Bruno Latour: Existenzweisen
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 24.11.2014
Bruno Latour: Existenzweisen. Eine Anthropologie der Modernen. Suhrkamp Verlag (Berlin) 2014. 666 Seiten. ISBN 978-3-518-58607-5. D: 39,95 EUR, A: 41,10 EUR.
Um die Gipfel der Erkenntnis zu erklimmen, braucht es einen Geländeführer…
Der am Institut d´Études Politiques de Paris (IEP) lehrende Soziologe und Philosoph Bruno Latour wird mit seinen wissenschaftlichen Arbeiten hochgelobt. Die Zeitung Le Monde bezeichnet ihn sogar als „Hegel unserer Zeit“. Er ist in der Tat mit zahlreichen, bedeutenden Werken in die Öffentlichkeit getreten; und mit seinem unkonventionellem Denken hat er eine Reihe von Paradigmenwechsel vollzogen, die traditionelle Praktiken und Prozesse aus den Angeln gehoben haben. So hat er, zusammen mit anderen, in den 1980er Jahren die „Akteur-Netzwerk-Theorie“ (ANT) entwickelt, die davon ausgeht, dass die Prozesse, die die Welt bewegen, netzwerkartig agieren, was bedeutet, dass die sozialen Elemente aus verschiedenen Zusammenhängen bestehen, sich aber in ihren unterschiedlichen Phänomene und Wirkungsweisen gegenseitig ergänzen, miteinander korrelieren und Handlungspotentiale anbieten. Es geht darum, mit dem Geist und den Werkzeugen der Wissenschaft „Assoziationen nachzuzeichnen“; ja vielleicht sogar eine „Assoziologie“ daraus zu machen. Dabei stellt „sozial“ einen „Verknüpfungstyp zwischen Dingen (dar), die selbst nicht sozial sind“. Latours Bestandsaufnahme klingt dabei eher pessimistisch: „Das Soziale scheint sich überallhin verflüchtigt zu haben -
und doch nirgendwohin im besonderen“. (Bruno Latour, Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie, Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M., 2007, 488 S., Rezension in: Die Berliner Literaturkritik, 11.4.2008). Mit der ANT will Bruno Latour im wissenschaftlichen, intellektuellen und alltäglichen Diskurs eine neue Form einer digitalen Kommunikation kreieren, die den möglichen Wahrheiten in der Welt näher kommt, als dies mit den üblichen, traditionellen Mitteln und Gewohnheiten möglich ist. Es geht darum, den „Widerspruch zwischen den Erfahrungen der Welt und den Berichten, in denen darüber … Rechenschaft gegeben wird“ aufzulösen, zumindest aber habhafter zu werden. So lädt er ein, sich auf die Webseite www.modesofexistence.org zu begeben und nach den Motivations- und Leitmotiven modernization,
values, crossings, types of veridiction, modes of existence und inquiry als Diskutant und Forscher am Netzwerkdiskurs zu beteiligen und damit Mitglied einer Initiative zu werden, die sich zur AIME, An Inquiry Into Modes of Existence, Enquête sur les Modes d´Existence, zusammengeschlossen hat. Diese „kollaborative Forschung“ basiert nämlich auf der eigentlich selbstverständlichen und logischen Feststellung, dass es bei einer echten Kommunikation notwendig ist zu wissen, „was ihnen (den Modernen, JS) zugestoßen ist, was sie geerbt haben, die Versprechen, die zu halten sie bereit wären, die Kämpfe, auf die sie sich einstellen müssen“.
Der Originaltitel seines neuen Werkes, das er 2012 in der Pariser Éditions Découverte vorgelegt hat, lautet: „Enquête sur le mode d´existence. Une anthropologie des modernes“. Der Suhrkamp-Verlag bringt es mit dem deutschen Titel „Existenzweisen. Eine Anthropologie der Modernen“ heraus. Bemerkenswert dabei ist, dass Latour nicht von der „Moderne“ spricht, sondern von den „Modernen“, womit er zum Ausdruck bringen will, dass die modernen Entwicklungen so vielfältig sind und betrachtet werden müssen, wie Menschen und Gesellschaften sind.
Aufbau und Inhalt
Dass seine neue Anthropologie der Modernen anders, man ist geneigt festzustellen, „populärer“ ist als die sonst üblichen wissenschaftlichen Veröffentlichungen, wird schon durch Latours Gliederungsschema deutlich. Er annotiert die Einleitung, die drei Teile, 16 Kapitel und den Schlussteil, was für die Leser ohne Zweifel ein Führungs- und Leitelement für die Lektüre des Buches darstellt. Der irritierende Leitsatz, der das ganze Buch durchzieht, lautet: „Wir sind nie modern gewesen“. Diese „diplomatische“ Erkenntnis erhält plötzlich einen Haftpunkt, an dem sich an der „Erfahrung“ festhalten kann; am besten in einer „Institution“, die es wert ist, erhalten zu werden. Dieser Schnellgang der Argumentationen, die Latour mit vielen Mutungen und noch mehr Fragen belegt, soll deutlich machen, dass er sich nicht auf eine Moderne, sondern viele Existenzmodi bezieht und ganz konkret den Zwiespalt der Menschheit aufdeckt, die zwischen Ökonomie und Ökologie, zwischen Macht und Machbarem, zwischen Erzählung und Spekulation herumirrt. Die zwischen Spekulation und Spagat zirrende Suche nach dem Existentiellen – „Wer bin ich?“ „Wer sind wir?“ – lässt sich als Wagnis des anthropologischen Denkens erklären.
Der Versuch, dieses einmal anders als auf den geebneten Straßen und abgegrenzten Kanälen zu be(er)fahren, mit dem Akteurnetzwerk, macht die Besonderheit und Interessantheit von Latours dezidiertem und nicht selten schmerzhaftem Fragens aus, aus dem – beinahe naiv und doch so tiefgründig – ein Erstaunen deutlich wird, dass „in der Wissenschaft nicht alles wissenschaftlich, im Recht nicht alles juristisch, in der Ökonomie nicht alles ökonomisch…“ ist; und man ist versucht, diese Litanei weiterzuführen, dass auch im philosophischen Denken nicht alles anthropologisch ist (vgl. in dem Zusammenhang auch: Wolfgang Welsch, Homo mundanus. Jenseits der anthropischen Denkform der Moderne, 2012, www.socialnet.de/rezensionen/14323.php).
Im ersten Teil diskutiert der Autor: „Wie sich eine Untersuchung über die Existenzmodi der Modernen ermöglichen lässt“. Diese Beschreibung untergliedert er in sechs Kapitel. In den ersten beiden geht es darum, seinen Untersuchungsgegenstand und seine Feldforschung zu definieren und die Methoden zu besichtigen, mit denen das Denk-Feld der Anthropologie begangen wird Dabei kommen scheinbar selbstverständliche und anscheinend nicht hinterfragenswürdige Begrifflichkeiten ins Wanken, wie „Wahrheit“, „Falschheit“, „Recht“, „Religion“. Daraus entwickelt sich ein erster Perspektivenwechsel, den der Autor mit „Gefährliche Veränderung der Korrespondenz“ bezeichnet. Es sind die bequemen, verführerischen wie irreführenden „Wahrsprechungen“, die allzu leicht in Sackgassen führen können. Da kommt in den Fokus des Denkens die unauflösbare Unterscheidung zwischen Mobilität und Unveränderlichkeit, und zwar beim Gehen wie beim Denken. Hier nicht den einfach zu bedienenden Doppelklick mit der Markierung „Relativismus“ zu benutzen, gilt es zu bedenken. Im vierten Kapitel des ersten Teils nähert sich der Autor einer möglichen Antwort, nämlich zu „lernen, Raum zu lassen“ und das Denken in eine Form zu bringen, die Richtung ermöglicht, aber Vision nicht ausschließt. Dabei ist die Metapher hilfreich wie gleichzeitig missverständlich, nämlich wie kürzlich der Philosoph Kurt Bayertz empfahl, den aufrechten Gang zu üben (Kurt Bayertz, Der aufrechte Gang. Eine Geschichte des anthropologischen Denkens, 2013, www.socialnet.de/rezensionen/17706.php). Zwangsläufig landen wir bei diesem Diskurs bei der Frage, welche Bedeutung, Zielführung wie Fehlleitung, die Sprache hat, mit der wir das schwierige Thema diskutieren. Im fünften Kapitel unternimmt der Autor dies mit seinen Überlegungen „Vom Auflösen einiger Sprachverlegenheiten“. Ihm zu Hilfe dabei kommt der (scheinbar) technische Mechanismus, im Rahmen seiner Akteurnetzwerk-Theorie die Existenzmodi REP = Reproduktion und REF = Referenz einzuführen und mit der Figur der Kreuzung REF – POL Konfusion und Zusammenstoß zu vermeiden und zu erkennen, dass es eines „Pluralismus der Typen des Wahrsprechens“ bedarf. Diese Erkenntnis freilich führt nicht zu einer Rezeptologie, denn „im Moment, wo die Dinge sich klären, fangen sie auch an, sich schrecklich zu komplizieren“. Ob Kon- oder Fusion sich realisieren können, ist tatsächlich eine Frage, die mit konstruiertem Denken allein nicht beantwortet werden kann. Deshalb führt der Autor im sechsten Kapitel den Begriff „Instauration“ ein. Als Erklärung verweist er darauf, dass ein (echter) Künstler nicht der Schöpfer, sondern der Instaurierer eines Werkes ist, das zu ihm kommt, das aber ohne ihn nie zur Existenz gelangen würde. Damit führt er einen Denkanreiz ein, der darauf beruht, sich von ungewöhnlichen und ungewohnten Denkprozessen anregen zu lassen; und er plädiert dafür, das von William James eingeführte Bewusstsein zu benutzen: „Nichts als die Erfahrung, aber auch nicht weniger als die Erfahrung“.
Im zweiten Teil konkretisiert Latour die Denkprozesse mit der Anregung: „Wie sich der Pluralismus der Existenzmodi nutzen lässt“. Sein Hinweis, vom „ontologischen Pluralismus“ Gebrauch zu machen (Kap. 7). Ein weiterer Existenzmodus – MET = Metamorphose – ist dabei hilfreich, um die Kreuzung REP – MET zustande zu bringen. Und damit sind wir auch schon beim „merkwürdigen Schweigen“ angelangt, das im anthropologischen Diskurs den Existenzmodus TEC = Technik umgibt und das der Autor mit den Kreuzungen TEC – NET, REP – TEC und MET - TEC zu überwinden versucht (8). Auf diese Aspekte, im anthropologischen Denken „die Wesen der Technik von ihren Verknüpfungen mit der Materie (zu) befreien“ haben auch LeShan (Lawrence LeShan, Das Rätsel der Erkenntnis. Wie Realität entsteht, 2012, www.socialnet.de/rezensionen/13512.php) und Sennet (Richard Sennet, Zusammenarbeit. Was unsere Gesellschaft zusammenhält, 2012, www.socialnet.de/rezensionen/14034.php) hingewiesen. Latour spricht nicht von der „Moderne“, sondern von den „Modernen“ im Zusammenhang mit den Existenzmodi. Da stellt sich ein weiterer Seinsmodus ein: Die Fiktion, die mit der Formel FIK eingeführt wird; und zwar nicht im Sinne von Illusionen, die allzu leicht zu Falschem verleiten, sondern zum „Fabrizierten, Konsistenten, Realen“. Um im Bild des Schaffens und Schöpfens zu bleiben: „Wir sind die Söhne unserer Werke“. Diese Fiktion erfordert ein „Auskuppeln“, also mit anderen Worten einen Perspektivenwechsel, und gleichzeitig die Fähigkeit zur Symbol- und Zeichendeutung.(9). Im Reigen der Modi der Modernen ordnet sich auch der im 10. Kapitel thematisierte Existenzmodus „Gewohnheit“ = GEW, ein. Kontinuum des Lebens, das aber in seinen Ausprägungen, Zielrichtungen und Verführungen einer besonderen Aufmerksamkeit bedarf. „Mehr als alle anderen Modi schlägt die Gewohnheit einen Kontrast vor, dessen Tonalität entscheidend vom historischen Moment abhängt“. Bei dieser Bedeutungszuweisung und Zuordnung der Modi hängt es wesentlich davon ab, wie wir die Existenzmodi ordnen, um nicht ein ungenießbares Gebräu zusammen zu mischen und dadurch „bodenlos“ werden.
Teil 3 gibt Auskunft darüber, „Wie sich die Kollektive neu definieren lassen“. Der Mensch als individuelles und kollektives Lebewesen braucht das rationale Bewusstsein seines Seins, ohne auf transformatorische und metamorphosische Stabilitäten verzichten zu können (11). Mit den folgenden Modi werden konkrete Werte benannt, die dem traditionellen, anthropologischen Denken näher sind; etwa wenn wir davon ausgehen, dass der Mensch ein zôon politikon (Aristoteles) ist, das Poltische = POL. Es ist die Symbolik des Kreises, der das Kollektiv zu fassen, zu sammeln, zu universalisieren und zu verstehen versucht und mit „gute(m) krumme(m) Sprechen ins Zentrum unserer Zivilisation zu stellen“ (12). Im 13. Kapitel werden die „Passage des Rechts und die Quasi-Subjekte“ besprochen, und damit der Modus REC eingeführt. Die anthropologische Deutung, dass der anthrôpos ein Lebewesen sei, das zwischen Gut und Böse unterscheiden könne, also über ein Rechtsempfinden verfüge, das nur im Übertretungsfall aus den Fugen geraten könne, wird die Ambivalenz deutlich: „Mit dem Recht schreitet man stets von Überraschung zu Überraschung; Überraschung angesichts seiner Stärke, Überraschung angesichts seiner Ohnmacht“. Mit dem 14. Kapitel sind wir bei den Diskrepanzen angelangt, die den Wertediskurs bestimmen und gleichzeitig relativieren, etwa mit den Haltungen, die der Autor „Bindungen“ = BIN nennt, mit Wertvorstellungen und Verhaltensweisen, die als „Moral“ = MOR bezeichnet werden, und mit „Organisation“ = ORG, als präpositionelle Funktion von Vergemeinschaftung. Es sind Hohl- und Bringe-Pflichten, Gewohnheiten und Handlungsspielräume, die sich als soziale, traditionelle, kulturelle, chronosbedingte oder ökonomische Pflichten zeigen. „Die Wesen des leidenschaftlichen Interesses mobilisieren“, diese Aufforderung im Kap. 15 wird mit den Erfahrungen entwickelt, dass das Ganze nicht nur aus Teilen besteht, sondern ihnen auch unterliegt; was bedeutet, dass die Abhängigkeit sich als hierarchisch darstellt, aber nicht als unabdingbar; und vor allem herauszufinden, was die verschiedenen (Ver-)Bindungen umschließt und wie sie aufgeschlossen werden können. Mit dem letzten, 16. Kapitel, werden diese Gedanken und Pflichtaufgaben des Denkens fortgeführt mit dem Vorschlag und dem Aufspüren der Kreuzung BIN – ORG „Die Erfahrung des Skrupels (zu) beleben“, insbesondere die Ohnmachten beim Ökonomischen zu beseitigen. Daraus entsteht die Vision einer Zivilisation: „Was gibt es Utopischeres, als die Utopie der Ökonomie ein Ende zu setzen…?“.
Fazit
Bruno Latour lässt in seiner Erzählung über neue anthropologische Existenzweisen des Menschseins eine fiktive Anthropologin und Analytikerin agieren, die durch Feststellungen, Neugier und Fragen als Leitfigur bei der Darstellung einer „Anthropologie der Modernen“ dient. Ihr konfrontatives, neugieriges bis naives Nachfragen trägt dazu bei, den teilweisen, nicht leicht verständlichen und formelhaften Ausführungen des Autors folgen zu können. Methodisch ist es hilfreich, dass den einzelnen Kapiteln jeweils markierte Einschübe vorangestellt werden, die gewissermaßen auf die folgenden Argumentationen verweisen. Der Autor verweist darauf, dass er die Hoffnung hat, ob die Darstellung und „Erfahrung der Modi mit anderen teilbar ist“. Sein Plazet, das sich durch die Darstellung seiner Modi und Formeln zieht – „Jeder Modus nimmt alle anderen unter seine Obhut“ – könnte den Kreis schließen, der als Symbol für Seinsweisen dienen könnte.
Ein im „Formel“- und „konstruiertem“ Denken eher ungeübter Leser mag bei seiner Lektüre anfangs resignieren ob der (digitalen) Konstruktionen, die Latour mit seiner Netzwerkanalyse vornimmt. Aber er wird spätestens versöhnt sein und Zugang zum Buch finden, wenn ihm der Ursprung der Soziologie des Akteur-Netzwerks (ANT) klar geworden ist, „dass es nicht genügt, von Technik zu sprechen, um uns vom Sozialen zu entfernen“. Hilfreich ist auch die im Anhang beigefügte Tabelle der Existenzweisen, in der didaktisch und kanonisch die Bezugspunkte zu den 15 Modi ausgewiesen werden; ebenso das in deutscher, englischer und französischer Sprache differenzierte, mehrseitige Glossar.
Der Rezensent geht davon aus, dass die 2012 herausgegebene Originalausgabe in englischer Sprache und / oder das 2014 vom Suhrkamp-Verlag in deutscher Sprache publizierte Werk „Existenzweisen“ interessierte, professionelle und an Philosophie und Lebenslehre aufgeschlossene Leserinnen und Leser findet – die sich sogar der Forschungsgemeinschaft AIME anschließen.
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
Mailformular
Es gibt 1683 Rezensionen von Jos Schnurer.
Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 24.11.2014 zu:
Bruno Latour: Existenzweisen. Eine Anthropologie der Modernen. Suhrkamp Verlag
(Berlin) 2014.
ISBN 978-3-518-58607-5.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/17792.php, Datum des Zugriffs 19.01.2025.
Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt.
Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns.
Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen
für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.