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Peter Bubmann, Hans Dickel (Hrsg.): Ästhetische Bildung in der Erinnerungskultur

Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 28.11.2014

Cover Peter Bubmann, Hans Dickel (Hrsg.): Ästhetische Bildung in der Erinnerungskultur ISBN 978-3-8376-2816-6

Peter Bubmann, Hans Dickel (Hrsg.): Ästhetische Bildung in der Erinnerungskultur. transcript (Bielefeld) 2014. 208 Seiten. ISBN 978-3-8376-2816-6. 28,99 EUR.
Ästhetik und Bildung, Bd. 8.

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Kultur braucht Erinnerung. Erinnerung braucht Kultur

Es erstaunt – oder auch nicht – dass in den Zeiten der sich immer interdependenter, entgrenzender und jetztzeitlich entwickelnden (Einen?) Welt die Fragen nach Erinnerungsritualen wie nach Traditionen (Hermann Mückler / Gerald Faschingeder, Hrsg., Tradition und Traditionalismus. Zur Instrumentalisierung eines Identitätskonzepts, 2012, www.socialnet.de/rezensionen/12770.php) immer drängender werden.

Herausgefordert bei diesem Werden und Bewältigen sind nicht zuletzt Erinnerungen, wie sie sich in den kollektiven Gedächtnis- und Erinnerungskulturen darstellen (Astrid Erll, Gedächtnis- und Erinnerungskulturen, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/12634.php), sich als wissenschaftliche, interdisziplinäre Phänomene zeigen ( Christian Gudehus, u.a., Hrsg., Gedächtnis und Erinnerung, 2010, www.socialnet.de/rezensionen/12904.php) und als Raum- und Sinnsuche darstellen (Pim den Boer / Heinz Durchardt / Georg Kreis / Wolfgang Schmale, Hrsg., Europäische Erinnerungsorte. 3. Europa und die Welt, 2012, www.socialnet.de/rezensionen/13336.php).

Entstehungshintergrund und Herausgeberteam

Wir brauchen eine neue Erinnerungskultur – angesichts des globalisierten Momentanismus! Die uralte Erkenntnis, dass individuelle, kulturelle und kollektive Identität nicht ohne Geschichtsbewusstsein auskommt, und als objektive, rationale und emotionale Erinnerungskompetenz konstitutiv für das Menschsein ist, gilt es neu zu entdecken. Die Zugangsformen dazu sind vielfältig. Beim Interdisziplinären Zentrum für Ästhetische Bildung der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg wird der anthropologische und pädagogische Schwerpunkt dieser Suche nach Erinnerungskulturen auf ästhetische Medien, Bilder und Prozesse gerichtet. Die Forschungsarbeiten dazu werden in der Publikationsreihe „Ästhetik und Bildung“ präsentiert und bei Socialnet vorgestellt.

Der Theologe Peter Bubmann und der Kunsthistoriker Hans Dickel fokussieren ihre Forderungen nach einem lokalen und globalen kulturellen Gedächtnis auf „symbolisch verdichtete( ) ästhetische ( ) Gestaltungsprozesse ( ) und neue ( ) Rituale ( )…, die mehr sein (wollen) als nur die Legitimierung und Fixierung eines tradierten Status quo“.

Aufbau und Inhalt

Der Sammelband erhebt dabei den Anspruch, „gerade die individuellen Prozesse ästhetischer Bildung als gesellschaftspolitisch bedeutsam (aufzuweisen), um die ästhetischen Spielräume gemeinsam geteilter Erinnerungskultur verantwortlich auszuloten“. Peter Bubmann thematisiert in seinem Beitrag „Erinnerungskultur, Ritual und ästhetische Bildung“ die Zusammenhänge wie Kontrapunkte zu Fragen des kulturellen Gedächtnisses. Er diskutiert sowohl die Notwendigkeit, eine „Ethik der Erinnerung“ zu entwickeln, als auch eine „Kultur des Vergessens“ zu lernen. Dabei geht er von dem religiösen (christlichen) „lebensstiftende(m) Gedächtnis“ aus, um auf die Bedeutung von Ritualen und der „ästhetisch-bildende(n) Kultivierung des Erinnerungssinns“ zu verweisen.

Der Kölner Erziehungswissenschaftler Jörg Zirfas steuert mit seinem Beitrag „Vom Speichern zum Vergessen“ Hinweise zu pädagogisch-ästhetische Topographien des Gedächtnisses und Erinnerns bei. Dabei setzt er auf Bildungstheorien, die nicht „Nach-Bildung“, sondern „Selbstbildung“ in den Mittelpunkt rücken, und die Bedeutung des „ikonographischen Wissens“ hervorheben.

Der Theaterwissenschaftler André Studt thematisiert mit seinem Beitrag „Begegnung mit dem Vergessen“ die Bedeutung und Möglichkeiten des Theaters als Arena der Erinnerung. Dabei stellt er das Theater „als Scharnier zwischen kulturellem und kommunikativem Gedächtnis“ dar, und er verweist auf Beispiele, wie performatives, soziales Theater wirksam und aufklärerisch darstellen kann (vgl. dazu auch: Jürgen Meier, Theater stört. Betrachtungen zur bürgerlichen Stadtkultur und Theatergeschichte mit dem Fokus Hildesheim, 2014, www.socialnet.de/rezensionen/17934.php).

Der Kulturwissenschaftler Leopold Klepacki richtet seine strukturtheoretischen Betrachtungen auf das Museum: „Die ästhetische Vergegenwärtigung absenter kultureller Bedeutungssysteme durch präsente Dinge“ und verweist auf den Zusammenhang von (individueller) sinnlicher Wahrnehmung und (kollektiver ) historischer Gedächtnisbildung. Wenn das Museum als Ort betrachtet wird, „an denen ästhetische und kognitive Bildungsprozesse konstitutiv miteinander verschränkt werden“, kann man davon ausgehen, dass Wahrnehmungs-, Urteils-, Erkenntnis- und Reflexionsprozesse wirksam werden können.

Hans Dickel reflektiert mit seinem Beitrag „Orte der Erinnerung“ Formen des Gedenkens, indem er Mahnmale zur NS-Zeit im deutsch-deutschen Vergleich darstellt. Dazu wählt er Objekte von Architekten, Bildhauern und Künstlern aus der Bundesrepublik und der DDR aus und diskutiert die jeweiligen politischen, identitätsstiftenden, identitätsverunsichernden und ideologischen Auffassungen, bestenfalls um als künstlerische Interventionen die Distanz zum Gedächtnisort zu verkleinern: „Sie schließen die Arbeit in Geschichte nicht ab, sondern eröffnen sie“.

Der (Kirchen-)Musikwissenschaftler Konrad Klek äußert mit seinem Beitrag „Bachstätten aufsuchen“ einige provokative Gedanken zum fragwürdigen Kult von Johann Sebastian Bachs Musik und ihren Räumen. Er wendet sich gegen die kommerzielle Instrumentalisierung der Bachschen Musik: „Bach erleben in der Thomaskirche mit dem Thomaschor unter Leitung des Thomaskantors“.

Der Regensburger Kulturwissenschaftler Christian Zürner nimmt mit seinem Beitrag „Popmusik als Medium von Erinnerungskultur“ den zeitbezogenen, aktuellen Aspekt einer „Musik aus der Gegenwart für die Gegenwart“ auf. Mit dem Begriff der „ästhetischen Selbsttransparenz“ will er die Bedeutung des „up to date“ für die Erinnerungskultur und für kulturelle und ästhetische Bildungsprozesse aufzeigen. „Die Intensität des musikalisch Erinnerten …führt gerade aufgrund ihrer subjektiven, biographischen Bedingtheit zu einer besonderen Öffnung des Subjekts für das ästhetische Objekt“.

Der Pädagoge und Medienwissenschaftler Benjamin Jörissen stellt mit seinem Text „Bildsame Selbstvergessenheit“ die Bedeutung von filmästhetischen Inszenierungen im Zusammenhang mit biographischen Diskontinuitäten zur Diskussion. Am Beispiel von drei filmischen Erinnerungsmodellen analysiert er Zeit-Raum-Relationen und verdeutlicht sie durch „die systematische Betrachtung des Verhältnisses von medialer, ästhetischer und narrativer Ebene“.

Die Professorin für Christliche Publizistik im Fachbereich Theologie der Erlanger-Nürnberger Universität, Johanna Haberer, reflektiert mit ihrem Beitrag „Die Medialisierung des kulturellen Gedächtnisses und ihre Konsequenzen“. Sie setzt sich, im Zusammenhang mit der Erinnerungskultur, mit der „medialen Arena“ auseinander und fordert: „Wir müssen das Netz vergessen lernen“, natürlich nicht als Techniknegierung, sondern als technische, anthropologische und intellektuelle Herausforderung: „Vergessen ist keine Schwäche, sondern eine wichtige menschliche Eigenschaft. Deshalb müssen auch Maschinen und Verbünde wie das Netz lernen, zu vergessen“.

Fazit

Die überwiegend auf den christlichen Traditionen und dem (kollektiven?) kulturellen Gedächtnis der deutschen Mehrheitsbevölkerung rekurrierenden Beiträge zur ästhetischen Bildung in der Erinnerungskultur sind ohne Zweifel wichtige Beiträge zum bildungs- und gesellschaftspolitischen Diskurs um Aufklärungs- und Lernprozesse. Was fehlt, sind notwendige und unverzichtbare Ein- und Ausblicke auf die inter-, transkulturelle und interreligiöse Entwicklung hin zu einer gerechten, friedlichen und sozialen Welt, die ankert in dem Bewusstsein, der Überzeugung und Akzeptanz von der unteilbaren und nicht relativierbaren Menschenwürde, wie dies in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948 proklamiert wurde.

Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Es gibt 1693 Rezensionen von Jos Schnurer.

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ISSN 2190-9245