Patrick Primavesi, Jan Deck (Hrsg.): Stop Teaching! Neue Theaterformen [...]
Rezensiert von Prof. Dr. Hans Wolfgang Nickel, 22.08.2016
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Patrick Primavesi, Jan Deck (Hrsg.): Stop Teaching! Neue Theaterformen mit Kindern und Jugendlichen. transcript (Bielefeld) 2014. 338 Seiten. ISBN 978-3-8376-1408-4. 29,99 EUR.
Thema
Unter der Überschrift „Stop Teaching!“ wollen die Herausgeber „Neue Theaterformen mit Kindern und Jugendlichen“ präsentieren.
Herausgeber
Herausgeber (zugleich Autoren) sind Patrick Primavesi, „Professor für Theaterwissenschaft an der Universität Leipzig und Direktor des Tanzarchivs Leipzig“ (S. 332), und Jan Deck, „freier Dramaturg, Regisseur, Kurator und Autor“ (326).
Entstehungshintergrund
Die Publikation geht zurück auf „Symposion und Festival Stop Teaching! Neue Theaterformen mit Kindern und Jugendlichen am Frankfurter Künstlerhaus Mousonturm im September 2008“ (11).
Aufbau
„Stop Teaching!“ beginnt nach dem Vorwort mit „Grundlagen und gesellschaftlicher Kontext“, dem umfangreichsten Kapitel (13ff, insgesamt 7 Beiträge); es folgen
„Projekte und Arbeitsweisen“ mit 11 Beiträgen (155ff); abschließend werden vier „Institutionen“ vorgestellt (285 – 319).
Zum Vorwort
In ihrem Vorwort stellen Deck/Primavesi fest: „Seit einigen Jahren wird in den Darstellenden Künsten verstärkt mit Kindern und Jugendlichen als Akteuren gearbeitet“; das soll auch heißen, so Primavesi und Deck: sie werden „ernst genommen mit spezifischen Erfahrungen und Fähigkeiten“, denn diese „Produktionen gehen weit über den Rahmen von Laien- oder Schultheater hinaus, oft handelt es sich um professionelle Experimente mit zeitgenössischen Theaterformen, Performance und Tanz.. Solche Projekte zielen auch nicht in erster Linie darauf,“ Kinder und Jugendliche „durch Theater zu erziehen oder ihnen gesellschaftliche Themen zu vermitteln, sondern von ihnen als Experten ihrer eigenen Lebenswelt zu lernen… Theater bekommt dadurch den Charakter eines sozialen Experiments, in dem jeder Mensch mit seiner eigenen Geschichte, Erfahrung und Persönlichkeit einen wichtigen Beitrag leisten kann“ (9). Dabei „werden Methoden der Recherche, der Dokumentation und der szenischen Montage angewandt und im Moment der Aufführung gemeinsam mit dem Publikum erprobt: ein lebendiges Erforschen gesellschaftlicher Themen statt ihrer psychologisch motivierten Verarbeitung zu gängigen Stereotypen“ (9); „Lerneffekte“ werden „nicht mehr durch vordergründig pädagogische Zielvorgaben gesteuert“ (10). Eine recht vollmundige Ankündigung also eines ganz ‚anderen“ Theaters!
Immerhin räumen Primavesi/Deck ein: „Mittlerweile reicht ja auch das Selbstverständnis des etablierten Kinder- und Jugendtheaters längst über die Belehrung eines jungen Publikums hinaus. Aber wie weit geht die Bereitschaft, sich auf Theater als Situation mit offenen, veränderlichen Positionen und Funktionen einzulassen?“ Und: „… welche Rolle spielen dabei die Lehrer? Sind sie weiterhin Regisseur, Spielleiter und Choreograph, wie es in der Praxis des Schulfaches ‚Darstellendes Spiel‘ oft der Fall war, oder eher Betreuer und Beobachter, die nicht selber gestalten, sondern vielmehr Freiräume zur Gestaltung eröffnen sollen – wie es schon Walter Benjamin (1973, 1929) in seinem von der Regisseurin Asja Lacis inspirierten Programm eines proletarischen Kindertheaters gefordert hat?“ (10).
Dann eine Absicherung: „Stop Teaching! soll natürlich nicht heißen, alles Pädagogische aus dem Theater zu verbannen, Kinder und Jugendliche auf der Bühne und im Zuschauerraum nur noch sich selbst zu überlassen.“ Und schon folgt der erste Hinweis auf „Tim Etchells Inszenierung That Night Follows Day“ (10). Und wieder absichernd: „Ohne Anspruch auf Vollständigkeit geben die hier dargestellten künstlerischen Projekte, zusammen mit theoretischen Reflexionen… und mit Erfahrungsberichten aus den beteiligten Institutionen, erstmals einen breiten Überblick zu der genannten Tendenz“ (11). [1]
Zu „Grundlagen und gesellschaftlicher Kontext“
Patrick Primavesi eröffnet den Reigen der Beiträge mit „Stop Teaching! Theater als Laboratorium (a)sozialer Phantasie“ (15 ff): „Wenn derzeit häufiger mit nicht-professionellen Akteuren gearbeitet wird, geht es nicht bloß um die Vorführung des Authentischen und die Wirklichkeit des echten Lebens, außerhalb des Theaters. Vielmehr wird damit versucht, auch den Zuschauer als jemanden anzusprechen, der in seiner alltäglichen, mehr oder weniger durchschauten Lebenswirklichkeit selbst als Darsteller aufzutreten gewohnt ist … jenseits des Konsums von Illusionen. Das gilt gerade für die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen, die im Theater nicht mehr nur als Zuschauer ernst genommen werden sollten, sondern auch als Akteure und Experten ihres eigenen Alltags.“ Dadurch kann Theater „auf neue Weise als Spielraum erprobt werden, als ein offenes Labor für (un-)menschliches, soziales und asoziales Verhalten, mit einem nicht mehr bloß didaktisch abbildenden, interpretierenden und normierenden Bezug zur alltäglichen Erfahrung“ (16). Primavesi nennt das „Theater als kollektives Lernen, mit offenem Ausgang“ (17ff) und fragt: „Was könnte Lernen im Theater bedeuten, wenn der Anspruch auf Belehrung einmal ausgesetzt wird? Vielleicht ermöglichen und erfordern neue Theaterformen auch andere Formen des Lernens, jenseits von Rollenspiel und pädagogischen Zielvorgaben – also vielleicht nicht in erster Linie urteilen lernen, sondern zu allererst wahrnehmen lernen und reflektiertes Verhalten lernen.“ [2] Wieder wird auf Benjamin verwiesen, bleibt sein „Programm doch gerade in der Forderung aktuell, das Theater als einen Freiraum zum Ausprobieren von Verhalten zu nutzen und zu verteidigen, auch gegen seine pädagogische Instrumentalisierung … Dementsprechend sind für Kinder nicht nur die lange schon als pädagogisch wertvoll eingestuften Arbeitsweisen und Formen von Theater als Rollenspiel zuträglich, sondern auch experimentelle Formen, die mit den alltäglichen, oft genug destruktiven Wahrnehmungs- und Verhaltensweisen zugleich die Machtverhältnisse und symbolischen Ordnungen des Alltags aufs Spiel setzen können.“ (18) Folgt wieder ein Hinweis auf Brechts Lehrstücke. „Dass die Lehrstücke auch mit ihrer produktiven Verknüpfung von Spiel und Reflexion weit über die im Schulunterricht bis heute vermittelten Klischees eines autoritären Belehrungstheaters hinausgehen, hat bereits Reiner Steinwegs Edition (1976) von programmatischen Entwürfen und Kontexten dieses ‚Modells‘ gezeigt“ (22; nota bene: bei Steinweg steht nichts von „Belehrungstheater“). Es folgen weitere Hinweise: auf die „Societas Raffaelo Sanzio“ (23) und auf „die Gruppe Rimini Protokoll“, die in „Airport Kids (2008) mit den vor allem auf Flughäfen lebenden Kindern von Diplomaten und Geschäftsleuten extreme Beispiele einer Globalisierung von Identität vorführte.“ (24, „vorführte“?). Überraschend die Schlussfolgerung: „Diese und viele weitere Beispiele können … doch insgesamt zeigen, dass es bei einem Theater mit Kindern und Jugendlichen heute weder um bloß pädagogische oder bloß um künstlerische Interessen und Ziele geht, eher um produktive Wechselwirkungen zwischen beidem“ (25).
Nach Hinweisen auf Rancière und dessen (eigentlich selbstverständliche) „These, dass jeder Zuschauer schon durch seine Wahrnehmung aktiv sei“ (25), folgert Primavesi: „Wenn die Instrumentalisierung des Theaters zu Zwecken der Bildung und Erziehung stets davon ausging, dass dieser Vorgang als gemeinsames Bildungserlebnis systematisch zu optimieren wäre, lässt die von Rancière (und zum Teil auch vom Brecht der Lehrstücke) formulierte Perspektive Theater als ein notwendig disparates, kontroverses Ereignis erscheinen. Anstatt die Ansichten und Meinungen der Zuschauer vorschreiben und kontrollieren zu wollen,“ [3] „sollte es vor allem Raum für unterschiedliche Reaktionen und Verhaltensweisen geben.“ (27). Primavesi konstatiert eine „Politik der Ausschließung“ und meint: „Gegenwärtig wird auch im Theater häufiger versucht, die etablierte und vorherrschende Politik der Ausschließung aufzubrechen, Stimmen hörbar zu machen, die ansonsten überhört werden und keine Resonanz finden“ (30) – gegenwärtig? [4]
Abschließend stellt Primavesi unter der Überschrift „Theater Victoria oder Die Kinder auf die Bühne!“ (31-43) ausführlich das Genter Theater und Inszenierungen von Alain Platel vor; er zitiert zunächst aus einem „Überblick zur flämischen Theaterszene“ von Jans/Opsomer (1993, 25 ff): „Der Schwerpunkt verlagerte sich von einem Theater für Kinder zu einem Theater von Kindern, um ihnen schon im Handeln eine kritische Haltung gegenüber der gesellschaftlichen Realität beizubringen“ (beizubringen!). „Der Pädagogik“, so Jans/Opsomer, „steht nun eine bewusste Anti-Pädagogik gegenüber. Die Anti-Pädagogen plädieren für eine nicht-hierarchische, respektvolle Einstellung gegenüber dem Kind und seiner Eigenart. Im Theater werden Werte wie Emotionalität, Spontaneität, Erstaunen, Phantasie und ein eher assoziatives Denken neu definiert“ (32). Dazu Platel: „‚In unseren Familienstücken waren die Kinder völlig gleichberechtigt. Später fiel mir irgendwann auf, dass Stücke mit Kindern eine richtige Mode geworden waren, plötzlich gab es überall Kinder auf der Bühne, und da hatte ich dann keine Lust mehr dazu. Vielleicht kommt das wieder, aber im Moment will ich das nicht.‘ (2007: 61).“ (40) „Unter dem programmatischen Titel Kinder gibt es (nicht). Ein Blick auf das Jugendtheater“, so Primavesi, „gab der belgische Theaterkritiker, Dramaturg und Regisseur Klaas Tindemans im Jahr 2009 eine Einschätzung der Situation: ‚Der große Unterschied zwischen einem pädagogischen Kinderbild und einem künstlerischen Kinderbild – als Theaterthema und als Publikum – ist schon eine erste Erklärung für die Kluft. Die Kinder – Figuren – im Jugendtheater sind meistens nicht sozial integriert.‘ (2009 b: 101 f).“ [5] (41) -
Jan Decknennt seinen inhaltlichen Beitrag „Paradoxe Verhältnisse. Zum biopolitischen Kontext der Theaterarbeit mit Kindern und Jugendlichen“ (47ff).
„Zwei Parolen waren“, so Deck, „prägend für die mit großem Eifer geführten Bildungsdebatten: Zum einen die Feststellung, dass Deutschland keine Rohstoffe habe, weshalb man in die Köpfe der Kinder investieren müsse … ein zweites Argument, die sogenannte demographische Wende.“ (47) Ähnlich wie Unicef opponiert Deck gegen die „Ökonomisierung der Bildung“: „‚Sind Kinder nur dazu da, die Weiterentwicklung der Gesellschaft zu sichern, den Reichtum der Erwachsenen zu halten … und sich sonst in die Vorgaben der Erwachsenenwelt und deren Zukunftsvorstellungen einzufügen?‘, fragt der von UNICEF veröffentlichte Bericht zur Lage der Kinder in Deutschland (Bertram 2008).“ (52) Aus Henning Süßebach (Liebe Sophie! Brief an meine Tochter, 2013) zitiert Deck einen Hamburger „Fragebogen zur Einschätzung von 4-jährigen Kindern, in dem in 64 Teilbereichen die ‚Kompetenzen des Kindes‘ angefragt werden – an erster Stelle und besonders ausführlich ‚Selbstkonzept und Motivation‘, also Leistungsbereitschaft. ‚Das Kind ist beharrlich und ausdauernd‘, ‚Das Kind zeigt Eigeninitiative‘, ‚Das Kind ist motiviert, etwas zu schaffen oder zu leisten‘ und so weiter. Erst später – und deutlich knapper – geht es um das eigene Körpergefühl, um Musik und Kreativität.‘ (ebd.: 72). Kinder und Jugendliche sollen sich selbst beobachten und selbst optimieren.. Im Kontext der bestehenden Verhältnisse wird Eigenverantwortung zur Einsicht in die Notwendigkeit einer ständigen Selbstoptimierung. Ähnliche Tendenzen zu einer restlosen Funktionalisierung und Instrumentalisierung von Kreativität sind längst auch im Bereich der Künste zu beobachten.“ (53) [6] Überdies: „In vielen Produktionen und Kontexten dominiert immer noch ein pädagogisches und belehrendes Verständnis von Theater“ (53). Es gibt aber mittlerweile auch „Gegentendenzen. neue Formen von Theater mit Kindern und Jugendlichen, die als Experten ihres eigenen Alltags ernst genommen werden.“ (55) Dann wird (wiederum!) verwiesen auf Tim Etchells und ‚That Night Follows Day‘: „Die Kinder bleiben im disziplinierten Chor – mit Ausnahme einer Szene, in der sie für eine begrenzte Zeit herumrennen und sich austoben dürfen.“ (55f – dürfen!)
Deck benennt in seinem Beitrag „vier Paradoxien“; die erste „betrifft die Arbeitsweise. … Die Kinder und Jugendlichen auf der Bühne werden. wie professionelle Schauspieler oder Performer behandelt. Sie werden bezahlt, müssen sich im Rahmen ihrer Möglichkeiten in professionelle Arbeitsstrukturen einordnen und werden auch hin und wieder durch das ansonsten übliche Casting-Verfahren ausgewählt.“ (56) Unklar die „zweite Paradoxie“, sie „betrifft die Darstellungsweise. … Diese Performances gleichen einem Versuchslabor, in dem unter bestimmten, klar definierten und künstlich hergestellten Rahmenbedingungen ‚wirkliche‘ Ereignisse ausprobiert werden.“ (57) Eine Aufführung, denke ich, ist immer ein wirkliches Ereignis; sie ‚wirkt‘ – wie auch immer – auf Zuschauer wie Macher. „Eine dritte Paradoxie betrifft den Darstellungsinhalt.“ Dabei ist ein „kritischer Umgang mit den Lebenswelten und ihren Leitbildern. notwendig. Das gemeinsame Entwickeln künstlerischer Forschungsmethoden, die eine kritische Befragung ermöglichen, ist unerlässlich, will man“ (Der Regisseur? Die SpielerInnen?) „nicht bei einer bloßen Affirmation stehen bleiben“ (58). „Als eine weitere, vierte Paradoxie“ nennt Deck „die Frage nach der Sichtbarkeit“, sind doch „Kinder und Jugendliche heute absolut transparent. … Auch in sozialen Netzwerken zelebrieren viele ihre Selbsttransparenz,“ ein „Transparenzdiktat,. das zum Alltag von Kindern und Jugendlichen gehört. Die Frage an Künstler ist in diesem Zusammenhang, wie man in den Darstellenden Künsten die Perspektive von Kindern und Jugendlichen thematisieren kann, ohne diesen Transparenzzwang einfach nur zu reproduzieren.“ (60). Eine „Frage an Künstler“ – nicht an die Spielgruppe?
Auch bei Deck geht es dann um „die Produktion Before your Very Eyes“, die „Gob Squad mit Acht- bis 14-Jährigen erarbeitet hat“ (60f); anschließend um „Teenage Riot der belgischen Gruppe Ontroerend Goed“ (61). „Natürlich“ (wieso natürlich?) „spielt Teenage Riot auch mit Jugendklischees, mit Stereotypen von adoleszentem Rebellentum.“ (Wer spielt da: die Jugendlichen?) „Doch im Kontext des biopolitischen Zwangs zur Selbstoptimierung wirken diese Posen tatsächlich subversiv.“ (63) Im Kontext des Zwangs subversiv?
„Worauf es ankommt, ist … die grundsätzliche Feststellung, dass eine Kunstform für diese Altersgruppe unweigerlich zum Teil eines-Bildungsdispositivs (sic!) wird, das in der Wechselwirkung von Macht und Wissen letztendlich eine biopolitische Normalisierung betreibt.“ (65) – ‚unweigerlich‘? „Wichtig aber ist zunächst einmal der Ansatz, jeden direkten Anspruch auf Erziehung, Belehrung, Integration oder Bildung aufzugeben, und in den Arbeitsprozessen ebenso wie in Aufführungssituationen die gewohnten Hierarchien des Wissens oder Könnens aufzulösen. … Im Kontext der vier oben beschriebenen Paradoxien fällt den Theaterexperten ja immer noch die Rolle zu, die gemeinsamen Forschungen in künstlerische Prozesse und Produktionen münden zu lassen“. (65) [7] -
In ihrem klaren, kenntnisreichen Beitrag„Vom Hoffnungsträger zum Problemfall – Kindheitsbilder im Theater für Kinder“ zitiert Ingrid Hentschel einleitend eine Definition von Dieter Richter: „Kindheitsbild meint die Entwürfe und Vorstellungen, die sich eine Epoche, eine soziale Gruppe oder auch ein Einzelner von Kindern macht und die individuell und gesellschaftlich außerordentlich wirksam sein und das Verhalten gegenüber ‚wirklichen‘ Kindern durchaus beeinflussen können. (Das fremde Kind, 1987: 19)“ (69). „Heute“, so Hentschel, „ist es Kompetenztheater, das Kinder im Rahmen der Konzepte der kulturellen Bildung in der Entwicklung ihrer Kompetenzen unterstützen soll.“ (71) In der Folge greift Hentschel markante Beispiele heraus; das ergibt keine Geschichte des Kindertheaters in nuce, aber eine gelungene Periodisierung, die schlaglichtartig Zeitströmungen sichtbar macht – wobei die Reichhaltigkeit des Kindertheaters dafür sorgt, dass Gegenströmungen, konservative und experimentelle, immer AUCH vorhanden sind.
Hentschel beginnt mit „Das soziale Kind: Politik, Befreiung, Utopie“ (72 ff), verweist auf „Schauspieler“, die „die etablierten Theaterinstitutionen verließen und auf die Straße, in die Jugendzentren und Schulen gingen, um vor Ort ganz reale Wirkungen zu erzeugen“ (72 f). Die Kinder dieses Kindertheaters „sind Vorreiter der Politisierung der Erwachsenen, wie noch 1982 in dem Stück Dicke Luft.. … Das Kind erscheint vorrangig als gesellschaftliches Wesen, das befähigt wird, soziale Prozesse zu erkennen, und dem zugetraut wird, später verändernd in die Zukunft einzugreifen“ (74). Dann „Das psychologische Kind: Die neue Innerlichkeit“ (75ff); zugleich „entfaltete sich eine reiche, an der Psychoanalyse orientierte Therapiekultur“ (75); Prototyp ist ‚Prinz Ohnetrauer‘ vom Unga Klara Theater. Stellvertretend für „Das egalitäre – das befriedete Kind“ (77f) stehen ‚Die Nachtvögel‘ von Rudolf Herrfurtner. „Nicht Erkenntnis, keine Lösung, auch kein Happy End – eher ist es Empathie, die dieses Stück bei seinen Zuschauern herausfordert.“ (78). Dann „Das ästhetische Kindertheater als Theater für alle“ (78f). „Ein Autor, der diese Vieldeutigkeit am besten beherrscht, ist sicherlich F.K.Wächter. Die ästhetische Wende im Theater für Kinder begünstigt eine spielerische Ästhetik, die Bezug nimmt auf das Kinderspiel und seine Verwandlungsfähigkeit.“ (79). Es folgt „Paradoxe Kindheit: Wesen mit eigenem Recht und doch defizitär“ (80ff). „Anstelle des magischen ‚Als-ob‘ der traditionellen Rollendarstellung begreift Theater zunehmend seinen Charakter einer lebendigen Begegnung zwischen Schauspielern und Zuschauern in einem realen Raum, führt reale Aktionen aus. Kindertheater ist heute vor allem Theater und erst in zweiter Linie für Kinder gedacht. Bildertheater, Performance, Tanztheater, Installationen, all diese Formen sind auch im Theater für Kinder zu sehen. … Der Fokus der Rezeption verlagert sich vom Verstehen zum Erleben“ (81).
Gegenwärtig: „Das gefährdete Kind – Problemkindheit – Bildungskindheit“ (83ff). „Kindheit im Jahre 2014 scheint vor allem eins zu sein: problematische Kindheit, gefährdete Kindheit. Die Kinder werden immer weniger … sie sind immer kürzere Zeit Kind: die Pubertät setzt heute schon mit elf Jahren ein, die Konsumindustrie tut ein übriges, Kindheit zu verkürzen und die Phase der Jugendlichkeit zu verlängern. In dieser Situation“ so Hentschel, „heißt Kindertheater immer häufiger nicht Theater für Kinder, sondern Theater mit Kindern. Zusammen mit dem egalitären Kindheitsbild in der Pädagogik ist die Autonome Ästhetik des Kindertheaters auf dem Rückzug. Das Kind wird wieder zum Objekt von Erziehungsstrategien, nun ‚Bildungsprogramme‘ genannt.“ Dabei „werden kulturelle Angebote für Kinder nun nach ihrem Bildungswert befragt und evaluiert.. So steht auch der Begriff des Lernens wieder im Zentrum der Pädagogik und der Künste. … Das Kind ist der potentielle Athlet, dessen Ausbildung um keinen Preis versäumt werden darf“ (83f). Hentschel schließt mit einem Plädoyer: „Vom Objekt zum Subjekt – lasst die Kinder raus!“ (87). „Benutzen wir das Theater der Kinder doch auch einmal dazu, den Kindern ein Forum zu geben, Kinderöffentlichkeit darzustellen. Lassen wir uns etwas sagen von ihnen! Lassen wir sie spielen und spielen wir für sie im Theater, frei von didaktischen Aufträgen, pädagogischen Funktionalisierungen und Wunschprojektionen!“ (88) -
Singulär (und wichtig!) der Beitrag von Inge Schubert- stellt sie in„Müssen wir heute wieder machen, was wir selber wollen? Das Paradox beauftragter Selbstständigkeit“ (91ff) doch ‚nur‘ zwei Kinder vor, „die im Rahmen eines bildungswissenschaftlichen Forschungsprojektes interviewt“ wurden. Zunächst die „zehnjährige Lara: ‚Mein größtes Ziel ist es eigentlich, dass ich wirklich ‚ne ordentliche Ausbildung schaffe und dass ich da wirklich hinterher im Leben gut weitermachen kann‘“ (91).„Vor dem Hintergrund der ihr aufgegebenen frühen Autonomisierung, die mit einem häufigen Wechsel von Gruppenzugehörigkeiten verbunden ist, zeigt sich Lara als erfolgreiches, flexibles Kind. Lara übernimmt die Rolle des ‚vernünftigen‘ Kindes, das ihren ‚Verstand‘ auch im Alltag einzusetzen weiß“ (93). „Lara und die Kinder ihrer Klasse sind im Hinblick auf ihr psychoemotionales Erleben weitgehend auf sich selbst und die Peers zurückgeworfen. Vor dem Hintergrund ihrer erlebten Selbstbestimmung haben sie kein erwachsenes Gegenüber, an dem sie aggressive Impulse festmachen und abarbeiten können“ (95). Unter der Überschrift „Selbstdisziplin und Affektkontrolle“ eine zweite Fallrekonstruktion: „Max, ein Schüler aus Laras Klasse … zeigt sich im Interview als ehrgeiziger Schüler, auf der Suche nach geeigneten Lernstrategien. Er spricht vom ‚Zähne zusammenbeißen‘ und seiner Selbstüberwindung. Max vergleicht seine Überwindung bei den Hausaufgaben und beim Lernen … mit seinen harten Erfahrungen im Sport.“ (95) „Sein Wunsch ist es, einmal zu studieren und einen ‚höheren‘ Beruf ergreifen zu können.. Er erklärt, dass seine Lernstrategie sei, sich mit Kakao oder Klavierspielen zu helfen.“ (96)
Nach einem Blick auf das „Bemühen“ von Eltern, auf „widersprüchliche Logiken von Fürsorge und Effizienz, von elterlichen Idealen und praktischer Zeitnot“ (97) skizziert Schubert „Diagnostik und Medizinalisierung als ‚postdisziplinare‘ Verfahren“ (98 f) und stellt fest: „Die Diagnostizierung der Abweichung und Besonderung bringt für getestete hochbegabte Kinder ein positives Stigma, unter dem sie im Hinblick auf ihre soziale Einbindung und Anerkennung in der Schulklasse zumeist auf neue Weise leiden.“ (99). So „kommt es zu einer eigentümlichen Verbindung von reformpädagogischen und neoliberalen Anknüpfungen im Hinblick auf Autonomiepostulate und die Selbstbildung von Kindern. … Das Versprechen der Selbstbestimmung, das sich in der alltäglichen Erfahrung der Freiheit des Konsums realisiert, wird so auf die Gestalt des Kunden reduziert.“ (102f) -
Wiebke Dröge schreibt in „Cabinet particulier – Ein separater Diskursraum für Jugendproduktionen?“ (109 ff) von „einer besseren Lobby für zeitgenössische Tanzkünstler“. Die von ihr „vertretene These ist, dass sich die angesprochenen Künstler schlichtweg deutlicher artikulieren und von sich und ihren Arbeitsweisen sprechen müssen, um an Entscheiderstellen die Weichen für inspirierende Ausgangspunkte von Jugendproduktionen im Tanz zu stellen.“ (111) Ausführlicher beschreibt sie ihre Arbeit im „Klub_21 Tanz und Performance für Jugendliche und junge Erwachsene“, die „im Sommer 2012 gestartet ist“ (118). „Ihre Herangehensweise“, so Dröge, unterscheide „sich immens von den meisten Jugendclubs an Stadt- und Staatstheatern“ (122) – eine gewagte Behauptung, die nach meinen Beobachtungen nicht stimmt; ähnlich auch bei ihrer Abgrenzung von „schulischen Regelwerken oder traditionellem Regietheater“. [8] -
„In den letzten Jahren“, so Kristin Westphal in ihrem Beitrag „Fremdes in Bildung und Theater/Kunst (125ff), gab es „eine produktive Annäherung zwischen professionellen Theater-, Tanz- oder Performance-Machern in Kooperation mit Schulen oder im außerschulischen Bereich mit Kindern und Jugendlichen.“ (125 f). Es kam „zu einer anderen Wahrnehmung nicht nur von Theater, sondern auch zu einer neuen Sichtweise eines Subjekt- und Bildungsbegriffs, der über seine kognitive Ausrichtung hinaus auf die Wirklichkeit einer körperlich-sinnlichen und situativ-szenischen Aufführungspraxis im Theaterspielen abhebt“ (127). Dabei rutscht das „Subjekt … in unserer Betrachtungsweise in eine andere Position: eine doppelte. Es ist Subjekt, soweit es den Bildungsprozess mit hervorbringt, in dem es sich konkret befindet – zugleich ist es Teil eines Kontextes, eines Gegenstandes oder eines Gegenübers, dem es sich erfahrend überlässt, über das es nicht vollständig verfügt. Ästhetische Erfahrungen im Theaterspielen sind nicht nur zu verstehen als aktive Leistung im Sinne des Erkundens und Erforschens von Welt- und Selbstverhältnissen, sondern auch als eine Leistung im passiven Sinne des Widerfahrens und Gewahr-Werdens, des Affekts und Gefühls, Angerührt-Werdens oder auch Nicht-Verstehens.“ Fremderfahrungen dieser Art sind „ein wesentlicher Bestandteil in der Begegnung mit den Künsten“, weil „die Künste als Element von Fremdheit tradierte Interpretationsmuster und Normierungen geradezu stören und auf diese Weise individualisierte Bildungsprozesse erst ermöglichen“ (127), also dabei helfen, „kulturell verfestigte Wahrnehmungs-, Fühl- und Denkmuster zu verlassen. … Dabei gehen wir davon aus, dass dem Leib für jegliches ästhetische und künstlerische Handeln eine zentrale Bedeutung zukommt“ (128). Nach „Fremdes in den Künsten und Wissenschaften“ (128f) und „Das Fremde in der Philosophie“ (129ff) geht es bei Westphal um „‚Fremdwerden und -machen‘ im Theaterspiel“ (131ff); sie untermauert ihre Aussagen mit Hinweisen auf Merleau-Ponty, Levinas, Waldenfels. „Pädagogik ist dann zu verstehen als ein offenes, dezentriertes und responsives Geschehen, das zwischen den Generationen stattfindet (vergl. Lippitz 2008: 165)“ (131). „Alterität und Fremdheit als Struktur von Bildung erlaubt es – so Lippitz –, neu und anders über Pädagogik zu denken und den pädagogischen Umgang mit den Heranwachsenden als ein offenes Geschehen zu gestalten und zu erfahren. Dieser Zugang in der Pädagogik korrespondiert mit der Vorstellung eines schöpferischen Tuns in den Künsten, wie wir es in der Theatertheorie und anhand von Theaterkonzepten in der Praxis mit Kindern hier besonders untersuchen wollen“ (135) – ein Wunsch, der von den Herausgebern freilich nicht eingelöst wird. -
Florian Vassen gibt in„Gemeinsam lernen – Theaterpädagogik und ästhetische Erfahrung“ (139 ff) eine klare und umfassende Einführung in die schulische Theaterpädagogik. Er behandelt „Erfahrungswissenschaft und Erfahrungskunst“ (140), „Alltagstheatralität und Differenzerfahrung“ (141), „Aisthesis und ‚Zuschaukunst‘“ (143), „Vermittlungskunst und Kunstvermittlung“ (144), „Schule als Bildungs- und Kulturort“ (145), „‚Entschulung‘ – Theaterpädagogik ohne Funktionalisierung“ (147). Vassen warnt: „Auch die Künste bleiben nicht unberührt von der staatlichen Vereinnahmung und der kapitalistischen Verwertung, der es immer wieder gelingt, auch kreative, subversive und widerständige Vorgehensweisen zu benutzen.. Auch Selektion und reduktionistische Leistungsbemessung steigern die Gefahr des Missbrauchs. Keiner sollte sich zudem der Illusion hingeben, das (sic!) Theater-Spielen, andere Kunstformen und insgesamt kulturelle Bildung, Armut und soziale Probleme verhindern oder abschaffen“ (147). Im abschließenden Passus „Die Arena des Anderen“ (150) heißt es: „Beim Theater-Spielen geht es nicht darum, dass mit seiner Hilfe etwas gelehrt wird und es ist auch keine Methode durch die für etwas gelernt wird, sondern im ästhetischen Ereignis des Theater-Spiels … entstehen neue Erfahrungen“ (150). „Im Zentrum eines neuen Verständnisses von Theaterpädagogik stünde demnach gemeinsames Üben und Lernen in einem offenen Prozess, lediglich unterstützt durch einen Theaterlehrer als Initiator, Moderator, Begleiter, Helfer, Supervisor und insgesamt als ‚Beobachter‘. Diese Ersetzung der Lehr-Haltung setzt Eigensinn und Eigenständigkeit bei den Theater-Spielern frei und ermöglicht selbstbestimmte Lernprozesse bis hin zur Erfahrungsarbeit, d.h. Selbstbildung im Kontext von Fremdheit – gemeinsames Theater-Lernen statt Theater-Lehre“ (151). [9]
Zu„Projekte und Arbeitsweisen“
Nach den „Grundlagen“ folgt das Kapitel „Projekte und Arbeitsweisen“(155ff), wie beim ersten Kapitel eingeleitet von Patrick Primavesi und wiederum mit seinen Standardbeispielen „Versuchsanordnungen. Vier Inszenierungen aus dem Genter Labor (Josse De Pauw, Tim Etchells, Gob Squad, Philippe Quesne)“ (157) [10] garniert, die „auf internationalen Festivals großen Erfolg hatten“ (157f).
Zunächst „Josse De Pauw: üBung“ (158ff). „Der Titel üBung steht insgesamt für die Einübung von Verhaltensweisen durch Imitation, ein Vorgang, der im alltäglichen Zusammenleben weit mehr ‚Lerneffekte‘ zeitigt als alle Form der bewussten Vermittlung oder Erziehung.“ (161)
Dann „Timm Etchells: That Night Follows Day“ (162ff). Für die Aufführung wurde „aus einem großen Kreis von Interessenten schließlich eine Gruppe von acht- bis 14jährigen Kindern ausgewählt. Die erste Idee für diese Inszenierung war es, mit Kindern und Jugendlichen chorisch zu arbeiten, und die erste Schwierigkeit bestand darin, Kinder zu finden, mit denen eine solche Arbeit zu machen wäre. … Bei den auditions mit über 90 Teilnehmern wurden vor allem Kinder gesucht, die in der Lage wären, einfach auf der Bühne zu stehen, auch ohne dass die Szene vorher genau definiert worden wäre. Der nächste Schritt war ein Workshop mit etwa 30 Kindern, von denen dann schließlich noch 16 übrig blieben.“ (162f; übrig!) „Aus den Sätzen der Kinder über ihren Alltag zu Hause und in der Schule entstand immer mehr Text-Material, bis es im Dezember 2006 eine Fassung gab, die auswendig gelernt wurde. … Der Text besteht aus einer langen Liste von all den Sätzen und Phrasen, mit denen Erwachsene die Welt von Kindern prägen und definieren“ (163). „Etchells‘ unprätentiöse und doch poetisch verdichtete Sprache“ (Etchells‘ Sprache!) „lässt gerade die versteckten, oft unbewussten Voraussetzungen, Widersprüche und Ambivalenzen der alltäglichen Phrasen hervortreten.“ (164) Primavesi schreibt von „der Disziplin des Aufführens …, an die sich die Kinder selbst und mithilfe von Pascale Petralia“ (Lehrerin und Theaterpädagogin) „gewöhnt haben. Als Ventil für die Spannung des konzentrierten Sprechens dient eine Unterbrechung, eine längere Pause mit Musik, in der sich die Kinder austoben können.“ (165) „Es genügt, dass alle aufeinander achten und die für manche Aktionen verabredeten Zeitspannen einfach durch stummes Mitzählen einhalten. … Voraussetzung dafür ist das präzise Zusammenspiel der Kinder.“ (166) „Inzwischen hat sich schon zweimal eine neue Gruppe den Text angeeignet und bis auf einige der Jüngeren haben alle ihren Part an die neuen Akteure weitergegeben, die mit der Inszenierung weiter arbeiten.“ (167) „Insgesamt zeigt die Inszenierung, dass Kinder mehr von Theater und Performance verstehen,“ (verstehen?) „als Erwachsene ihnen gewöhnlich zutrauen, die gerne vor ‚Experimenten‘ im Kinder- und Jugendtheater warnen.“ (168 – wer warnt?)
Beispiel 3: „Gob Squad: Before Your Very Eyes“ (170ff). „Schon im Jahr 2008 wurde das Konzept entwickelt und die erste Gruppe von Kindern im Alter von sieben bis zwölf Jahren durch ein Casting ausgewählt. Von 2009 an wurden regelmäßig Interviewfilme mit den Kindern gedreht, in denen sie auf ihre persönlichen Erlebnisse ebenso wie auf Ereignisse in ihrer Umwelt zurückblicken sollten.“ (172f, sollten!) In „der Zeit des ersten Castings für das Stück … wurden die Kinder gefragt, was sie denn können (Antwort von Maurice: Fußball spielen, ein Picknick machen etc.) Dem steht nun gegenüber, was sie als junge Erwachsene, mit 19, können (Antwort von Zoe: Bikinis kaufen, Sex haben und schwanger werden oder auch nicht, ins Gefängnis kommen, Leute bezahlen um sich ihre Probleme anzuhören etc.).“ [11] (176)
Beispiel 4: „Philippe Quesne: Next Day“ (179ff). „Was sie da aufführen, ist nicht bloß ein futuristisches Spiel ohne Grenzen, sondern die komische Überzeichnung von Erziehung und (Aus-)Bildung als Optimierung spezifischer Fähigkeiten. Dazu gehört Kreativität ebenso wie spontanes Austoben von Ängsten und Aggressionen. Kindliche Gefühle erscheinen als der eigentliche Treibstoff, den die Maschine der neoliberalen Konsumgesellschaft braucht, um nicht in den selbst geschaffenen Routinen zu erstarren.“ (182) Primavesi fasst zusammen: Der „Bogen der hier skizzierten vier Produktionen hat gezeigt, wie vielfältig das Spektrum von zeitgenössischen, experimentellen Theaterformen sein kann, in denen Kinder und Jugendliche vor erwachsenen Zuschauer (sic!) auftreten und deren eigene Projektionen, Ängste und Hoffnungen bearbeiten.“ Kinder und Jugendliche bearbeiten Projektionen, Ängste und Hoffnungen der Erwachsenen? -
Von einem besonderen Projekt berichten Eva Meyer-Keller und Sybille Müller:„Zerstörungsphantasien mit Sahne. Gedanken über die Zukunft“ (185 ff). „Bauen nach Katastrophen (2009) ist eine Performance mit Kindern für Erwachsene, in der gemeinsam mit den Kindern intuitive Katastrophenforschung betrieben wird. Im Basteln sind Kinder Spezialisten. … Unser Hauptziel ist jedoch, die Kinder für die Folgen des Klimawandels mit den immer häufiger auftretenden Naturkatastrophen und vor allem auch für den Umgang mit medialen Bildern im digitalen Zeitalter zu sensibilisieren. … Wir haben mit unterschiedlichen Gruppen von Kindern in Parma (Italien), Stamsund (Norwegen), Hamburg und Berlin zusammen gearbeitet. Die Kinder waren zwischen zehn und zwölf Jahre alt“ (185).
Kristin Westphal reflektiert die Arbeit von Eva Meyer-Keller und Sybille Müller unter dem Titel„Theater/Kunst mit Kindern“ (195 ff) – also endlich auch einmal ein Beispiel für Zusammenarbeit innerhalb von ‚Stop Teaching!‘. „Die Art und Weise, wie Kinder die von Erwachsenen bestimmten Ordnungen und Spielregeln deregulieren, spielerisch außer Kraft setzen, Neues erfinden oder endlos wiederholen, was ihnen im Spiel Lust bereitet, ist mit dem künstlerischen Tun vergleichbar, ohne dass sie jedoch gleich als Künstler gelten“ (195). „In der jüngsten Zeit haben etliche Gruppen Konzepte entwickelt, die ihre künstlerische Arbeit weder im Sinne eines rein erwachsenen Spiels für Kinder, noch eines Theaterspiels über Kinder verstehen, sondern den Ansatz in der künstlerischen Arbeit mit Kindern als Kinder suchen“ (196). Dazu gehört auch das Langzeitprojekt „Bauen nach Katastrophen“. „Das Besondere der Konzeption ist, dass die beiden Performancemacherinnen mit jedem neuen Aufführungsort mit einer neuen Gruppe von Kindern in den jeweiligen Ländern das Stück neu- bzw. weiterentwickeln – oder besser: anders schreiben. Für Kinder in Parma stellt sich die Frage anders als auf den Lofoten oder in Berlin“ (198). Westphal fasst zusammen: „Projekte, die mit Kindern professionell künstlerisch on stage arbeiten, gehen eine Gratwanderung ein, wenn sie Kinder einerseits als Kinder und als ‚Experten‘ einsetzen, ohne sie andererseits instrumentalisieren zu wollen. Die Chance solcher Projekte besteht darin, dass sie Kinder an den Bedingungen und Möglichkeiten der erwachsenen Welt teilhaben lassen, durch und in den Medien/ Künsten potenziell Fremdes im Sinne anderer Sichtweisen zu erfahren“ (200). -
In „Perspektive Hamburg – Eine städtische Intervention“ unterhalten sich der Dramaturg Martin Hammer und die Regisseurin Maria Magdalena Ludewig über ihr Projekt (203 ff) – eine kaum strukturierte Plauderei, aus der sich nur mit Mühe Informationen entnehmen lassen. Freilich ein interessanter Ansatz: „20 Kinder aus Jenfeld und 20 Kinder aus Eppendorf“, also zwei sehr unterschiedliche Gruppen, beide gecastet, beide, so „MH: … bezahlt, ich weiß nicht, wie viel das war. MML:. 50 Euro.“ (211) „MML: … wir haben uns damals auch sehr viele Gedanken darüber gemacht, wie wir es schaffen können, dass diese Gruppen aufeinander kommen. … Wie sorgen wir dafür, dass 20 Kinder aus Jenfeld und 20 Kinder aus Eppendorf mit gleichen Verhältnissen zur Probe zu Kampnagel kommen?“ [12] (217) -
Einleitend zu „‚Auswendiglernen kann doch jeder‘. Fatzer für Kinder“ (221 ff) zitiert Katalin Stang Heinrich von Kleist – gleichsam als Warnung und Motto: „Aber das Kind ist kein Wachs, das sich, in eines Menschen Händen, zu einer beliebigen Gestalt kneten lässt: es lebt, es ist frei; es trägt ein unabhängiges und eigentümliches Vermögen der Entwickelung, und das Muster aller innerlichen Gestaltung, in sich. (Oktober 1810)“. Das heißt, mit einer Anspielung auf Marx und Engels: „Die Wahrnehmung des Kindes als eigensinniger, sich einer Fremdbestimmung widersetzender und seine Entwicklung selbst steuernder Mensch ist weder ein postmodernes noch ein ausschließlich erziehungswissenschaftliches Paradigma. Seit der Aufklärung taucht dieses ‚Gespenst‘ auch immer wieder in der Literatur, Kunst und Philosophie auf und rüttelt an den Grundpfeilern der subtil gewordenen, auf Belehrung, Erziehungsbedürftigkeit und Bevormundung des Kindes ausgerichteten bürgerlichen Konzeption der Pädagogik“ (221). Das heißt auch: die „Zuschreibungen von Kleist überschreiten den Horizont der reformpädagogischen Sicht eines ‚vom Kinde aus‘ deutlich, da sie sich einer didaktischen Zukunftsorientierung und Erwachsenendominanz widersetzen“ (222). „Interessant“ an dem Fatzer-Projekt der „Ersten Mülheimer Fatzertage“, so Katalin Stang [13], „erscheinen einer pädagogisch reflektierenden Betrachtung drei Momente. Einmal die außergewöhnliche Projektidee, einem selbst der Theatertheorie als ‚sperrig‘ und ‚radikal‘ geltenden Stoff von Bertolt Brecht mit Kindern zu begegnen, was bereits eine unkonventionelle Haltung von Erwachsenen gegenüber Kindern vermuten lässt. Weiterhin die Projektführung, die an Stelle der Vermittlung kultureller Repräsentanten das freie, erkundende und improvisierende Spiel mit ihnen als Alternative zur Belehrung setzt. Zum Dritten die Ästhetik der Aufführung, die mit der Enge einer Hochkultur bricht und dadurch Kindern das Theater für Artikulation öffnet“ (224).
Stang abschließend: „Nicht das Kennen des Kindes, sondern das – womöglich gegenseitige – Kennen-Lernen stellt jenen dynamischen, stets wiederkehrenden und offenen Prozess dar, der für eine Pädagogik, die sich von Herabsetzung, Bevormundung und Belehrung des Kindes verabschiedet und sich dem Dialog, der ‚Partnerschaft‘ mit ihm zuwenden möchte, angemessener erscheint.“ (233) -
Anna K. Becker formuliert in ihrem Beitrag „Ungewöhnliche Symptome der Jugend – Samir Akika/Unusual Symptoms auf Augenhöhe mit jungen Akteuren“ (235 ff) eine ungewöhnliche These: „So unterschiedlich die Schwerpunkte in Inszenierungen mit jungen Menschen gesetzt werden, … so entsprechen die Aufführungen in ihrer Form-Sprache fast immer den ästhetischen Standards eines ‚normalen‘ zeitgenössischen Theaterabends. Damit beschränkt sich das ‚Echtheits-Erlebnis‘ für die Zuschauenden meistens auf die in den Stücken verhandelten Inhalte. Wenn auch den formal-ästhetischen Wünschen der jungen Darsteller nachgekommen wird, bedeutet das meistens eine Herausforderung für die Zuschauenden: es bedeutet ‚schlechten Geschmack‘, Kitsch, Ungefiltertes, Fremdscham-Momente und Längen, Längen, Längen auszuhalten. Und genau dazu fordern Samir Akika/Unusual Symptoms auf. Ihre Theaterabende mit Jugendlichen kreieren ein ganzheitlicheres (sic!)“ [14] „Erlebnis von ‚Echtheit‘, indem sie allerhand szenisches Material zulassen, das nicht auf eine Funktion der Theatersprache reduziert, auf eine Pointe verknappt worden ist“ (236). Dabei „strotzt der Abend vor Energie, Witz, Leichtigkeit und vor allem Authentizität. Dieser Effekt ist der Entstehungsweise des Theaterabends geschuldet, einer intensiven und persönlichen Zusammenarbeit zwischen den jungen Performern und dem Regieteam um Samir Akika – inklusive Zusammenwohnen, gemeinsam verbrachter Freizeit und allabendlichen Impro-Sessions. Die Jugendlichen sollten sich als Autoren des Abends begreifen und in dieser Aufgabe ernst genommen werden. Das bedeutete viel eigenverantwortliches Arbeiten an Szenen und Solos, die größtenteils eins zu eins ins Stück eingeflossen sind. … Entstanden ist ein sehr introspektiver Abend mit loser, episodischer Erzählstruktur und ohne stringente Story, mit dem sich die Darsteller merklich identifizieren“ (241). -
Bei Carmen Mehnert„Hell on Earth – Ein paar Notizen über die Arbeit mit Constanza Macras/Dorky Park“ (243 ff) wird gleich anfangs ein Fragezeichen zum Anspruch des Sammelbandes auf „Neue Theaterformen“ deutlich, denn: „Angefangen hat alles mit den Kids aus Neukölln und Constanza Macras, als diese 2002 mit der Rollenden Roadshow der Volksbühne Berlin unterwegs war. … Themen waren ihre Anpassungswünsche, Träume und all die kleinen Versuche, dem Alltag zu entfliehen. … fünf Jahre später arbeitet Constanza wieder mit den gleichen Kids und Tänzern ihrer Kompanie. Es entsteht Hell on Earth. … Diesmal erzählen die Jugendlichen aus der Perspektive junger Erwachsener von den Hoffnungen und Schwierigkeiten des Erwachsenwerdens, von Diskriminierung, vom Wunsch nach Anpassung, von ihren Träumen“ (243f.). „Constanza lässt die Jugendlichen immer sich selbst spielen. Sie erzählen von der Schule, von ihrer Ausbildung, ihren Problemen zu Haus, ihrer Lustlosigkeit, ihren Ängsten, ihren Zuständen, ihren Wünschen und Träumen. Zusammen entwickeln wir“ (nicht ganz klar, wer mit diesem ‚wir‘ gemeint ist) „die Texte, immer von ihrem Material, ihren Geschichten und Erzählungen, ausgehend. Diese entstehen bei Improvisationen und Gesprächen.. Während die Jungs sich Breakdance-Battles geben und sich so verausgaben, hört man von den Mädchen an vielen Tagen, sie hätten keinen Bock auf gar nichts. Constanza fordert sie auf, daraus einen Song zu machen, bei dem sie von den Musikern unterstützt werden. … Manchmal stehen sie zu zweit auf der Bühne herum und singen zu Musik aus ihren Handys. So wie alle Jugendlichen auf der Welt. Es sind stille und berührende Momente, in denen sie friedlich zusammen sein können, verbunden durch ihre Musik“ (245f). „‚Nowadays, we are stuck in a no-age-land. One of the only clear social functions we serve is consuming the products made for our ages. … As soon as we consume the youth culture products, we feel safe.‘ (Tatiana)“ (248). Mehnert fasst zusammen: „In beiden Stücken mit Kindern und Jugendlichen. zeigt sich die Fähigkeit einer Constanza Macras, gefundene Geschichten, Milieuskizzen und biographische Schnipsel auf spielerische Art und Weise zusammen zu bringen. Ihre Stilmittel sind ein Mix aus Popkultur, Theorie-Einsprengseln, choreographierten Szenen und Momenten echten Gefühls“ (249). -
Sandra Strunz nennt ihren klaren Bericht „Mit Kindern arbeiten“ (252 ff); es geht um „Proben … nicht im Probenraum, sondern draußen in der Natur – auf einer Wiese, im Wald, auf Wegen, in Büschen“. Ort ist eine „Schule in Zürich, die nach dem alten Dorfschulprinzip funktioniert: Die Schüler sind unterschiedlichen Alters (zwischen sieben und 13 Jahren) und werden gemeinsam in einem Klassenraum unterrichtet. Die Gesamtzahl der Schüler beläuft sich auf nur 15 Kinder. Einen Tag in der Woche verbringt die ‚Schule am Wald‘ im Wald. Und innerhalb eine Quartals findet an diesen Waldtagen eine Theaterarbeit statt. Der erste Tag beginnt damit, dass das Buch, die jeweilige Geschichte, die wir im Laufe der nächsten Monate erspielen werden, vorgelesen wird. … Wenn Fragen auftauchen, erklären die Größeren den Kleineren“ (252); „es folgen Theaterübungen, Bewegung, Spiele, Atemübungen etc. Dies und das aus dem klassischen Repertoire der Theaterpädagogik. … Die Proben verlaufen in dieser Phase wirklich selbständig, meist ganz ohne Anleitung und Intervention. Ich greife eigentlich nur ein, wenn es Konflikte gibt, was selten auftaucht, oder wenn es Blockaden gibt und eine Gruppe nicht weiterkommt.“ (253). Dann wird „auf Basis der Probenresultate eine Spielfassung aus dem Buch erstellt. Ich wäge dann ab, für wen es wichtig wäre, zu diesem Zeitpunkt eine Hauptrolle zu spielen, und wer gerade in seiner Entwicklung wo steht (hierbei bespreche ich mich auch mit den beiden Schulleiterinnen). … Ich fange an, die Proben stärker zu leiten, die Szenen auf bestimmte inhaltliche und künstlerische Punkte hin zu führen. Die Grundlage bleibt aber das, was die Kinder in den letzten Wochen erarbeitet haben“ (254). „Stärker durch mich geleitet wird die Montage, also das Aneinanderhängen der Szenen, die Übergänge, der Verlauf, die Gestaltung einer komplexen Vorstellung – im Gegensatz zur Erarbeitung der Szenen, dem Erfinden der Charaktere, dem Bestimmen des Bühnen-/Waldraumes, was hauptsächlich in den Händen der Kinder liegt. Bislang sind die Aufführungen immer mit einer Art Wanderung verbunden.. Wenn ich früher gebeten wurde, meine Arbeit mit Schauspielern zu beschreiben, habe ich das oft mit dem Beobachten von Kindern auf einem Spielplatz verglichen. … Proben als Spielwiese. Und so arbeite ich auch mit den Kindern. Es geht eigentlich darum, sie in ihrer Spielwelt möglichst wenig zu stören, d.h. zu lenken oder zu formen. Ziel ist es, durch einen Text ihre eigene Spielfreude zu inspirieren, auf bestimmte Inhalte zu fokussieren und diesen dann ein Plateau zu geben“ (255 f). -
Sara Ostertagversucht in ihrem Beitrag „In (Re-)Aktion – Vermitteln - Eine Untersuchung kritischer Praxen der Kunstvermittlung“ (257 ff) „die Schaffung einer begrifflichen Basis zum Zweck des kollektiven Denkens, Sprechens und Handelns“ (257). Dabei bezieht sie sich auf „Carmen Mörsch und ihren Ansatz, Kunstvermittlung als kritische, situierte Praxis zu denken und zu praktizieren“ und auf „Jacques Rancière und seine Definition des Begriffs ‚Teilhabe‘“ (258). Anschließend geht Ostertag „auf die Entwicklung eines eigenen Projekts mit der Gruppe makemake produktionen. Haus für Community-Art. Wien. ein“ (263). Bei diesem „Projekt Der Hundsturm bellt!“ ging es um „ein spartenübergreifendes Stadtforschungsprojekt, das an der Schnittstelle von Wissenschaft und Kunst agiert und im Februar und März 2013 stattfand. … In fünf Ateliers wird die Stadt aus unterschiedlichen Perspektiven untersucht; es wird überlegt, was verändert werden soll, was gebraucht wird, was fehlt. Ziel ist, dass in den Ateliers Visionen, Baupläne und Ideen zur Veränderung der Stadt … entstehen. Die entstandenen Visionen und Vorhaben werden im Anschluss von einer Gruppe Jugendlicher und Künstler einen Monat lang in die Realität umgesetzt. … Am Ende des Monats gibt es eine öffentliche dreitägige Begehung und Bespielung der umgesetzten Projekte. In Form von Stadttouren werden die Projekte vorgestellt“ (264 f). Ergebnis des Projekts, so Ostertag: „Jugendliche entdecken Möglichkeiten und phantasieren Optionen, die ergebnis- und produktorientierten Erwachsenen in ihrem Umsetzbarkeitsstreben eventuell gar nicht erst in den Sinn gekommen wären … artikulieren Möglichkeiten, die Raum nehmen. Dazu müssen ihnen Räume überantwortet werden“ (266). -
Gudrun Lange schreibt zusammen mit Carina Borgards und Anna Eitzeroth über „Jugendliche als Kollaborationspartner“ (269 ff). „Das grundlegende Prinzip meiner Arbeit“, so Lange gleich einleitend, „ist Kollaboration. Jeder Produktionsprozess lebt vom Verständnis, dem Austausch und der Meinung der involvierten Personen“. Dabei kombiniert sie „‚Kunst machen‘ und ‚Kunst gucken‘. Ausgangspunkt jedes Konzeptes ist eine Fragestellung, zu der ich etwas von den Jugendlichen erfahren möchte … zum Beispiel …, dass viele junge Menschen coole Gesten inkorporiert haben. Was passiert also, wenn diese sich cool bewegenden Menschen mit einem uncoolen Medium wie dem Ausdruckstanz umgehen?“ (269). „In affected by haben wir uns mit der Choreographie Affectos Humanos von Dore Hoyer beschäftigt, in der sie fünf Leidenschaften tanzt: Eitelkeit, Begierde, Hass, Angst, Liebe. Zu jedem Affekt entwickelte ich zusammen mit dem künstlerischen Team eine Choreographie, die sich mit dem Bewegungsmaterial von Hoyer in Bezug auf die jungen, sich cool bewegenden Körper beschäftigte“, dazu „eine Szene, in der die jungen Leute selber einen Ausdruck für die Emotion gesucht haben“ (270). Dabei war, so Anna Eitzeroth, „Thema der Arbeiten … nicht Lebenswerk oder Biographie“ von Dore Hoyer, auch nicht in Projekten zu Josephine Baker und Merce Cunnigham. „Dadurch, dass die Jugendlichen selbst in einem künstlerischen Prozess sind, wird das ‚Kunst gucken‘ immer wieder auf diesen bezogen, die Perspektive des Rezipienten immer wieder ein Stück mit der des Künstlers getauscht“ (274).
Vom „Forum Freies Theater (FFT) in Düsseldorf berichten Anna Eitzeroth, Anke Platon und Kathrin Tiedemann: „Zwischen Live-Art und Lebensraum“ (275 ff): „Die Rolle des künstlerischen Teams lässt sich vielleicht am besten als ‚Werkstattleitung‘ beschreiben, es organisiert den Rahmen, … sammelt die Ideen und das Material in den unterschiedlichen Arbeitsgruppen und entwickelt eine Gesamtdramaturgie für die abschließende Aufführung. … Ein hohes künstlerisches Risiko und die Suche nach neuen Formen verbindet sich mit aktuellen gesellschaftlichen Fragestellungen. Letztere werden durch die Lebensrealität der Jugendlichen quasi zwangsläufig zum Gegenstand der Auseinandersetzung. Theater erweist sich so als Ort, an dem existenzielle Fragen verhandelt werden.“ (278 f)
Zu Institutionen
Im abschließenden Kapitel „Institutionen“(285ff) stellt zunächst Karola Marsch „Die Winterakademie an der Parkaue Berlin als Feldversuch künstlerischer Forschung mit Kindern und Jugendlichen“ (287 ff) vor; für sie ist die Winterakademie „ein Hort konsequenzfreien Handelns in Laborsituationen, die gesellschaftliche Realitäten und menschliche Abgründe auf (sic!) Schärfste wie unterm Brennglas sezieren und zu eigensinnigen Darstellungen, Analysen und Ausformungen finden. Eine ganze Theaterapparatur steht den Kindern und Jugendlichen zur Verfügung … der gesamte Denkhorizont eines Hauses, das sich inhaltlich, künstlerisch und ästhetisch im 21. Jahrhundert zu Hause sieht.“ (287) „In mindestens zwei Vorbereitungstreffen findet eine kollektive Annäherung an das aktuelle Thema statt. Experten und Spezialisten referieren zu diversen Aspekten des Themas und stehen zu Gespräch und Diskurs zur Verfügung.“ (291) „Weitaus schwieriger verhält es sich … mit den künstlerischen Entscheidungen für das Format der Präsentation. Hier die Kinder und Jugendlichen entscheiden zu lassen, kann künstlerische Beliebigkeit hervorbringen. Und es ist nicht Teil der Verabredung. Denn der Spezialist für die künstlerische Übersetzung ist selbstverständlich der Künstler.“ (293) Ein seltsamer Schlusssatz: „Es geht also ebenso um den Erlebnisbegriff, den Künstler wie Kinder und Jugendliche in der Winterakademiewoche gleichermaßen neu erfahren. Ein Erlebnisbegriff,“ [15] „der den Prozess im Labor körperlich werden lässt.“ (295) -
In ihrem knappen und präzisen Beitrag über Das Schultheater der Länder (SDL) erläutert Tanja Klepacki zunächst„Historische Entwicklung und strukturelle Aspekte“ (297ff). „Ziel des SDL“, so Klepacki, „ist die differenzierte Weiterentwicklung des Faches Theater in Theorie und Praxis sowie dessen Verankerung in allen allgemeinbildenden Schulen der Bundesrepublik“ (297). Ausgezeichnet ist das „Festival“ durch „Thematische Schwerpunktsetzungen“; durch „Aufführungen … 16 Gruppen – aus jedem Bundesland eine“; durch „Begegnung und Austausch … Schülernachgespräche … Werkstätten“ (299); durch „Fachtagung“ und „Fachforen“ (300); durch „Einbindung der Bundesländer. Das Schultheater ist Ländersache. In jedem Jahr zeichnet ein anderer Landesverband … verantwortlich“; schließlich durch „Dokumentation und Publikationen“ (301). -
Sigrid Scherer schreibt über „Partnerschaft zwischen Jugendlichen und Künstlern“ am Beispiel „unart – Jugendwettbewerb der BHF-BANK-Stiftung“ (305 ff). Scherer erläutert: „Das zugrunde liegende Verständnis von Bildung ist eines von ‚Sich-selbst-bilden‘. .. Ausgeschrieben wird unart alle zwei Jahre. Die Teilnehmer bewerben sich mit ersten Ideen und werden von Experten-Jurys ausgewählt. Die Gruppen werden im Prozess von künstlerischen Coaches begleitet.“ (306) „Der Wettbewerb bringt – aufgrund seiner besonderen Struktur – Jugendliche unterschiedlichster Hintergründe zusammen und motiviert sie dazu, sich mit den anderen konstruktiv auseinanderzusetzen.“ (309). Der Coach „ist so etwas wie ein ‚Geburtshelfer‘ für die Umsetzung der Ideen der Jugendlichen. … Das ist ‚Stop Teaching‘ oder ‚No Education‘ im Sinne von Ausbildung oder Vermittlung spezifischer Inhalte und Kenntnisse, bei denen es ein ‚richtig‘ oder ein ‚falsch‘ geben könnte. Das ist aber dennoch Pädagogik im Sinne der Eröffnung eines Feldes von Möglichkeiten, Denkweisen, Techniken und der Hilfe bei der Übernahme von Verantwortung für eine Gruppe und ihre künstlerische (sic!) Entscheidungen. … Dabei profitieren … umgekehrt auch die Coaches. Sie erleben die Jugendlichen als ‚Experten‘ ihrer Lebenswelt, zum Beispiel als Kenner oder Vertreter bestimmter Formen von Jugendkultur. Dieses Wissen kann in künstlerische Projekte der Coaches einfließen oder, wie die Vergangenheit gezeigt hat, in neue gemeinsame Projekte der Jugendlichen und ihres Coaches.“ (310). -
Kristina Preuss und Friederike Schönhuth berichten in „Kultur verändert Schulkultur“ über das „‚KulturTagJahr‘ der ALTANA-Kulturstiftung“ (313 ff). Dabei erkunden „Schüler ein Schuljahr lang gemeinsam mit Künstlern die Natur. … An einem wöchentlich festgelegten Tag steht für einen gesamten Jahrgang als selbstverständlicher Teil des Unterrichts die künstlerische Forschung im Mittelpunkt.“ (313) „Am Ende des Kultur/Tag/Jahres steht eine gemeinsame Gesamtkunstwerk-Aufführung aller Schüler des beteiligten Jahrgangs“ (314). Die Arbeit geht aus „von der zeitgenössischen Kunstsammlung der ALTANA-Kulturstiftung mit dem thematischen Schwerpunkt ‚Natur‘“ (317). „Schulen … entscheiden sich“ für das Projekt „perspektivisch für mehrere Jahre, wodurch im besten Fall alle Schüler-Jahrgänge und zahlreiche Lehrer einer Schule erreicht werden.“ (319)
Diskussion
Empirie: Der griffige Buchtitel „StopTeaching!“ wird von den beiden Herausgebern Primavesi/Deck in ihrem Vorwort wie in ihren Beiträgen mit nur wenigen Standardbeispielen unterlegt. Diese „professionellen“ Aufführungen mit Kindern/Jugendlichen werden präzise und einfühlsam beschrieben und analysiert; die ‚übrige‘ Kinder-Jugendtheaterszene einschließlich ihrer Clubs, das Schul- wie das Amateurtheater werden ohne Darstellung abqualifiziert – Setzungen ohne Nachweis. Theater soll „nicht zum bloßen Abziehbild moralischer Prinzipien erstarren“ (18); soll nicht zurückgreifen auf die „üblichen Filter und Rahmungen eines konventionell pädagogisch motivierten Theaters, das oft noch an der Konstruktion und Illusion einer kindgerechten Welt festhält“ (19) – ähnlich wie die Schule mit ihren „im Schulunterricht bis heute vermittelten Klischees eines autoritären Belehrungstheaters“ (22).
Ähnlich pauschal und begründungslos Deck; er konstatiert: „In vielen Produktionen und Kontexten dominiert immer noch ein pädagogisches und belehrendes Verständnis von Theater, wie es zunächst von der bürgerlichen Aufklärung entwickelt wurde … gerade im pädagogisch-künstlerischen Bereich dominiert nicht selten eine Auffassung von Bildung und Erziehung, die in vielen Punkten noch dem Methodenverständnis der 1970er-Jahre (sic!) verhaftet ist.“ (54 f) Allerdings: alle diese Beurteilungen erfolgen en bloc; keine wird mit einem Beispiel belegt. Nicht ohne Absicherung: „Dabei soll es gar nicht darum gehen, etwa kategorisch zwischen ‚gutem‘ subversiven und ‚angepasstem‘ pädagogischen Kinder- und Jugendtheater zu unterscheiden“ (65 – wiederum allerdings ohne konkrete Beispiele – nicht einmal ein Bezug wird genannt). Quasi zusammenfassend: „Wichtig aber ist zunächst einmal der Ansatz, jeden direkten Anspruch auf Erziehung, Belehrung, Integration oder Bildung aufzugeben“ (65).
Theorie: Ähnlich schmal wie die empirische Basis [16] ist die theoretische Unterfütterung. Sie erfolgt mit Rückgriffen auf Brecht (zum Lehrstück und zur Neuentdeckung des Lehrstücks durch Reiner Steinweg) und Benjamin/Lacis; dazu kommt noch Rancière. Es scheint, als sei Primavesi/Deck weder die Kinder-Jugendtheaterszene samt Theaterclubs, Schul- und Amateurtheater bekannt, noch die Benjamin-Lacis-Rezeption, noch die intensiven Erprobungen und Diskussionen von Lehrstücken Brechts [17]. Hinweise auf Diskussionen innerhalb der Spiel- und Theaterpädagogik fehlen ganz; auch auf allgemeine pädagogische Publikationen wird kein Bezug genommen.
Begrifflichkeit: Der flott formulierte Titelbegriff „Teaching“ wird von den Herausgebern gesetzt, aber weder erläutert noch hinterfragt. Auch verwandte Begriffe (Lehren, Lernen, Pädagogik, Erfahrung …) bleiben meist ungeklärt, werden von AutorInnen ohne Rückbindung an den Buchtitel mehr oder weniger naiv „benutzt“. Insofern wird auch nicht klar, was da eigentlich „gestoppt“ werden soll.
Die Chance, ausgehend etwa von auch theoretisch qualitätvollen Beiträgen (Hentschel, Vassen, Westphal) zu einer gemeinsamen (oder wenigstens gemeinsam diskutierten) näheren Bestimmung von „Lernen in Bezug auf Theater“ (Theater sehen, Theater entwickeln und proben, Theater aufführen), von „Selbstbildung im Kontext von Fremdheit“ (Vassen 151) zu kommen, wurde offensichtlich nicht einmal gesehen, geschweige denn genutzt.
Zusammenhang: Das liegt auch daran, dass „Stop Teaching!“ sich als eine ausgesprochen zusammenhanglose, ja unkommunikative Sammlung präsentiert: es gibt, soweit ich sehe, nur einen einzigen Hinweis der Herausgeber auf einen anderen Beitrag (Deck zitiert auf S. 35 aus dem Artikel von Schubert, 102); Fragen und Anregungen laufen ins Leere: „Welche Möglichkeiten speziell das Theater hat, mit künstlerischen Herangehensweisen herrschende Deutungsmuster und gesellschaftliche Diskurse über Kinder zu dekonstruieren und für Zuschauer Anlässe zu schaffen, neue Sichtweisen zu entwickeln, mögen die anderen Beiträge in diesem Band beantworten“ (Schubert 104). Auch bei Kristin Westphal hängt der Abschluss-Wunsch in der Luft: der von ihr herausgearbeitete „Zugang in der Pädagogik korrespondiert mit der Vorstellung eines schöpferischen Tuns in den Künsten, wie wir es in der Theatertheorie und anhand von Theaterkonzepten in der Praxis mit Kindern untersuchen wollen.“ (135)
Schlicht nebeneinander gestellt werden auch unterschiedlich erzählte Geschichten des Kindertheaters. Hentschel z.B. konstatiert: „Mit der Abkehr von der pädagogischen Fundierung des Kindertheaters ab Mitte der 1980er Jahre und der ästhetischen Orientierung kamen dann auch die lange verschütteten Theatertraditionen eines Theaters der Bilder, des Tanzes und der Abstraktion zutage. Beckett für Kinder wurde möglich“ (79); diskutiert wird diese Aussage nicht; Primavesi/Deck erzählen schlichtweg eine andere Geschichte. Auch Hentschels Begriff des „Erlebens“ wird nicht aufgegriffen: „Bildertheater, Performance, Tanztheater, Installationen, all diese Formen sind auch im Theater für Kinder zu sehen. Der Fokus der Rezeption verlagert sich vom Verstehen zum Erleben“ (81) [18]. Sara Ostertags „Untersuchung kritischer Praxen der Kunstvermittlung“ (257ff) [19] unter Bezug auf Mörsch und Rancière bleibt isoliert, ähnlich wie Katalin Stangs wunderbare Hinweise auf Kleist und die Improvisation bei Benjamin [20]. Selbst direkte Auseinandersetzungen mit dem Titel des Buches wie bei Scherer werden von den Herausgebern ignoriert [21].
Auch die drei durchaus unterschiedlichen Arbeitsweisen, wie sie Anna K. Becker (in Bezug auf Samir Akika, 235ff), Carmen Mehnert (in Bezug auf Constanza Macras, 243ff) sowie Sandra Strunz (über ihre einklassige Schweizer Dorfschule, 251ff) kompetent beschreiben, bleiben isoliert nebeneinander stehen.
Schwer verständlich ist mir auch die Einordnung von Wiebke Dröges Beitrag; die Beschreibung ihrer Arbeit im „Cabinet Particulier“ findet sich nicht unter „Projekte und Arbeitsweisen“, sondern unter „Grundlagen und gesellschaftlicher Kontext“ – vielleicht wegen ihrer Behandlung des Themas ‚Lobby‘? (Eingeschränkt freilich auf „Lobby für zeitgenössische Tanzkünstler“ [22] 111).
Fazit
„Stop Teaching!“ ist nicht durchweg ein ärgerliches Buch: es enthält eine Reihe von qualitätvollen, informativen Beiträgen – auch von den beiden Herausgebern. Aber es ist eine ärgerliche Zusammenstellung: ohne Zusammenhang, voller unbegründeter Wertungen, mit deutlichen Kenntnislücken. Das Thema ‚Teaching‘ wird (mit unterschiedlicher Begrifflichkeit und unterschiedlicher Qualität) immer mal wieder behandelt – ohne Zusammenhang und ohne Koordination.
[1] Es ist nicht klar, was mit der „genannten Tendenz“ gemeint ist. Vielleicht sollte hier schon kritisch angemerkt werden, dass es in der Anlage des Sammelbandes keine Begriffsdiskussion, geschweige denn Begriffsklärungen gibt. Es gibt auch keinen Vergleich von Arbeitsweisen; beschrieben werden (punktuell) „professionelle“ Arbeitsweisen. Dabei müssen sich LeserInnen auf eine spezielle Terminologie einlassen: ‚Professionell‘ meint die Professionalität von Regisseuren, Dramaturgen, Künstlern – nicht die Professionalität von LehrerInnen, nicht die von TheaterpädagogInnen. „Rollenspiel“ meint das Spielen (Erarbeiten und Aufführen/Zeigen) einer schriftlich vorliegenden Theaterrolle durch einen Schauspieler; Gegensatz dazu die „postdramatische Praxis“ als „ Abkehr vom dramatischen Werk als übergeordnetem Prinzip der Aufführung“ – „eine Infragestellung von Rollenspiel, Einfühlung und Illusion“ (16). Auch Worte wie Werkstatt, Workshop, Atelier, Labor sind eher Marketingbezeichnungen; sie werden nur selten expliziert oder in ihrer Besonderheit deutlich gemacht. Selbst zentrale Begriffe (Teaching, Lernen, Lehren, Pädagogik) werden nur von einzelnen Autorinnen reflektiert; insgesamt herrscht eine Art ‚Was ihr wollt‘- oder ‚Wie es euch gefällt‘-Prinzip.
[2] Primavesi fragt zwar nach „Lernen im Theater“, nimmt aber Anregungen anderer „Stop Teaching!“-AutorInnen nicht auf. Kennt er die Beiträge nicht? Und wie sollte jemand „reflektiertes Verhalten lernen“, ohne zu „urteilen“? Durch Dressur?
[3] Ein sinnloser und wahrscheinlich grammatisch falscher Halbsatz: gemeint ist wohl nicht ‚das Vorschreiben von Zuschauermeinungen‘ (wem sollten sie vorgeschrieben werden?), sondern ‚den Zuschauern Ansichten und Meinungen vorschreiben, ihre Ansichten und Meinungen kontrollieren‘ (aber wer will das? Wer kann das?).
[4] Gegenwärtig? – Um nur ein Beispiel zu nennen: Das Berliner Obdachlosentheater „Ratten“ gibt es seit 1992 (zunächst im Rahmen der Volksbühne; dann selbstständig; 1995 bekamen die Ratten den Kunstpreis für Darstellende Kunst der Stadt Berlin).
[5] Sorry – aber auch hier ist nachzufragen: Was ist ein „Kinderbild … als Publikum“? Und was sind „Kinder – Figuren – im Jugendtheater“?
[6] Anschließend erfolgt (wenn ich richtig sehe) mit einem Zitat aus dem Beitrag von Inge Schubert (102) der einzige inhaltliche Hinweis der Herausgeber des Sammelbandes auf einen anderen Stop-Teaching!-Artikel.
[7] Also Hierarchien auflösen, aber nicht die des Theaterexperten für „künstlerische Prozesse und Produktionen“; trotzdem aber eine ‚widerständige Praxis“!
[8] Ein eigenartig platzierter Beitrag, stellt die Autorin doch vor allem ihr Projekt und ihre Arbeitsweise vor. Oder verstehen die Herausgeber den Ruf nach „einer besseren Lobby“ als Teil von „Grundlagen und gesellschaftlicher Kontext“? Was insbesondere Tanz und Jugend betrifft, so wäre hinzuweisen auf die Beiträge von Mehnert (243 ff), Lange (269 ff), Eitzeroth (275 ff).
[9] Auch dies ein Beitrag, ebenso wie der vorhergehende von Westphal, der bei Primavesi/Deck keine merklichen Spuren hinterlassen hat; haben sie die Beiträge überhaupt gelesen?
[10] Sorgfältige Beschreibungen/Analysen der Aufführungen; mit Ausnahme von Tim Etchells kaum Informationen über die Arbeitsweise, über Auswahl- und Probenprozesse. Sie wurden weder beobachtet noch nachträglich erfragt.
[11] Gemeint ist wohl: damit sie sich meine Probleme anhören – oder?
[12] Jenfeld und Eppendorf sind zwei Hamburger Stadtteile mit sozial deutlich unterschiedlichen „Verhältnissen“; „aufeinander“ wahrscheinlich im Sinne von „Gemeinsamkeit, Zusammenarbeit“ zu verstehen; „mit gleichen Verhältnissen“ wahrscheinlich im Sinne von „gleichberechtigt“.
[13] Stang schreibt von der „Dreiecksbeziehung Brecht – andcompany&Co - Ringlokschuppen“ (224). „Der Ringlokschuppen bietet seit 2011 ein jährliches Festival als Plattform für das Zusammentragen der künstlerischen und wissenschaftlichen Forschungsergebnisse über das ‚Fatzer-Fragment‘ an und ermöglicht einen Austausch von Interessierten aus allen Kulturbereichen.“ (226)
[14] Irgendwo findet sich wahrscheinlich auch noch der Superlativ eines ‚ganzheitlichsten‘ Erlebnisses! Fraglich auch, wie sich szenisches Material „auf eine Funktion der Theatersprache“ reduzieren lässt.
[15] Erlebnis? Oder ErlebnisBEGRIFF? Jedenfalls ein potenter Begriff, wenn er einen Prozess körperlich machen kann.
[16] Nicht einmal einen Hinweis gibt es auf: Theatertreffen der Jugend (es hat einen breiteren Teilnehmerkreis als das Schultheater der Länder), Treffen der Theaterjugendclubs, Internationales Festival Sapperlot (Brixen, Südtirol), ‚Augenblick mal‘ – Kinder/Jugendtheatertreffen …; viele dieser Treffen/Festivals werden von einer Jury ausgewählt. Auch keines der anderen Kinder- oder Jugendtheaterfestivals, kein deutsches Kinder- oder Jugendtheater wird genannt. Formen wie Kinder-/Jugendzirkus (etwa Sonnenstich, Cabuwazi, Juxirkus in Berlin, Tasifan/Weimar), Kinderoper fehlen.
[17] Wie schnell und wie ernsthaft und intensiv Brechts Lehrstücke diskutiert und erprobt wurden, zeigen schon die von Reiner Steinweg herausgegebenen edition-suhrkamp-Bände „Brechts Modell der Lehrstücke. Zeugnisse, Diskussion, Erfahrungen (1976!) und „Auf Anregung Bertolt Brechts: Lehrstücke mit Schülern, Arbeitern, Theaterleuten“ (1978).
[18] Auch ihre Warnung („Das Theater für Kinder wird so didaktisiert, pädagogisiert und instrumentalisiert als Kompetenzzentrum für defizitäre kleine Menschen. Hier spielen die kompetenzorientierten Bildungsstandards ebenso eine Rolle wie … die Entwicklung von Evaluationsinstrumenten und empirischer Wirkungsforschung“, S. 83) wird nicht aufgegriffen.
[19] „Aus meiner Perspektive gibt es ein wachsendes Bedürfnis nach Klärung grundlegender Begrifflichkeiten und, in weiterer Folge, nach der Evaluation von Methoden und Formatentwicklung“ (257). Ostertag zitiert Hentschel (260); sie formuliert „Gedanken, die dazu einladen, weiter gedacht zu werden“ (258) – Antworten auf diese Einladung gibt es in Stop Talking!, pardon „Stop Teaching!“ nicht.
[20] „Mit dem Begriff ‚Innervation‘ meinte Benjamin … den künstlerischen Schöpfungsvorgang .. die ‚Übersetzung‘ … in künstlerische Tätigkeiten. Nach Benjamin ist im Theater diese ‚Übersetzung‘ die Improvisation.“ (233) Auch dieser Hinweis von Stang wird im Buch nicht aufgenommen. Zu verweisen wäre etwa auf Viola Spolin und das Szenische Spiel (Ingo Scheller).
[21] „Das ist ‚Stop Teaching‘oder ‚No Education‘ im Sinne von Ausbildung oder Vermittlung spezifischer Inhalte und Kenntnisse, bei denen es ein ‚richtig‘ oder ein ‚falsch‘ geben könnte. Das ist aber dennoch Pädagogik im Sinne der Eröffnung eines Feldes von Möglichkeiten, Denkweisen, Techniken und der Hilfe bei der Übernahme von Verantwortung für eine Gruppe und ihre künstlerische (sic!) Entscheidungen.“ (310)
[22] Auch hier fehlt mir ein Bezug auf Fakten: etwa die seit 41 Jahren jährlich stattfindende Berliner Veranstaltung „Tanz in Schulen“ (in diesem Jahr mit fast 2000 TeilnehmerInnen – Polka, Square Dance, Polonaise, folkloristische Tänze aus aller Welt); das Jugendtheaterfestival Sapperlot in Brixen (Tanzaufführungen seit 1995, Leitung Elfi Troi; seit 1999 immer wieder Gastspiele: Südafrika, Belgien, Österreich, Polen, Lettland, Rumänien). Auch beim Berliner Theatertreffen der Jugend gab es vielfach einzelne Tanzinszenierungen; seit 2014 ein eigenes Tanztheater der Jugend; 2015 nahmen Tänzer*innen im Alter von 11 bis 23 Jahren aus Berlin, Dresden, Düsseldorf, Hildesheim, München, Mainz und Tübingen teil. Zu nennen wären auch regelmäßige Tanzaufführungen an Kinder- und Jugendtheatern (in Berlin etwa im Theater an der Parkaue, im Theater Strahl).
Rezension von
Prof. Dr. Hans Wolfgang Nickel
Institut für Spiel- und Theaterpädagogik der Universität der Künste Berlin
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