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Rudolf Käser, Beate Schappach (Hrsg.): Krank geschrieben

Rezensiert von Dr. Alexander Brandenburg, 09.12.2014

Cover Rudolf Käser, Beate Schappach (Hrsg.): Krank geschrieben ISBN 978-3-8376-1760-3

Rudolf Käser, Beate Schappach (Hrsg.): Krank geschrieben. Gesundheit und Krankheit im Diskursfeld von Literatur, Geschlecht und Medizin. transcript (Bielefeld) 2014. 430 Seiten. ISBN 978-3-8376-1760-3. 32,99 EUR.

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Thema

Die Bewältigung von Krankheiten und die Art und Weise des Sterbens haben sich u. a. durch die Entwicklung und Anwendung der medizinischen Wissenschaften seit dem 18. Jahrhundert bis heute in den modernen Ländern in zum Teil unvorstellbarer Weise geändert. Die Literatur hat in ihrer ganzen Vielfalt diesen Prozess begleitet und sich mit vielen besonderen Aspekten, Themen und Fragen auseinandergesetzt und dabei keineswegs auf Wertungen verzichtet. Da Literatur gelesen und rezipiert wird und so auch, wie kompliziert auch immer, mittels des Lesers auf das gesellschaftliche Denken und Handeln einwirkt, kann sie nicht nur als ein neutraler Berichterstatter und Seismograph des Geschehens angesehen werden, sondern sie muss vielmehr auch als ein mitgestaltender Teil der medizinischen, gesundheitlichen und gesellschaftlichen Entwicklung und Wirklichkeit selbst betrachtet werden. Sie kann dabei hemmend, stabilisierend oder verändernd wirken, aber nicht ganz wirkungslos bleiben.

Alle hier versammelten Arbeiten fragen nach dem jeweiligen in der thematisierten Literatur beschriebenen Krankheitsgeschehen, nach der Art und Weise der Darstellung und ihres Wirkens auf den Leser.

  • Welche Strategien werden vom Autor eingesetzt, um welche Effekte zu erzielen?
  • Wie verträgt sich die Darstellung von Krankheit und Sterben mit dem Stand des medizinischen Wissens?
  • Wie werden Werte und Normen hergestellt, gefördert oder neu entwickelt, um den Umgang mit Krankheit zu steuern?
  • Wie werden die Geschlechterrollen eingeübt, festgelegt und umrissen?
  • Wie werden Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen den Geschlechtern beschrieben und bewertet?
  • Wie sieht mithin der Diskurs zwischen Medizin, Gender und Literatur im Einzelfall aus?

Entstehungshintergrund

Die Veröffentlichung geht zurück auf die Tagung: „Krank geschrieben. Rhetoriken im Diskursfeld von Literatur, Geschlecht und Medizin“, die am 13. und 14. November 2009 als Jahrestagung der Schweizerischen Gesellschaft für Kulturwissenschaften am Collegium Helveticum der Universität und ETH Zürich durchgeführt wurde. Als Veranstalter wirkte der Arbeitskreis-Literature-Medicine-Gender, der seit 2002 jungen Wissenschaftlern aus den Literaturwissenschaften, der Theater-und Filmwissenschaft, der Europäischen Ethnologie, der Medizingeschichte und der Gender Forschung einen Rahmen für interdisziplinären Austausch und kulturwissenschaftlich ausgerichtete Forschungsgespräche bietet.

Aufbau und Inhalt

Einleitend stellt Rudolf Käser einige „Methodenansätze zur Erforschung des interdiskursiven Verhältnisses von Literatur und Medizin“ vor. Die in diesem Band versammelten Arbeiten beziehen sich auf die eine oder andere Weise auf die hier skizzierten Ansätze:

  • auf die Metaphernkritik und Metaphorologie bei Susan Sontag. Sie lehnt metaphorische Krankheitsmodelle ab, weil sie den Patienten tendenziell eine Schuld an der Erkrankung zuschreiben. Die Metapher des Kampfes im Umgang mit Krebs lehnt sie insbesondere deshalb ab, weil der Patient, der an Krebs stirbt, als Held auf einem Schlachtfeld gestorben zu sein scheint. Eine von Metaphern gereinigte und wissenschaftlich disziplinierte Sprache ist dem Sprechen über Krankheit angemessen.
  • auf die Kritik an einer hermeneutisch ausgerichteten Methode, die ungeprüft idealistische, universalistische und logozentrische Positionen tradiert.
  • auf eine durch Foucault geprägte Lektüre, die in besonderer Weise den Blick auf die Geschichte der Disziplinierung und Modellierung des Körpers und dessen Begehrens richtet.
  • auf textanalytische Methoden der Mikroanalyse; darunter fallen Methoden, die inhaltsanalytisch vorgehen und den semantischen Gehalt in den Focus stellen, aber auch wirkungsästhetische, auf das Wie der Darstellung gerichtete Untersuchungen.

Soziologie und Sozialgeschichte des Medizinalwesens, Symbolischer Interaktionismus/ Kulturkritik/ Gender Analysis und die Systemtheorie werden als weiteres Arsenal vorgestellt, aus dem die Autoren ihre Methoden beziehen.

Im ersten Kapitel, das wir uns etwas genauer anschauen wollen, geht es um die „Konstruktion weiblicher und männlicher Identitäten“: Unter dem Titel „Ganz ungewöhnlich eindrucksfähig“ beschäftigt sich Susanne Balmer am Beispiel der Analyse von vier Romanen („Luise“ von Therese Huber 1796/ „Gabriele“ von Johanna Schopenhauer 1821/ „Aus guter Familie-Leidensgeschichte eines Mädchens“ Gabriele Reuter 1895/ „Schicksale einer Seele“ von Hedwig Dohm 1899) mit der Darstellung von Krankheit in literarischen Weiblichkeitsentwürfen des 18. und 19. Jahrhunderts. In diesen Romanen wird u. a. eine Biologisierung der Geschlechterrollen abgelehnt, indem die Ursachen der Krankheitssymptome nicht im Geschlecht, sondern in der sozialen Realität gesucht werden. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts kommt dem medizinischen Diskurs noch eine kritische Rolle bei der Festlegung der Geschlechterrollen zu, während am Ausgang des Jahrhunderts schon der anonyme klinische Apparat für eine Disziplinierung weiblichen Aufbegehrens gegen die Geschlechterrolle sorgt.

„Männliche und weibliche Lesesucht“ von Rahel Leibacher thematisiert die im 18. Jahrhundert im Erziehungs-,Medizin- und Literatursystem diskutierten Folgen von Romanlektüre bei Leserinnen und Lesern und kommt dabei für das Erziehungssystem zu dem Ergebnis, dass es in der Romanlektüre eine Gefahr für die gesellschaftliche Moral, die Sitten und Tugendhaftigkeit des Individuums, aber auch für die patriarchalische Gesellschaftsstruktur gesehen hat.

Rudolf Käser stellt das Drama von J. M. R. Lenz „Der Hofmeister“ unter der Überschrift „Die jungen Herren weiß und roth“ in den Mittelpunkt seiner Studie. Ihm gelingt es, in minutiöser Relektüre die Dramenhandlung in den Kontext damaliger medizinischer, juristischer und moraltheologischer Auffassungen zu stellen und neu zu interpretieren. Wie im Sturm und Drang überhaupt und auch bei Lenz Fragen der Sexualität auf bisher literarisch unerhörte Weise dargestellt werden, so bleibt es bei Lenz jedenfalls inhaltlich im vorgegebenen Diskurs der Zeit. Das Innovative an Lenz ist nicht in den Stoffen (Onanie und Kastraten-Ehe) zu suchen, sondern in der Drastik der Darstellung, die dem Publikum ein eigenes Urteil über das Geschehen abfordert.

Gabi Pailers Beitrag „Emanzipation und Augenlicht“ setzt sich an Hand der Analyse von Elsa Bernsteins Schauspiel „Dämmerung“ (1893) mit dem Sehvermögen als Motiv weiblicher Entwicklung auseinander. Krankheitsprozesse und deren Behandlung stehen am Beispiel zweier Frauenfiguren im Mittelpunkt des Dramas.

Wie Ärztinnen in der populären Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts dargestellt werden, zeigt die Studie von Gabriela Schenk „Die Lust am Scheitern“ auf. Das Thema wurde bis in die Anfänge des Frauenstudiums zurückverfolgt, um die Aufnahme der zeitgenössischen Diskussion um das Frauenstudium und besonders um das Medizinstudium in die Literatur zu erkunden.

Welche erzähltechnischen Mittel können eingesetzt werden, um eine Romanfigur als krankhaft darzustellen und welches Wirkungspotential entfalten diese Darstellungsmittel auf Seiten der Leserschaft? Virginia Pinto beantwortet diese Fragen durch einen Vergleich kranker Protagonistinnen in den Romanen „Aus guter Familie“ (Gabriele Reuter 1904) und „Die Klavierspielerin“ (Elfriede Jelinek 2006) und nennt ihre Untersuchung „Erzählsysteme der Pathologisierung“. Beide Hauptfiguren werden auf eine eher abschätzige Art und Weise pathologisiert, die beim Leser zu einer Abwehrhaltung führt. Da die Erzählinstanz in beiden Romanen das pathologisierende Wertsystem verwendet, bleibt allein der Leser übrig, um das Gelesene zu hinterfragen und den Kampf der Frauen gegen die Unterdrücker ihrer Freiheit zu würdigen.

Unter der Überschrift „Einschlüsse und Ausschlüsse“ werden im zweiten Kapitel folgende Arbeiten vorgestellt:

  • Martin Stingelin: Der Kredit von Freuds Krankheitsmetaphern. Zum Grenzverkehr des Wissens zwischen Wahn und Therapie
  • Lotti Wuest: Psychiatrie als gebauter Diskurs. Architektur der Klinik in Texten von Alfred Döblin, Friedrich Glauser, Heinar Kipphardt und Rainald Goetz
  • Dave Schläpfer: Pathogene Irritation als Motor der Kunst. Jürg Federspiels „Die Ballade von Typhoid Mary“

„Eskalation und Konsolidierung“ heißt das dritte Kapitel, in dem es um vor allem um Seuchen und insbesondere um Aids geht:

  • Marco Pulver: Rhetorik der Seuche. Wie und Wozu man über Seuchen spricht
  • Beate Schappach: „Es war, als hätte das Virus mich geschwängert. Geschlecht als Erzählparadigma in Darstellungen von Aids“
  • Ruth von Rotz: Krankheit, Sexualität und Tod. Zur Darstellung der Identitätsfindungsprozesse in Patrick Kokontis´ Erzählung „Entgleisungen“
  • Vera Landis: Ja-Sagen zum Nein-Tun. Die Krankheitsperspektive einer Randfigur in Hugo Loetschers Erzählung „Die Einwilligung“

Das vierte und letzte Kapitel thematisiert „Popularisierung und Breitenwirksamkeit“ im Umgang mit irritierenden Phänomenen des Krankhaften zum Beispiel in TV-Dokumentationen oder in der Berater-Kolumnen in Boulevardzeitungen:

  • Ingrid Tomkowiak: Mad Scientists im Dienst eines uralten Menschheitstraums? TV-Dokumentationen über Forschungen zur Lebensverlängerung
  • Annika Wellmann: Zeitbombe im Unterleib. Eine Boulevardzeitung popularisiert (sexual)medizinisches Wissen
  • Sarah Lüssi: Der Zappel-Philipp und andere Fallgeschichten. Die Darstellung von Ad(h)s in der Kinder- und Jugendliteratur

Diskussion und Fazit

Man kann sicherlich alle Beiträge mit Gewinn lesen, insofern sie sich durchweg mit interessanten Themen beschäftigen und entsprechende Literatur behandeln. Da gibt es durchaus den einen oder anderen wertvollen Lektürehinweis oder ungewohnte Perspektiven und neue Erkenntnisse. Aber nicht alle Beiträge bewegen sich auf dem Niveau wie der Beitrag von Rudolf Käser über Lenz´ Drama „Der Hofmeister“. Da liegt allerdings auch die Messlatte sehr hoch. Mancher Beitrag vergibt ein wenig das Thema, wenn man zum Beispiel den sicherlich keineswegs schlechten Aufsatz „Psychiatrie als gebauter Diskurs“ betrachtet, aus dem aber ein wenig mehr hätte gemacht werden können. Manches Thema wird auch recht kurz abgehandelt, vielleicht zu kurz. Auch haben mich vielfach die der Materialbearbeitung vorangestellten methodischen Ausführungen gestört, die ja oft mehr versprechen, als sie in der Umsetzung halten.

Doch bleiben wir auf dem Boden. Die Bücher des transcript Verlages sind in der Regel nicht langweilig und nehmen interessante Themen auf. Dies trifft auch für dieses Buch zu. Ich habe es mit großem Interesse gelesen, habe dabei einiges Neues lernen können und darf deshalb das Buch zur anregenden Lektüre weiterempfehlen.

Rezension von
Dr. Alexander Brandenburg
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Zitiervorschlag
Alexander Brandenburg. Rezension vom 09.12.2014 zu: Rudolf Käser, Beate Schappach (Hrsg.): Krank geschrieben. Gesundheit und Krankheit im Diskursfeld von Literatur, Geschlecht und Medizin. transcript (Bielefeld) 2014. ISBN 978-3-8376-1760-3. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/17782.php, Datum des Zugriffs 07.06.2023.


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