Suche nach Titel, AutorIn, RezensentIn, Verlag, ISBN/EAN, Schlagwort
socialnet Logo

Christian Wille, Rachel Reckinger et al. (Hrsg.): Räume und Identitäten in Grenzregionen

Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 12.11.2014

Cover Christian Wille, Rachel Reckinger et al. (Hrsg.): Räume und Identitäten in Grenzregionen ISBN 978-3-8376-2649-0

Christian Wille, Rachel Reckinger, Sonja Kmec, Markus Hesse (Hrsg.): Räume und Identitäten in Grenzregionen. Politiken - Medien - Subjekte. transcript (Bielefeld) 2014. 395 Seiten. ISBN 978-3-8376-2649-0. D: 29,99 EUR, A: 30,90 EUR, CH: 40,10 sFr.

Weitere Informationen bei DNB KVK GVK.

Kaufen beim socialnet Buchversand
Kaufen beim Verlag

Grenze als identitäts- und raumstiftendes Phänomen

Über physische, psychische, mentale, historische und anthropologische Grenzen wird viel nachgedacht und geforscht. Der Mensch als „begrenztes“ Lebewesen wird im abendländischen, philosophischen Denken in unterschiedlicher Weise thematisiert. In der aristotelischen, anthropologischen Betrachtung ist „peras“, Grenze, unverzichtbarer Bestandteil von Entstehen, Bewegung und Vergehen: „Wo Bewegung (genesis) und Bewegung (kinêsis) ist, muss auch eine Grenze sein“ (J. Hübner, in: Otfried Höffe, Aristoteles-Lexikon, Stuttgart 2005, S. 438); Immanuel Kant hat erkannt, dass der Grenzbegriff der menschlichen Erkenntnis unzugänglich ist, weshalb es unumgänglich sei, ihn zu denken (Martin Gessmann, Philosophisches Wörterbuch, Stuttgart 2009, S. 283). Mit dieser Replik soll lediglich darauf hingewiesen werden, dass Menschen mit unterschiedlichen Grenzsituationen konfrontiert sind, die eine intellektuelle Auseinandersetzung über Grenzen erforderlich macht.

Entstehungshintergrund und Herausgeberteam

Im Rahmen der Raum- und Identitätsforschung wird Grenzsituationen disziplinär und interdisziplinär eine große Aufmerksamkeit gewidmet. Die sozialwissenschaftlichen Fachdisziplinen basieren auf den Auffassungen, „dass Räume und Identitäten aus sozialen Praktiken hervorgehen“, was nichts anderes bedeutet, sie als „Doing Space“ und „Doing Identity“ und Bestandteil einer konstruktivistischen und kontingenzorientierten Forschung zu betrachten. Grenzerfahrungen, -begehungen und -überschreitungen sind nicht erst seit der sich immer interdependenter, entgrenzender und globaler entwickelnden (Einen?) Welt von existentieller Bedeutung für Menschen, sondern erweisen sich anthropologisch als konstitutives Element des Menschseins. In der politischen Bildung des zôon politikon wird „Entgrenzung“ geradezu als Entwicklungs- und Veränderungsvoraussetzung für Lernen als Verhaltensänderung postuliert (Dirk Lange, Hrsg., Entgrenzungen. Gesellschaftlicher Wandel und politische Bildung, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/12192.php).

Grenzen oder Differenzen, die sich nicht als festgelegte und nichthinterfragte Selbstverständlichkeiten darstellen, sondern als kontingente und veränderbare Situationen zeigen, werden in einem interdisziplinären Forschungsprojekt an der Universität Luxemburg untersucht: „Regionalisierungen als Identitätskonstruktionen in Grenzräumen, IDENT2“. Der Sozial- und Kulturwissenschaftler und Projektkoordinator Christian Wille, die Kulturanthropologin und Soziologin Rachel Reckinger, die Geschichts- und Kulturwissenschaftlerin Sonja Kmec und der Geograf, Raumplaner und Stadtforscher Markus Hesse, alle an der Universität Luxemburg tätig, geben den Forschungsband heraus.

Aufbau und Inhalt

Mit dem Forschungsprojekt werden drei „Praktiken der Grenze“, also wie „sich Räume und Identitäten nicht nur materialisieren, sondern die diese auch mitgestalten“, untersucht: Grenze als Differenzierung bzw. Selbst-/Fremdregulativ zum Außen – Grenzüberschreitungen als affirmativer und/oder subversiver Akt mit Transformationspotential – Grenzerweiterungen. Neben dem einleitenden Beitrag „Zur Untersuchung von Raum- und Identitätskonstruktionen in Grenzregionen“ durch Christian Wille und Rachel Reckinger, wird der Band in weitere vier Kapitel gegliedert:

  • „Theoretische und methodische Annäherungen an Grenzen, Räume und Identitäten“
  • „Raum- und Identitätskonstruktionen durch institutionelle Praktiken“
  • „Raum- und Identitätskonstruktionen durch mediale Praktiken“
  • „Raum- und Identitätskonstruktionen durch alltagskulturelle Praktiken“

Der Luxemburger Medien- und Kulturwissenschaftler Martin Doll und die Literaturwissenschaftlerin Johanna M. Gelberg, diskutieren die beim Forschungsprojekt relevanten Aspekte „Einsetzen, Überschreitung und Ausdehnung von Grenzen“, indem sie zum einen auf historische Entwicklungen und Bewusstseinsprozesse von Grenzbildung rekurrieren, zum anderen die philosophischen und anthropologischen Fragestellungen und Wirklichkeiten von Grenzziehungen und Zwischenräumen zu thematisieren: „Jede durch eine Grenze umschlossene ‚innere Ordnung‘ … wäre dann immer nur scheinbar von dem Saum, der diese Grenze markiert, unabhängig“.

Christian Wille und Markus Hesse stellen das Forschungskonzept vor und informieren über die Untersuchungsmethoden: „Raum vielfältig zu denken und produktiv zu wenden, gehen von der sozialen Bedingtheit und Prozesshaftigkeit von Räumen aus“. Sonja Kmec und Rachel Reckinger reflektieren „Identifikations- und Identifizierungsprozesse“. Dabei beziehen sie sich überwiegend auf den foucaultschen Begriff der Gouvernementalität, als „plastisches und weitgefasstes handlungstheoretisches Konzept, das sehr unterschiedlich gelagerte Fragestellungen als miteinander vernetzt erkennen lässt und so den Blick schärft für die Konstruiertheit von politischen, sozialen und (alltags-)kulturellen Evidenzen“. Christian Wille thematisiert „Methodik und situative Interdisziplinarität“ und informiert über die quantitativen Befragungen, die qualitativen Interviews und die Formen und Regulative bei der disziplinübergreifenden Zusammenarbeit.

Im dritten Kapitel „Raum- und Identitätskonstruktionen durch institutionelle Praktiken“ berichten Wilhelm Amann, Fabian Faller, Dieter Heimböckel, Bernhard Kreutz, Elena Kreutzer und Heike Maurer in den je spezifischen Fallbeiträgen über „Politiken und Normierungen“ und informieren über soziale Prozesse von Zuschreibungen, die bei gesellschaftlich-kollektiven Praktiken in bestimmten Räumen vorgenommen werden; diskutieren machtanalytische Perspektiven bei so genannten un/sittlichen Räumen, indem sie Forschungsergebnisse zur Problematisierung von Prostitution um 1900 in Luxemburg vorstellen; setzen sich, am Beispiel der Grafschaft Vianden mit „Burgen als Instrumente herrschaftlicher Raumkonstruktion und Repräsentation“ auseinander; beschäftigen sich mit dem Beitrag „Biogas – Macht – Raum“ mit der Konstruktion von Energieregionen in Grenzraum Luxemburg – Rheinland-Pfalz; und benutzen die Foucaultsche Gouvernementalitätstheorie, indem sie eine Interdiskursanalyse zum Migrationsdiskurs in Luxemburg vornehmen.

Mit dem vierten Kapitel „Raum- und Identitätskonstruktionen durch mediale Praktiken“ stellen Luc Belling, Julia de Bres, Claudio Cicotti, Till Dembeck, Paul di Felice, JeanneGlesener, Sonja Kmec, Anne-Marie Millim, Hérold Pettiau, Agnès Prüm, Céline Schall und Mónika Varga Forschungsergebnisse über räumlich beschreibbare Medien als Grenz- und Differenzierungs-Kontaktzonen vor: „Repräsentationen und Projektionen“ als erkennbare und analysierbare Beziehungen zwischen Medien und Identität; Konzeptionen und Wirkungen bei der mehrsprachigen Werbung und Regionalisierung; Ausstellungs- und Publikationsräume als „Orte der Verwandlung und des künstlerischen und kulturellen Zwischenraums“, am Beispiel des Kunstpreises „Robert Schuman“; mit Ausführungen über die „Schwelle von Ausstellungsorten“ und zu Zugangsmotiven zur Welt der Kultur; „Literatur des Zwischenraums“, verdeutlicht an den mehrsprachigen Inszenierungen des Verlags ULTIMOMONDO; mit der Fallstudie zu medialen (Selbst-)Inszenierungen Luxemburgischer Jugendlicher als virtuelle Identitätskonstruktion: „Mir g´sinn eis dono op Facebook“; die Analyse über die Schwelle zwischen einem „Nicht-Ort“, „Routine-Ort“ und „Ort“: Die Tankstelle in seinen narrativen Präsentationen (I) und Transfigurationen (II).

Im fünften Kapitel „Raum- und Identitätskonstruktionen durch alltagskulturelle Praktiken“ geht es um Subjektivationen und Subjektivierungen, die sich in jeweils spezifischen Lebenssituationen und Raumpräsentationen zeigen. Christel Baltes-Löhr, Andrea Binsfeld, Elisabeth Boesen, Laure Caregari, Norbert Franz, Markus Hesse, Eva Klos, Rachel Reckinger, Gregor Schnuer, Benno Sönke Schulz, Heinz Sieburg, Gianna Thommes, Britta Weimann, Christian Wille und Julia Maria Zimmermann legen Fallbeispiele vor, aus denen Alltagssituationen deutlich werden, die das Subjekt als empirisches Projekt präsentieren. Es werden „Alltagspraktiken nachhaltiger Ernährung aus der Perspektive von räumlichen Identifizierungen“ vorgestellt; genderspezifische Zuschreibungen und Aneignungen von Räumen als „GenderRäume“ präsentiert; am Beispiel von Familienidentitäten auf Grabmonumenten in Arlon Identitätskonstruktionen und Regionalisierungsbewusstsein bei Todengedenkfeiern im Treverergebiet verdeutlicht; die Forschungsergebnisse über die Entstehung von Arbeiterkolonien, ihre Identitätsbewahrung und eines Subkultur-Bewusstseins diskutiert; mit dem Titel „Periurbanes Luxemburg“ wird die Positionierung und diskursive Konstruktion suburbaner Räume an der Grenze zwischen Stadt und Land thematisiert; mit Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg in Luxemburg und den Grenzregionen seiner Nachbarstaaten Frankreich, Belgien und Deutschland werden die unterschiedlichen, nationalstaatlichen und eingeschriebenen historischen Erzählungen verdeutlicht: „Zwangsläufig spielt im Alltagsleben nicht nur die eigene Erinnerung eine Rolle, sondern eben auch die Sicht auf die Nachbarregionen und die der Nachbar/-innen“; mit der Titelung „Beyond Luxemburg“ werden Identifikationskonstruktionen im Kontext grenzüberschreitender Wohnmigration analysiert. Dabei zeigen sich nicht nur Übereinstimmungen und Gegenpositionen, sondern eben auch, dass aus den Analysen ohne Berücksichtigung der je individuellen Lebenssituationen und Erfahrungen keine verallgemeinernden Aussagen getroffen werden können; als letztes Beispiel dieses Kapitels werden Forschungsergebnisse zu „sprachliche(n) Identifizierungen im Luxemburgisch-Deutschen Grenzraum“ vorgestellt. Es werden die Tendenzen deutlich, dass die Luxemburger das Luxemburgisch als eine eigene Identitätssprache verstehen, das sich deutlich und gewollt von den moselfränkischen Dialekten in der deutschen Grenzregion absetzt.

Als sechstes Kapitel bringt Markus Hesse als Ausblick eine erst einmal verwegen und ungewöhnlich klingende Aussage ins Spiel: „Luxemburg ist das Singapur des Westens“. Er nimmt damit einen Bericht zum Anlass, in dem im „Luxemburger Wort“, der im Land führenden Tageszeitung, der südasiatische Insel- und Stadtstaat in den höchsten Tönen gelobt wird, als Land mit der geringsten Korruption, mit einer multikulturellen und toleranten Bevölkerung, erfolgreichen Wirtschaft und hoher Mobilität. Insbesondere das letztere Merkmal, „Mobilities“, wird vom Autor als ein positives Beispiel „zur Verflüssigung von räumlichen Verhältnissen“ herausgestellt und damit der Vergleich gerechtfertigt.

Fazit

Das interdisziplinäre, auf transkommunikative Initiativen bauende Luxemburger Forschungsprojekt kann als ein Exempel dafür gelten, wie Räume und Identitäten in Grenzregionen untersucht werden können. Dass die Luxemburgisch-Belgisch-Französisch-Deutsche Grenzregion im zusammenwachsenden Europa auch eine Euregio ist, kann deutlich machen, dass der nationalen und internationalen, interdisziplinären Raum- und Identitätsforschung ein hoher Stellenwert zukommt und eine große, wissenschaftliche Aufmerksamkeit erfordert. So ist es sicherlich nicht überzogen, das disziplinen- und regionenübergreifende Forschungsprojekt der Universität Luxemburg als Exempel für europäische Regionalforschung anzupreisen. Es gibt europa- und weltweit zahlreiche Grenzregionen, in denen funktionierende Beziehungen, interkulturelles Verständnis, aber auch konfliktträchtige Misstöne vorherrschen.

Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
Mailformular

Es gibt 1664 Rezensionen von Jos Schnurer.

Besprochenes Werk kaufen
Sie fördern den Rezensionsdienst, wenn Sie diesen Titel – in Deutschland versandkostenfrei – über den socialnet Buchversand bestellen.


Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 12.11.2014 zu: Christian Wille, Rachel Reckinger, Sonja Kmec, Markus Hesse (Hrsg.): Räume und Identitäten in Grenzregionen. Politiken - Medien - Subjekte. transcript (Bielefeld) 2014. ISBN 978-3-8376-2649-0. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/17790.php, Datum des Zugriffs 08.09.2024.


Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt. Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns. Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.


socialnet Rezensionen durch Spenden unterstützen
Sie finden diese und andere Rezensionen für Ihre Arbeit hilfreich? Dann helfen Sie uns bitte mit einer Spende, die socialnet Rezensionen weiter auszubauen: Spenden Sie steuerlich absetzbar an unseren Partner Förderverein Fachinformation Sozialwesen e.V. mit dem Stichwort Rezensionen!

Zur Rezensionsübersicht