnis von Demokratie, Selbstbestimmung und freiheitlichem Denken und Handeln ist ja eingemeißelt in die „globale Ethik“, wie die in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte postulierte humane Menschheitsdefinition bezeichnet wird: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen“. Da ist keine Rede davon, dass ein Mensch dem anderen untertan sein soll, dass einer bestimmen und der andere gehorchen soll, dass ein Mensch sich vor einem anderen bücken soll; dass es Herrenmenschen und Knechte geben sollte… Vielmehr lebt Demokratie von kritischen, gleichberechtigten Bürgerinnen und Bürgern.
Entstehungshintergrund und Autor
Es geht hier nicht um Anarchie, also um die Ablehnung von Werten und Normen, die für ein friedliches, gerechtes, humanes Zusammenleben der Menschen in einer Gesellschaft und in der Weltgesellschaft unverzichtbar und geboten sind, sondern um den kritiklosen, blinden Gehorsam, der den Menschen zum Werkzeug für Machtausübung degradiert und dadurch zu einer leeren Hülle des Gehorchens macht.
Der 1923 in Berlin geborene, 1936 in die USA emigrierte und seit 1979 in der Schweiz lebende, lehrende und praktizierende Psychoanalytiker Arno Gruen, ist auf dem deutschen Fachbüchermarkt kein Unbekannter. Seine Bücher mit den bezeichnenden Titeln – „Dem Leben entfremdet“, „Der Fremde in uns“, u. a. – verdeutlichen, worum es ihm geht, nämlich aufzuzeigen, dass „das Bedürfnis nach Gehorsam ( ) ein grundlegender Aspekt unserer Kultur (ist)“, und es notwendig ist, uns bewusst zu machen: „Wir leugnen sogar, moderne Sklaven und Knechte des Gehorsams geworden zu sein“. Damit schlägt er den Boden von der etymologischen und philosophisch-existentiellen Auseinandersetzung um den Begriff „Gehorsam“ hin zur aktuellen, lokalen und globalen, lebensweltlichen Bedeutung. Er knüpft damit an sein Konzept von der „Kultur der inneren Autonomie“ an, das er in seinem Buch „Der Kampf um die Demokratie“ (2002) dargelegt hat und als Prozess der Selbstfindung verstanden werden kann.
Aufbau und Inhalt
Neben dem Prolog, in dem er das Phänomen „Gehorsam (als) das Grundproblem unserer Zivilisation“ bezeichnet, und dem Schlussteil, in dem er zusammenfassend feststellt, dass der „Kampf gegen den Gehorsam nicht nur mit dem Verstand, sondern auch mit den Gefühlen“ geführt werden müsse (vgl. dazu auch: Martha C. Nussbaum, Politische Emotionen. 2014, www.socialnet.de/rezensionen/17720.php), gliedert der Autor seine Reflexionen in weitere acht Aspekte:
„Das Problem des Gehorsams“ identifiziert er als einen pathologisch zu bezeichnenden Aspekt unserer kulturellen Identitätsfindung. Das zeigt er an einer Reihe von Beispielen auf und plädiert dafür, die Bestandteile des in unserer Kultur eingelegten kritiklosen, blinden Gehorsams aufzudecken.
Mit „Entwicklung und Gehorsam“ verweist er auf die subtilen, bewussten wie unbewussten Einstellungen und Verhaltensweisen, wie sie sich in Erziehungs- und Akkulturalitätsprozessen vollziehen.
Mit der Suche nach den „Ursachen des Gehorsams“ kommt Gruen zu der Überzeugung, dass sie „unmittelbar mit der Entfremdung verbunden“ sind. Der Psychoanalytiker findet bei der Ergründung von Unterordnungs- und Gehorsamshaltungen eine Reihe von Gründen, die sich als „fehlende Identität und Zerstörung“ darstellen.
Den Zusammenhang von „Autorität und Gehorsam“ stellt der Autor mit den Begriff der „pathologischen Treue“ her, die er mit seinen psychotherapeutischen Erfahrungen belegt. Wie kann es gelingen, „Wege aus dem Gehorsam“ zu finden? Durch Nachdenken über die sich in der individuellen und kulturellen Identitätsentwicklung vollziehenden Mechanismen, die dazu führen (können), dass „sich der Mensch von sich selbst entfremdet“.
Mit Verweis auf Staatstheorien, die Machtstrukturen des Gehorsams herausbilden, zeigt er die Strukturen auf, die Unterordnung, Gehorsamkeit und Anpassung fordern und erzwingen. Die Diskrepanz zwischen „Fundament und Pathologie“ bei der Auseinandersetzung mit Gehorsamsentwicklungen erläutert Gruen anhand von Studien und Forschungsergebnissen, etwa mit dem „Experiment von Milgram“, in dem deutlich wird, dass „Gehorsam … der psychologische Mechanismus (ist), durch den individuelles Handeln an politische Zwecke gebunden wird“.
Fazit
Es sind eher kurzgefasste Gedankensplitter und Denkanregungen, mit denen Arno Gruen argumentiert. Sie fordern die eigene Denkanstrengung und die intellektuelle, differenzierte Auseinandersetzung mit der Bewertung heraus, dass Gehorsam destruktiv ist: „Gehorsam grenzt das Denken ein und verneint die Realität“. Individuelle und lokal- und globalgesellschaftliche Lösungsansätze können nicht auf Rezepten verordnet werden; vielmehr bedarf es des Entdeckens und Erfahrens, dass humanes Denken sich in unterschiedlichen Kategorien und Denksystemen zeigt, als intuitives und bewusstes Denken (vgl. dazu auch: Daniel Kahneman, Schnelles Denken, langsames Denken, 2014, www.socialnet.de/rezensionen/17709.php). Gelingt es nämlich, die Entwicklung von Verhaltensweisen und Festlegungen im menschlichen Miteinander als ganzheitliche Entwicklungen zu begreifen, lässt sich Positives erkennen: „Eine bessere Welt wird sichtbar, wenn der verblendete Gehorsam aufgebrochen wird und sich in echte zwischenmenschliche Empathie verwandelt“.
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
Mailformular
Es gibt 1685 Rezensionen von Jos Schnurer.
Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 19.11.2014 zu:
Arno Gruen: Wider den Gehorsam. Klett-Cotta Verlag
(Stuttgart) 2014.
ISBN 978-3-608-94891-2.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/17742.php, Datum des Zugriffs 25.01.2025.
Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt.
Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns.
Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen
für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.