Wolfgang Melzer, Dieter Hermann (Hrsg.): Handbuch Aggression, Gewalt und Kriminalität bei Kindern und Jugendlichen
Rezensiert von Prof. Dr. Gerd Krüger, 18.02.2015
Wolfgang Melzer, Dieter Hermann (Hrsg.): Handbuch Aggression, Gewalt und Kriminalität bei Kindern und Jugendlichen.
Julius Klinkhardt Verlagsbuchhandlung
(Bad Heilbrunn) 2015.
637 Seiten.
ISBN 978-3-8252-8580-7.
D: 39,99 EUR,
A: 41,20 EUR,
CH: 52,00 sFr.
UTB 8580 .
Herausgeberkreis
Der Herausgeberkreis besteht aus sechs Personen, namentlich Wolfgang Melzer, Dieter Hermann, Uwe Sandfuchs, Mechthild Schäfer, Wilfried Schubarth und Peter Daschner. Bis auf letzt Genannten sind alle Hochschullehrer an deutschen Universitäten (Dresden, Heidelberg, München, Potsdam). Peter Daschner war Direktor des Landesinstituts für Lehrerbildung und Schulentwicklung in Hamburg.
Entstehungshintergrund
Die Herausgeber erkennen die Notwendigkeit einer interdisziplinären Bearbeitung des Themenkreises und wollen in ihrem Handbuch unterschiedliche Sichtweisen und Zugänge zusammenzuführen sowie optimierte professionelle Handlungsansätze vorstellen.
Aufbau und Inhalt
Das Handbuch umfasst 637 Seiten sowie 125 Aufsätze und ist in fünf Kapitel gegliedert.
- Das erste beschäftigt sich mit theoretischen Grundlagen und Diskursen,
- das zweite mit Aggression, Gewalt und Kriminalität von Kindern und Jugendlichen als Gegenstand der Wissenschaft.
- Das dritte Kapitel stellt Formen, Ursachen und Akteure in den Mittelpunkt,
- während das vierte Problemstellungen der Prävention und Intervention behandelt.
- Das fünfte Kapitel bilanziert, reflektiert und entwirft Perspektiven.
Mit einem umfangreichen Sachregister und Verzeichnis der Autorinnen und Autoren schließt das Werk ab. Quellenverweise sind jedem Beitrag zugeordnet.
Das erste Kapitel wendet sich in einem ersten Schritt relevanten Grundbegriffen (Aggression, Gewalt und Kriminalität) zu. Aus psychologischer Sicht konstatiert Mechthild Schäfer, dass Aggression in einer „Vielzahl von Fällen funktional“ und daher die „intendierte Wirkung aggressiven Verhaltens“ (22) für Interventionen zentral sei. Melzer und Schubarth begründen die Notwendigkeit eines meta-theoretischen Gesamtkonzeptes und verweisen dabei auf ihren Ansatz, in welchem „Gewaltemergenz“ als Leitbegriff dient. Der Kriminologe Dieter Hermann gibt einen Überblick über die wichtigsten allgemeinen Kriminalitätstheorien sowie die Kriminalitätsfurcht.
In einem zweiten Schritt leistet dieses Kapitel eine umfangreiche Auseinandersetzung mit grundlegenden Zusammenhängen und Diskursen. Benno Hafeneger blickt aus sozialhistorischer Sicht auf Jugendgewalt. Jürgen Thomas macht darauf aufmerksam, „dass nicht alle Wege aus schwerer Kriminalität“ (50) mit dem Ansatz altersabhängiger sozialer Kontrolltheorie zu erklären seien. Stefanie Eifler und Danny Marquart konstatieren, dass „strukturell stabilisierte Ungleichheit“ (62) Gewalt fördernde Wirkungen hätte. Dieter Hermann beschäftigt sich mit dem Einfluss von Werten auf gewalttätiges und kriminelles Handeln. Mit Blick auf die Anlage-Umwelt-Thematik führt Christian Laue aus, dass das Ausmaß kriminellen Verhaltens in „Zusammenhang mit gesellschaftlichen Umweltbedingungen“ (84) stehe. Dietrich Oberwittler sieht in der Entwicklung integrierter Theoriemodelle der Delinquenz eine wichtige Aufgabe. Matthias Richter und Irene Moor stellen in ihrem Beitrag zur Stressbewältigung fest, dass nicht nur eine Änderung problematischer Einstellungen und Verhaltensweisen, sondern auch ein langfristiger Effekt auf die Persönlichkeitsentwicklung anzustreben sei. Nicole Bögelein fasst zusammen, dass das „Merkmal Migrant … per se kein Prädikator für Gewalttäterschaft“ (110) sei. In seinem Aufsatz zur Punitivität weist Bernd Dollinger darauf hin, dass es in der Bevölkerung „eine breite Befürwortung (re-) integrativer Maßnahmen“ (112) in Bezug auf Jugendkriminalität geben würde und nicht alle, „die sich harte Strafen wünschen, milderen Strafen grundsätzlich abgeneigt.“ (114) seien.
Das zweite Kapitel des Handbuches beschäftigt sich mit Aggression, Gewalt und Kriminalität von Kindern und Jugendlichen als Gegenstand der Erziehungswissenschaft, Kriminologie, Psychologie, Soziologie, Philosophischen Ethik, Geschichtswissenschaft, Neurowissenschaften sowie der Medien- und Kulturwissenschaften. Die Erziehungswissenschaftlerin Ulrike Popp plädiert für eine „faire Lernkultur“ sowie ein „gedeihliches Sozialklima in schulischen Lerngruppen“ (121). Der Kriminologe Hans-Jürgen Kerner stellt fest, dass „‚gewaltaffine Individuen‘ in jedem Sozialmilieu ähnliche persönliche Eigenschaften und – insbesondere subkulturelle – Wertorientierungen aufweisen“ (127) würden. Aus psychologischer Sicht resümieren Nora Lessing und Werner Greve, dass aggressiv-antisoziales Verhalten „nur im Rahmen eines integrativen bio-psycho-sozialen Ansatzes in Auseinandersetzung mit dem weiter gefassten sozialen Kontext zur Aktual- und Ontogenese antisozialen Verhaltens“ (133) erklärt werden könne. Soziale Bedingungen, so der Soziologe Axel Groenemeyer, schaffen „Formen sozialer und kultureller Ordnungen, in denen Gewalt und Kriminalität eher Sinn ergeben als in anderen“ (140). Der Philosoph Michael von Grundherr betont, dass es unter ethischen Gesichtspunkten eine Aufgabe öffentlicher Bildungseinrichtungen sei, entscheidend mit dazu beizutragen, dass Kinder sich von moralisch nicht legitimierbaren Erziehungsenormen der Familie distanzieren können. Aus Sicht der Neurowissenschaften stellt Nikolaus Steinbeis u.a. fest, dass aggressive und gewalttätige junge Menschen „Defizite in der Erkennung von und dem Mitfühlen mit negativen Emotionen Anderer sowie in der Emotionsregulation“ ( 154) hätten. Auf Grundlage der Medien- und Kommunikationswissenschaften bemerken Hans-Bernd Brosius und Anna Kümpel, dass Mediengewalt für die Entstehung aggressiven Verhaltens bei Kindern und Jugendlichen „nur ein Faktor unter mehreren“ (158) sei. Herbert Reinke und Gerd Schwerhoff geben einen geschichtswissenschaftlichen Überblick über Epochen der Kriminalitätsgeschichte und weisen auf differenzierende Modelle zur Erklärung von Gewaltkriminalität im 19. und 20. Jahrhundert hin.
Das dritte Kapitel zum Thema „Formen, Ursachen und Akteure“ wendet sich zu erst den unterschiedlichen Formen von Aggression, Gewalt und Kriminalität junger Menschen zu. Physische und psychische, verbale, nonverbale sowie fremdenfeindliche Gewalt, Mobbing, Stalking, Raub und Erpressung sind Themen. Auch Sachbeschädigung (Graffiti), Eigentumsdelikte, Alkohol und Drogenkonsum, Autoaggression, Suizid und Risikoverhalten werden behandelt.
Die Häufigkeit von (Cyber-)Mobbing veranlassen Cathèrine Hörmann und Manuel Stoiber dazu, eine flächendeckende, evidenzbasierte Prävention zu fordern. Jochen Wittenberg hält fest, dass zu Eigentumsdelikten „kaum theoretische Modelle und nur wenige Analysen“ (194) zu finden seien. Heidrun Bründel blickt auf das Thema Suizid und konstatiert, dass sich „drei- bis viermal so viele männliche Jugendliche“ (211) umbringen würden als weibliche. John Litau resümiert, dass es Aufgabe der Forschung sei, „neue Formen von Risikoverhalten besser zu beschreiben um alte Formen genauer und differenzierter einordnen zu können“ (218).
Des Weiteren befasst sich dieses Großkapitel mit relevanten Institutionen (Familie, Schule, Kita, Justiz und Jugendhilfe) sowie Peer- und Jugendkultur-Konstellationen. Dirk Baier und Christian Pfeiffer stellen fest, dass elterliche Gewalt „nicht zwangsläufig zu eigenem Gewaltverhalten“ (242) führen würde. Urs Fuhrer hebt hervor, dass sich in der Entwicklungspsychopathologie „Evidenz angesammelt (habe), wonach ADHS bei Kindern auch mit familiären Faktoren (…) und elterlicher Erziehung im Zusammenhang steht“ (235). Gabriele Haug-Schnabel und Joachim Bensel weisen darauf hin, dass es eine kleine Gruppe von Kindern (mehrheitlich Jungen) gebe, die „bereits im Kindergarten Anzeichen einer antisozialen Störung aufweisen“ (254) würden. Wilfried Schubarth und Juliane Ulbricht machen daraus aufmerksam, dass das „Thema Lehrergewalt in der empirischen Schul- und Gewaltforschung bisher nur eine untergeordnete Rolle“ (280) spielen würde. Gleichwohl gebe es Hinweise, dass vor allem psychische Gewalt zum alltäglichen Handeln des Lehrpersonals gehöre. Rainer Kilb skizziert Zusammenhänge zwischen städtischen Segregationstypen und Delinquenzformen. In Bezug auf jugendliche Intensivtäter weist Bernd Holthusen darauf hin, dass die Unterscheidung zwischen „normaler“, vorübergehender Delinquenz junger Menschen und denjenigen Fällen, „in den eine kriminelle Karriere zu befürchten ist“ (336), von Bedeutung sei.
Das vierte Kapitel wendet sich der Prävention und Intervention zu. Es ist mit 49 Beiträgen das seitenstärkste des Handbuches und umfasst einen bunten Strauß von Themen. Wir finden hier Beiträge zu Frühen Hilfen und Hebammenprogrammen, schulischen Strategien der Gewaltprävention, Prävention von Cybermobbing, Konfliktmanagement und Peer-Mediation, konfrontativen pädagogischen Ansätzen, Lehrertrainingsprogrammen, schulischer Wertebildung, interkulturellem Lernen, theaterpädagogischen und musikpädagogischen Ansätzen, zur Kriminalprävention u.v.a.m.
In das Thema Prävention und Intervention führt ein Grundsatzkapitel von Andreas Beelmann ein. Der Autor expliziert einen klaren Interventionsbegriff und stellt ein allgemeines Modell zur Evidenzbasierung sozialer Interventionsmaßnahmen vor. Frits Goossens und Carolijn Ouwehand verweisen auf die Halbwertzeit von Interventionen und befragen kritisch die Alltagstauglichkeit evidenzbasierter Praxisprojekte. Saskia Niproschke und Wilfried Schubarth begreifen nachhaltige Kriminalprävention als gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Daniela Runkel und Friedrich Lösel bemängeln in Bezug auf familienbezogene Präventionsprogramme, dass diese „zumeist nicht stichhaltig evaluiert“ (368) seien. Sabrina Hoops und Bernd Holthusen weisen auf die Bedeutung der Früherkennung kindlichen Problemverhaltens hin. Wilfried Schubarth und Wolfgang Melzer erkennen in der Schulentwicklung eine Möglichkeit der Gewaltprävention. In seinem Beitrag zur Wertebildung in der Schule betont Wilfried Schubarth, dass Werte nicht vermittelt, sondern in einer reflektierten Auseinandersetzung mit der Umwelt angeeignet werden müssen und es dazu vielfältiger pädagogischer Angebote im Rahmen einer Gesamtstrategie braucht. Bernd Holthusen und Sabrina Hoops heben hervor, dass die Delinquenzprävention in der Praxis der Kinder- und Jugendhilfe zwar etabliert sei, aber spezifische Entwicklungsbedarfe bestünden. So würden im Bereich Internet und Neue Medien derzeit „keine adäquaten Präventionsstrategien“ (500) vorliegen.
Das fünfte und letzte Kapitel bilanziert, reflektiert und entwickelt Perspektiven. In ihm finden sich u.a. Beiträge zur Wirksamkeit und Qualität von Prävention und Intervention, zu kooperativen Ansätzen auf regionaler und kommunaler Ebene, zur Inklusion und Gewaltprävention an Schulen, zur Schulentwicklung, Lehrerbildung, Kriminalpolitik sowie zu polizeilichen und strafrechtlichen Reaktionen.
Diskussion
Die beeindruckende Vielfalt der von den 146 Autorinnen und Autoren zusammengetragenen Aspekte ermöglicht eine wissenschaftlich solide Orientierung und erste Vertiefung in spezielle Problem- und Fragestellungen. Das Werk geht intensiv auf zentrale Themen der Prävention und Intervention ein und misst evidenzbasierten handlungstheoretischen und handlungspraktischen Problemstellungen Gewicht bei.Erfreulich ist zudem, dass das Werk nicht aus einem „paradigmatischen Guss“ ist. Das stösst fruchtbare kontroverse Auseinandersetzungen an. Allerdings vermisse ich eine tiefenpsychologische Reflexion. Diese hätte die vortreffliche Reichhaltigkeit des Handbuches noch steigern können. Dass eine auf alle Beiträge bezogene Bibliographie fehlt, ist ebenfalls bedauerlich. Damit wird ein schneller Gesamtüberblick über die im Handbuch verwendeten Quellen verwehrt.
Fazit
Das Handbuch leistet mit seinen auf das Wesentliche konzentrierten, facettenreichen und differenzierten Beiträgen einen systematischen, interdisziplinären und aktuellen, nahezu umfassenden Blick auf Aggression, Gewalt und Kriminalität von Kindern und Jugendlichen sowie die damit verbundenen Herausforderungen für Prävention und Intervention. Es ist Lehrbuch und Lexikon in einem und eignet sich daher vortrefflich für Studierende und Lehrende, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler entsprechender Studiengänge und Forschungsprojekte sowie die soziale und pädagogische Praxis.
Rezension von
Prof. Dr. Gerd Krüger
Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg, Fakultät Wirtschaft und Soziales
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Zitiervorschlag
Gerd Krüger. Rezension vom 18.02.2015 zu:
Wolfgang Melzer, Dieter Hermann (Hrsg.): Handbuch Aggression, Gewalt und Kriminalität bei Kindern und Jugendlichen. Julius Klinkhardt Verlagsbuchhandlung
(Bad Heilbrunn) 2015.
ISBN 978-3-8252-8580-7.
UTB 8580 .
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/17820.php, Datum des Zugriffs 03.10.2024.
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