Caroline Roeder (Hrsg.): Topographien der Kindheit
Rezensiert von Prof. Dr. Manfred Liebel, 24.02.2015
Caroline Roeder (Hrsg.): Topographien der Kindheit. Literarische, mediale und interdisziplinäre Perspektiven auf Orts- und Raumkonstruktionen. transcript (Bielefeld) 2014. 420 Seiten. ISBN 978-3-8376-2564-6. D: 44,99 EUR, A: 48,40 EUR, CH: 60,50 sFr.
Thema
Als wir vor nunmehr acht Jahren an der Freien Universität Berlin den englischsprachigen Masterstudiengang „Childhood Studies and Children´s Rights“ gründeten, haben wir eines der Module „Children out-of-Place“ genannt. Mit diesem Ausdruck, der von der Kindheitsforscherin und Kinderrechtsaktivistin Judith Ennew geprägt wurde, wollten wir die Aufmerksamkeit auf Kinder richten, die in besonderem Maße sozial benachteiligt sind und denen oft in abschätziger oder mitleidiger Weise bescheinigt wird, sie seien „Kinder ohne Kindheit“. Dass wir uns damit auch auf die Spuren einer möglichen Topographie von Kindheit(en) begaben, war uns zunächst nicht bewusst. Aber uns stand vor Augen, dass das Leben von Kindern nicht allein als Lebensphase – also im zeitlichen Sinn – verstanden werden kann, sondern dass auch die sozialen Räume, in denen sich das Leben von Kindern ereignet, bedacht werden müssen.
Mit der in Europa entstandenen bürgerlichen Gesellschaft wurde Kindheit – meist unter Bezug auf den schweizerisch-französischen Aufklärungsphilosophen Jean-Jacque Rousseau – als eigenständiger Lebensabschnitt und als mehr oder minder autonome Entwicklungsphase konzipiert. Als solche wurde sie zum Bezugspunkt verschiedener Wissenschaften und zur Folie pädagogischer Bearbeitung. Definiert wurden Kindheit und die ihr zugeschriebenen spezifischen Eigenschaften in erster Linie zeitlich. Im Unterschied zum erwachsenen Subjekt, das als vollkommen vorgestellt wurde, musste das Kind erst noch „entwickelt“ werden. Erst mit der zunehmenden Institutionalisierung der Kindheit rückten auch die Orte und Räume ins Blickfeld, die eigens Kindern zugedacht wurden und meist ihrer pädagogischen Bearbeitung dienten. Sie haben heute ein Ausmaß erreicht, das die Soziologin Helga Zeiher von einer „Verinselung der Kindheit“ sprechen ließ. Auch frühere Kindheitsforscherinnen und -forscher hatten schon die Räume als konstituierenden Bestandteil von Kindheit im Blick. In den 1920er Jahren maß z. B. Siegfried Bernfeld dem „sozialen Ort“ bereits eine zentrale Bedeutung für das Verständnis der psychischen Prozesse heranwachsender Menschen zu. Und etwa zur selben Zeit widmeten sich Hans und Martha Muchow in ihren Forschungen der Frage, wie sich der „Lebensraum“ städtischer Kindheit aus der Sicht der Kinder darstellt und von ihnen sukzessive angeeignet wird.
In dem hier zu besprechenden Buch wird zwar auf diese beispielhaft genannten Forschungen nicht ausdrücklich Bezug genommen, aber es wird eine Fülle von Bedeutungen aufgezeigt, die soziale, mediale und imaginäre Räume für Kinder erlangen können. Die entsprechenden Überlegungen als „Topographien der Kindheit“ zu präsentieren, ist eine ansprechende und verlockende Idee, aber auch ein sehr anspruchsvolles Vorhaben.
Entstehungshintergrund
Bei dem Buch handelt es sich um einen Sammelband mit 22 Beiträgen eines Symposiums, das 2013 an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg stattfand. Auf dem Symposium standen neben literaturwissenschaftlichen und ästhetisch-künstlerischen Fragestellungen auch Wissensdiskurse aus den Geistes-, Sozial- und Naturwissenschaften zur Debatte. Nach den Worten der Herausgeberin Caroline Roeder wurde „das Feld der Kindheits-Landschaften […] in seinen sprachlichen, künstlerischen und kulturellen, historischen wie geographischen, politischen wie transnationalen, sozialen wie pädagogischen und psychologischen Dimensionen untersucht“ (S. 16). Dabei seien grundlegende Fragestellungen der Topographieforschung erörtert worden: Ordnungssysteme, Fragen der Kartierung, des sozialen Geschlechts (Gender), der Transkulturalität, des Spiels, der Architektur und der Virtualität. Der Aufbau des Bandes orientiert sich an den drei „Raum-Determinanten“ Erinnerung, Handlung und Imagination. Ihr starker Bezug zu literarischen und künstlerischen Aspekten kommt in den Überschriften der drei Hauptteile zum Ausdruck.
Aufbau und Inhalt
Die fünf Beiträge des ersten Teils („‚Blume-Zoof‘ – Erinnerungsräume“) befassen sich vornehmlich aus kulturhistorischer Perspektive und mit Blick auf autobiographisches Schreiben mit dem Erinnern von Kindheit. Für die Reflexion von Kindheit wird Erinnerung als konstitutiv betrachtet. Die literarische Bearbeitung von Kindheitserinnerungen wird u.a. an der Schrift „Berliner Kindheit um neunzehnhundert“ von Walter Benjamin erörtert, der zu einer sprachlichen Form des Erinnerns gelangt ist, die sich von dem bis dato und auch heute noch üblichen autobiographischen Schreiben unterscheidet. Unter Bezug auf jüngere Literatur wird u.a. die literarische „Versuchsanordnung“ von Uwe Johnson analysiert, das „Kind, das ich war“, zu erinnern. In weiteren Beiträgen werden unter dem Stichwort „Kindheitslandschaften“ literaturgeographische Lektüren besonderer Orte und Räume vorgestellt, und es wird über die „Virtualität“ erinnerter Kindheit reflektiert. Dabei kommen die erinnerten Räume als Traum-, Erinnerungs- und Sehnsuchtsorte in den Blick, und es wird anhand von „Lektüren im Versteck“ dem Reiz, den das Verbotene für Kinder hat, nachgegangen.
In den neun Beiträgen des zweiten Teils („‚Himmel & Hölle‘ – Handlungsräume der Kindheit“) geht es um die räumlichen Rahmungen, Kontexte und Bedingungen des Handelns von Kindern. In einem Studienprojekt wird untersucht, wie Studierende der Pädagogischen Hochschule die Erinnerungen an ihre Kindheit räumlich darstellen. Unter Bezug auf literarische Erzählungen wird der Frage nachgegangen, wie die gewöhnlich als ereignis- und vergangenheitslos vorgestellten Vorstädte für Jugendliche zu Handlungsräumen werden, an die sie sich als „meine verdammte Gegend“ gern erinnern. Ein weiterer Beitrag ist dem Kinderzimmer als kinder- und jugendliterarischer Raum gewidmet. In einer anderen kenntnisreichen Studie wird unter dem Motto „(k)ein Ort nirgends und überall“ gezeigt, wie das Computer- und Videospiel zum Spielraum und Spielerraum junger Menschen wird. In einem historisch angelegten Beitrag wird rekonstruiert, wie die philanthropische Anschauungspädagogik von Christian Gotthilf Salzmann in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts den Nahraum als Lern-Raum entdeckt und dynamisiert hat. Ein weiterer Beitrag geht anhand von neueren Beispielen aus Kindergärten der Frage nach, wie sich Raumordnungen und raumbezogenen Praktiken „zwischen pädagogischer Utopie und institutionalisierter Routine“ bewegen. Wiederum unter Bezug auf literarische Texte und unter Heranziehung des von dem französischen Philosophen Michel Foucault geprägten Begriffs des „Tableaus“ zeigt der nachfolgende Beitrag, wie Schüler den Schulunterricht als Herrschaftsraum wahrnehmen und sich mit ihm auseinandersetzen. In einem ebenfalls auf literarische Texte bezogenen Beitrag wird die Frage erörtert, wie sich die Attraktivität englischsprachiger Kinder- und Jugendliteratur im deutschen Sprachraum erklären lässt und für die jungen Leser und Leserinnen in den „Kinderzimmern des globalen Dorfs“ zur „interkulturellen Welterfahrung“ werden kann. Im letzten Beitrag dieses Teils werden anhand zweier Romane, in deren Zentrum das Leben der Kinder „weißer“ Eltern in der ehem. britischen Kolonie Ceylon (heute Sri Lanka) und der ehem. deutschen Kolonie Südwestafrika (heute Namibia) steht, werden „postkoloniale Räume der Hybridität“ rekonstruiert.
In den acht Beiträgen des dritten Teils („‚Orplid‘ – Imaginationswelten der Kindheit“) geht es vornehmlich um literaturästhetische Fragestellungen und die utopischen Potenziale in den Imaginationen der Kinder. Zunächst werden in einem Autoren-Gespräch mit dem Schweizer Schriftsteller Peter Bichsel Einblicke in dessen Kompositionen von Kindheits-Erinnerungen und ihre imaginativen Formationen vermittelt: „Ausprobieren, wie es wäre, wenn es nicht so wäre, wie es ist“. Ein historisch konzipierter Beitrag rekonstruiert Kinderfiguren, Kindheitsorte, Kinderspiele und Kinderzeit in dem literarischen Werk von Jean Paul. Ein weiterer Beitrag geht den Schauplätzen kollektiver Phantasiespiele von Kindern im 20. Jahrhundert nach und interpretiert sie als „eigensinnige Schöpfungen abseits von der Erwachsenenwelt“. Ein Beitrag, der sich mit der fantastischen Kinder- und Jugendliteratur befasst, fragt, wie Raumkonzepte über die jeweils erzählte Handlung hinaus poetische Bilder schaffen, in denen die Räume erst eine spezifische Bedeutung erlangen. Unter Bezug auf Michel Foucaults Entwurf einer „Heterotopologie“ werden die Kindheitsdarstellungen in den Romanen von Zoë Jenny als „Gegenräume“ und ihr Misslingen als Sinnverlust gedeutet. Ein weiterer Beitrag befasst sich unter der Frage „Glück im Überfluss?“ mit verschiedenen kinderliterarischen Darstellungen des Schlaraffenlandes. Mit ähnlichen Motiven geht der nachfolgende Beitrag „Topographien der Ferne“ und „insularen Raumkonzepten“ in jugendliterarischen Werken nach. Im Anschluss an das Projekt „Topographien der Geschlechter“ der Literaturwissenschaftlerin Sigrid Weigel wird im abschließenden Beitrag an Pop-Figurationen in der Gegenwartsliteratur herausgearbeitet, wie in „hegemoniale Männlichkeit“ eingeübt wird.
Diskussion
Unter Topographie wird in dem vorliegenden Band unter Bezug auf Kinder und Kindheit mindestens dreierlei verstanden. Zum einen wird der Ort oder in engerem Sinn der Raum identifiziert, in dem Kinder oder Kindheit in einer Gesellschaft lokalisiert werden; zum zweiten die Vorstellungen und Phantasien von Orten und Räumen, die Kinder selbst haben; zum dritten die Selbstverortung von Kindern in einem vorgestellten räumlichen Feld. All diese Dimensionen in den Blick zu nehmen, kann dazu beitragen, die Vorstellungen von Kindheit zu differenzieren und über die eher übliche zeitliche Fixierung von Kindheit im Lebenslauf hinauszugehen. Auf diese Weise können z. B. die Einbindung von Kindern in Herrschaftsstrukturen oder die subjektiven Perspektiven von Kindern in bestimmten gesellschaftlichen Zusammenhängen abgebildet werden.
Ein Verdienst des Bandes kann darin gesehen werden, dass er auf diese verschiedenen Dimensionen aufmerksam macht und hierfür Quellen heranzieht, die in der sozialwissenschaftlichen Kindheitsforschung selten in Betracht gezogen werden. Ich denke dabei insbesondere an literarische Darstellungen, die den meisten Beiträgen zugrunde liegen. Bei der Lektüre ist mit zu denken, ob von Kindheit im Sinne vorgestellter Kollektive und Repräsentationen oder von Kindern als agierenden Personen die Rede ist. Die Rede von Topographien der Kindheit könnte den Eindruck nahelegen, dass es nur eine Kindheit gibt, die in verschiedenen Dimensionen betrachtet werden kann. Es wäre meines Erachtens eher angebracht gewesen, von verschiedenen Kindheiten zu sprechen und dabei auch Kindheiten in Betracht zu ziehen, die in euro-nordamerikanischen Kulturen kaum vorkommen (dies geschieht nur in einem der 22 Beiträge).
Mit ihrer starken Spezialisierung und der Verwendung von Fachbegriffen – vornehmlich aus der Literaturwissenschaft und der Geographie – ist es für nicht fachkundige Leserinnen und Leser nicht immer einfach, den Darstellungen und Argumentationen zu folgen. Der Einstieg in die Thematiken wird durch den hochgestochenen und gekünstelten Schreibstil, den die Herausgeberin in der Einleitung wählt, nicht gerade erleichtert. Angesichts der Vielfalt der Themen wäre auch ein Sachregister für die Orientierung wünschenswert gewesen. Aber insgesamt ist der vorliegenden Band geeignet, ungewohnte Einblicke in die vielfältigen räumlichen Dimensionen zu erlangen, unter denen Kinder und Kindheiten betrachtet werden können.
Fazit
Ein nicht immer leicht verständlicher Band über die Verortung von Kindheiten, des sich Erinnerns an die eigene Kindheit sowie die Vorstellungs- und Phantasiewelten von Kindern, der eine Fülle von Denkanstößen vermittelt und die eigene Phantasie anregt.
Rezension von
Prof. Dr. Manfred Liebel
Master of Arts Childhood Studies and Children’s Rights (MACR) an der Fachhochschule Potsdam, Fachbereich Sozial- und Bildungswissenschaften
Website
Mailformular
Es gibt 104 Rezensionen von Manfred Liebel.
Zitiervorschlag
Manfred Liebel. Rezension vom 24.02.2015 zu:
Caroline Roeder (Hrsg.): Topographien der Kindheit. Literarische, mediale und interdisziplinäre Perspektiven auf Orts- und Raumkonstruktionen. transcript
(Bielefeld) 2014.
ISBN 978-3-8376-2564-6.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/17801.php, Datum des Zugriffs 25.01.2025.
Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt.
Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns.
Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen
für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.