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Andreas Blasius, Ulrich Schmitz-Roden: Bewusst erziehen

Rezensiert von Prof. Dr. Marius Metzger, 29.01.2015

Cover Andreas Blasius, Ulrich Schmitz-Roden: Bewusst erziehen ISBN 978-3-658-03731-4

Andreas Blasius, Ulrich Schmitz-Roden: Bewusst erziehen. Nachdenkliches zum bewussten Umgang mit Erziehung (in schwierigen Zeiten). Springer VS (Wiesbaden) 2014. 142 Seiten. ISBN 978-3-658-03731-4. D: 29,99 EUR, A: 30,83 EUR, CH: 37,50 sFr.

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Thema

Erziehung ist auf Normen angewiesen und Erziehende müssen auf Normen zurückgreifen können. In normpluralistischen Gesellschaften sind Erziehende dabei auf sich selbst zurückgeworfen, was viele überfordert. Im praktischen Begleitungs- und Beratungsalltag ergibt sich daher die Notwendigkeit, Erziehende zu ermutigen und zu befähigen, auf geeignete Normen zurückzugreifen. Um Erziehenden dies zu erleichtern, kommen Begleitungs- und Beratungsangebote nicht darum herum, ihrerseits Normen zu setzen. Im vorliegenden Buch leiten die Autoren normative Eckpfeiler her, die zu einer Auseinandersetzung mit erzieherischen Normen einladen und in einer bewussten Erziehung münden sollen.

Herausgeber

Sowohl Andreas Blasius als auch Ulrich Schmitz-Roden verfügen über eine systemische Ausbildung und breite Erfahrung in der Beratung von Familien und Fachpersonen im Kontext der Kinder- und Jugendhilfe.

Entstehungshintergrund

Normen stellen Orientierungshilfen für die individuelle Lebensführung dar. Die gesellschaftliche Normerosion der letzten Jahre hat dazu geführt, dass sich Menschen in ihren Entscheidungen nicht mehr selbstverständlich an traditionellen Normen orientieren können. Vielmehr müssen sich Menschen selbst individuell bedeutsame Normen erarbeiten, was viele überfordert. Insbesondere Eltern, die für sich selbst keine Entscheidungen treffen, dürften kaum in der Lage sein, Entscheidungen für ihre Kinder angemessen zu treffen. So gesehen fängt also Erziehung nicht bei den Kindern, sondern bei den Eltern und Erziehenden an. Die professionelle Unterstützung von Eltern und Erziehenden ist dabei allerdings nur bedingt hilfreich, „[…] denn der vielstimmige Chor in der Pädagogik verunsichert mehr als dass er verlässlichen Halt bietet“ (S. 46).

Dezidiertes Ziel der Autoren ist es daher, mit dem vorliegenden Buch keinen weiteren Erziehungsratgeber vorzulegen, sondern vielmehr zu einem Nachdenken über einen bewussten Umgang mit Erziehung einzuladen. Theoretischer Rahmen für dieses Nachdenken über Erziehung stellen nicht näher bestimmte „philosophische und soziologische Sichtweisen und Erkenntnisse“ (S. 8) dar. Zwar soll durchaus auch auf ausgewähltes, wissenschaftliches Wissen zurückgegriffen werden, allerdings ohne „[…] sich in einem ausschliesslich dem Alltag der Menschen entrückten wissenschaftlichen Diskurs zu verlieren“ (S. 8).

Inhalte

Im ersten Kapitel „Einführung“ wird die Notwendigkeit einer Orientierung an normativen Eckpfeilern der Erziehung in einer Zeit der allgemeinen Erziehungsverunsicherung begründet. Die Autoren verstehen diese Eckpfeiler der Erziehung als ein Angebot, um im Supermarkt der unendlichen Möglichkeiten Komplexität so zu reduzieren, dass der Beliebigkeitsfalle entkommen werden kann. Das Erfordernis zur Komplexitätsreduktion ergibt sich aus der Erkenntnis, wonach sich Familiensysteme trotz ihrer Unterschiedlichkeit entsprechend den übergeordneten Systemregeln der Gesellschaft verhalten müssen, um nicht von ebendieser Gesellschaft exkludiert zu werden.

Im zweiten Kapitel „Ein prüfender Blick auf einige Phänomene des Zeitgeists in unserer Gesellschaft“ wird argumentiert, dass die, durchaus auch als notwendig erachtete, Demontage klassischer Autoritäten und Traditionen über das Ziel hinausgeschossen hat. Die gesellschaftliche Dynamik des rasenden Stillstands produziere langfristig primär Unsicherheit, da das, was heute gilt, morgen schon keinen Bestand mehr hat. Da die Gesellschaft in diesem Zustand verharrt und die Aufgabe der Normsetzung kaum mehr leistet, sind die Erzieherinnen und Erzieher gefordert, diese Aufgabe zu übernehmen. Voraussetzung dafür ist eine stabile Identität, welche sich aus einem lebensgeschichtlichen Zusammenhang heraus an verbindlichen Werten und Normen orientieren kann. Da die sich stetig ändernde Umwelt nicht gerade begünstigend auf die Herstellung von Kohärenz und Kontinuität in der Identitätsentwicklung auswirkt, wird die Erarbeitung von verbindlichen Werten und Normen zu einem herausforderenden Unterfangen. Die Erfahrungen der Autoren zeigen dann auch, dass ratsuchende Erzieherinnen und Erzieher primär nach Möglichkeiten der Selbststabilisierung suchen.

Im dritten Kapitel „Eine Gesellschaft braucht auch Normen“ wird ausgehend von einer Klärung des Normbegriffs und Überlegungen zu deren Entstehung ausgeführt, weswegen Gesellschaften auf Normen und daher auch auf eine normsetzende Erziehung angewiesen sind. Hierbei wird argumentiert, dass Normsetzungen vordergründig zwar durchaus als unfrei machende Einschränkungen menschlichen Verhaltens wahrgenommen werden können. Tatsächlich aber verhelfe die Begrenzung unendlicher Möglichkeiten menschlicher Verhaltensweisen vielmehr dazu, Komplexität so zu reduzieren, dass Gesellschaft überhaupt sinnvoll lebbar wird. Soziale Normen, verstanden als Übereinkünfte über Verhaltensweisen, erfüllen die Funktion, Willkürlichkeit in Beziehungen von Menschen untereinander zu verringern und so für eine gewisse Dauerhaftigkeit, Verbindlichkeit und Sicherheit zu sorgen. Dies gilt insbesondere für Familien, die als Keimzellen der Gesellschaft ebendiese Gesellschaft stabilisieren.

Im Kapitel „Normative Eckpfeiler der Erziehung“ werden mit Autorität, Loyalität, Verantwortung und Grenzen vier Konstanten für eine gelingende Erziehung beschrieben, die Orientierung in der Erziehung bieten sollen. Die gleichnamigen Unterkapitel werden jeweils mit einer etymologischen Klärung der Begriffe und theoretisch gestützten Überlegungen der Autoren eingeleitet, um anschliessend mittels insgesamt 18 Fallbeispielen aus der Begleitung und Beratung von Familien auf ihre praktische Relevanz hin geprüft zu werden. Das Kapitel schliesst mit einigen Überlegungen zur Liebe in der Erziehung und zum Stellenwert von Konflikten im Erziehungsgeschehen.

Diskussion

Die Beschreibung der postmodernen Verunsicherung im Erziehungsgeschehen ist Ausgangspunkt einer weitverbreiteten Argumentation in Erziehungsratgebern, die in der Regel darauf abzielt, die Notwendigkeit eines bestimmten Erziehungsansatzes zu begründen. Im wohltuenden Gegensatz zu Erziehungsratgebern wird im vorliegenden Buch aber nicht einfach für einen bestimmten Erziehungsansatz zwecks Vermittlung von Handlungssicherheit geworben, sondern vielmehr wird dem Normpluralismus als Kern des Problems etwas entgegengehalten. Die Autoren beweisen dabei Mut und beziehen eindeutig Postition, indem sie sich wagen, normative Eckpfeiler einer gelingenden Erziehung vorzulegen. Konsequenterweise stellt daher auch das äusserst gelungene Kapitel „Normative Eckpfeiler der Erziehung“ das Herzstück des Buches dar, wobei die Autoren ihre theoretisch gestützten Überlegungen zu den normativen Eckpfeilern an zahlreichen Beispielen nachvollziehbar veranschaulichen.

Kritik ist dagegen bei den Empfehlungen zum Umgang mit Normkonflikten angebracht. Hier verpassen es die Autoren weitgehend, den produktiven Umgang mit Normkonflikten zu thematisieren. Auf der Makroebene geben die Autoren zwar zu bedenken, dass sich in normpluralistischen Gesellschaften eine Konkurrenz von Normen ergibt, die sich auch zu regelrechten Normkonflikten auswachsen können. Allerdings bleiben dann die Autoren die Antwort schuldig, wie mit diesen Normkonflikten umgegangen werden könnte. Die Forderung nach einer diskursiven Auseinandersetzung mit solchen Normkonflikten ist zwar nachvollziehbar, greift aber mit dem bloßen Hinweis auf die Notwendigkeit einer diskursiven Auseinandersetzung zu kurz: „Wir müssen also berücksichtigen, dass der Nutzen, den eine Norm mit sich bringen soll, für die einen außer Frage, für andere aber sehr wohl in Frage stehen kann. Bei der Gestaltung von Gesellschaft ist es darum erforderlich, sich über Normen diskursiv (d. h. verschiedene Vorstellungen müssen miteinander ins Gespräch gebracht werden) auseinander zu setzen“ (S. 32).

Darüber hinaus verpassen es die Autoren auch, den produktiven Umgang mit Normkonflikte zu thematisieren, die in Familiensysteme hineingetragen werden. Zwar wird im letzten Kapitel der Umgang mit Konflikten thematisiert, aber leider nicht auf dem Hintergrund konkurrierender Normen. Hintergrund dieses Versäumnisses dürfte die fehlende Beachtung der Mesoebene der Erziehung darstellen. Statt also Erziehung lediglich auf der Makro- und Mikroebene zu betrachten, hätten Überlegungen auf der Mesoebene dazu beitragen können, jene Normkonflikte nicht zu vergessen, die sich in Familiensystemen durch die unterschiedlichen kulturellen Zugehörigkeiten von Eltern und Kindern ergeben.

Fazit

Das Buch hält, was es verspricht: Es wird kein weiterer Erziehungsratgeber vorgelegt, sondern vielmehr zum Nachdenken über einen bewussten Umgang mit Erziehung eingeladen. Die Autoren beziehen dabei erfrischend eindeutig Position und schlagen normative Pflöcke respektive Eckpfeiler ein, an denen aber auch gerüttelt werden soll und darf. Aufgrund deren Praxisnähe, bieten diese Eckpfeiler tatsächlich auch Orientierung in der praktischen Begleitungs- und Beratungstätigkeit, so dass der Mut- und Ratlosigkeit in überfordernden Erziehungssituationen entgegen gewirkt werden kann.

Rezension von
Prof. Dr. Marius Metzger
Verantwortlicher Kompetenzzentrum Erziehung, Bildung und Betreuung in Lebensphasen am Institut für Sozialpädagogik und Bildung der Hochschule Luzern – Soziale Arbeit
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Es gibt 17 Rezensionen von Marius Metzger.

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ISSN 2190-9245